Ein letztes Wort im März …

Herr Weil, vorab zwei kleine Geschichten: In Hannover haben Südstädter jüngst gegen die Erweiterung einer Schule geklagt und zunächst Recht bekommen. Das hat einen ziemlichen Aufschrei gegeben, die Empörung über den offenkundigen Egoismus war groß. Und Geschichte Nummer zwei: Ich war vor Jahren sehr empört, als sich kein Kitaplatz für meine Tochter finden ließ. Das war damals ein ganz großes Thema für mich, ein Missstand, und ich war mehr als bereit, für mehr Kitaplätze auf die Barrikaden zu gehen. Dann gab es doch einen Platz, und das Thema war für mich gestorben. Ich war nicht mehr persönlich betroffen, ich war raus. Egoismus pur. Asche auf mein Haupt. Wir Menschen haben also verschiedene, oft ganz und gar egoistische Interessen. Und wenn ich mir die Parteien in Deutschland ansehe, dann beobachte ich, dass Parteien immer mehr zum Sammelbecken von Einzelinteressen verkommen und auch Politiker oft ganz persönliche Interessen verfolgen.
Das mag für manche Parteien oder Personen so sein, widerspricht aber weitgehend meinen Erfahrungen in der SPD. Eine Partei muss doch anders als Bürgerinitiativen das Gemeinwohl im Auge haben und nicht nur die Interessen Einzelner durchsetzen. Außerdem sollten Parteien nicht nur punktuell aktiv sein, sondern dauerhaft für ein Wertegerüst stehen, für eine gemeinsame Haltung und für zumindest ähnliche politische Positionen ihrer Mitglieder. Nicht falsch verstehen: Es ist absolut okay, wenn sich Bürgerinnen und Bürger im Einzelfall für ihre Interessen engagieren. Aber solche Initiativen enden oft spätestens dann, wenn die Interessen durchgesetzt sind. Dann erlischt die Flamme. Nach diesem Prinzip lässt sich aber kein Staat regieren. Bei einer Partei darf die Flamme nicht verlöschen.

Diese Interessen, die man in Bürgerinitiativen als Einzelinteressen vorfindet, landen aber auch immer wieder bei den Parteien.
Logisch.

Im Grunde sind die Parteien sogar ständig einem Dauerfeuer an Interessen ausgesetzt. Es gibt eine Armee von Lobbyisten. Es gibt außerdem Interessen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen, aber jeweils nachvollziehbar sind. Man hat zum Beispiel die Arbeitsplätze in der Kohle und auf der anderen Seite den Umweltschutz. Man hat einerseits die Arbeitsplätze der Metaller in der Rüstungsindustrie und andererseits die Friedenspolitik. Die Parteien lavieren zwischen diesen Polen. Auch Ihre SPD laviert.
Wenn es schlecht läuft, ist es ein Lavieren mit faulen Kompromissen. Wenn es gut läuft, schaffen wir einen Ausgleich der Interessen. Die Kohle ist ein gutes Beispiel. Natürlich müssen wir raus aus der Kohle, aus Gründen des Klimaschutzes. Aber „raus“ heißt nicht „raus ohne Rücksicht auf Verluste“, sondern „so raus, dass auf legitime Interessen Betroffener Rücksicht genommen wird“. Darf man eine Region in Brandenburg wie die Lausitz einfach gegen die Wand laufen lassen? Nein. Denn das wäre unverantwortlich gegenüber den Menschen dort. Sie haben einen Anspruch darauf, dass man mit ihnen darüber redet, in welchen Schritten ein Ausstieg aus der Kohle vertretbar sein könnte und was parallel geschehen muss. Politik muss versuchen, verschiedene Interessen angemessen zu berücksichtigen.

Noch ein Spannungsfeld ist die Flüchtlingspolitik. Wir tragen in uns die Angst vor dem Fremden, das war einst eine Art Lebensversicherung. Heute müsste die Antwort auf irrationale Ängste eigentlich die Vernunft sein. Die Vernunft macht in Deutschland bei verhältnismäßig vielen Menschen momentan aber leider Pause. Man überlässt sich der Angst und fordert, dass möglichst wenig Fremde kommen sollten. Human wäre es, zu helfen und eine nachhaltige Integrationspolitik zu machen. Vernunft versus Angst. Für mich ist die Politik vor der Angst eingeknickt.
Das ist ein weiteres gutes Beispiel für das, worüber wir eben sprachen. Auf der einen Seite müssen wir Menschen in Not so gut wie möglich Zuflucht gewähren. Auf der anderen Seite gibt es, wenn wir ehrlich sind, Grenzen einer Integrationsfähigkeit. In Salzgitter zum Beispiel waren wir aus meiner Sicht an so einer Grenze. Ich würde sagen, eine gute Migrationspolitik muss sich auch dadurch auszeichnen, Realitäten zu erkennen, zu helfen, so gut es möglich ist – es muss aber auch darüber gesprochen werden, in welchen Konstellationen das leider nicht mehr möglich ist. Deshalb bin ich ein großer Freund von Kontingenten. Unberührt bleibt das Grundrecht auf politisches Asyl nach der Genfer Flüchtlingskonvention – das ist vor die Klammer gezogen. Und wir müssen darüber reden, wie viel Platz wir für Kontingente haben. Das hielte ich für sinnvoller als all die Ausgrenzungs- und Abschottungsdiskussionen, die derzeit geführt werden.

Mir fehlt oft eine grundsätzliche Ehrlichkeit. Wir sehen beispielsweise heute in den Kriminalstatistiken, dass Menschen mit Migrationshintergrund ganz weit vorne stehen. Nun kommt die AfD und sagt: Tja, „die Ausländer“ sind eben krimineller als „die Deutschen“. Die Gründe für die Probleme sind aber andere. Menschen werden kriminell, wenn sie sich chancenlos fühlen, abgehängt. Diese Statistiken belegen also erst mal das Versagen der Integrationspolitik in Deutschland seit vielen Jahren. Das begann damals mit Kohl, und es sind seither unfassbar viele Fehler gemacht worden.
Ich muss Ihnen da Recht geben, wir waren in der Integrationspolitik nie ehrlich miteinander und haben damit viele Entwicklungen begünstigt. Das beginnt mit der jahrzehntelangen Diskussion darüber, ob Deutschland überhaupt ein Einwanderungsland ist. Natürlich sind wir das. Oder nehmen wir die fatalen Aussagen im Hinblick auf die Bleibeperspektive. Es wird gesagt, wir wollen nur diejenigen fördern, die eine gute Chance haben hier bleiben zu dürfen. Rechtlich mag es dafür Argumente geben, faktisch aber verlassen viele Menschen dann aus ganz unterschiedlichen Gründen Deutschland doch nicht. Das ist die Realität. Das bedeutet aber, dass wir Familien haben, die in der zweiten oder dritten Generation nur geduldet sind. Und dann türmen sich irgendwann die Aktenberge, während man diesen Menschen jede Perspektive verweigert. Wir müssen ehrlich sein: Natürlich haben wir Leute hier, die letztlich doch bleiben dürfen, obwohl sie zunächst zum Verlassen des Landes aufgefordert worden sind.

Also ein realistischer, ehrlicher Blick, und in der Folge eine entsprechende Politik.
Ja. Wenn ich nach einer realistischen Analyse nüchtern sage, was geht und was nicht, dann habe ich bei den Bürgerinnen und Bürgern die Chance, gehört zu werden. Die meisten wissen, dass es eben nicht nur Schwarz oder Weiß gibt.

Wenn ich mit Ihnen spreche, habe ich immer wieder den Verdacht, dass Sie eine sehr klare Haltung und einen entsprechenden Kompass haben.
(Lacht) Das hoffe ich.

Wenn ich mir aber die Politik ansehe, auch Ihre SPD, dann finde ich leider viele Beispiele, die die üblichen Klischees bestätigen. Politiker sind Fähnchen im Wind, sie orientieren sich an aktuellen Umfragen, letztlich geht es ihnen um die eigene Karriere usw. Die Menschen nehmen ihnen die Haltung nicht mehr ab. Wer steht wofür? Man weiß es nicht…
Dafür gibt es in der Politik heute leider viele Negativbeispiele. Ich versuche immer, meine sozialdemokratische Grundhaltung mit einer realistischen Einschätzung der Machbarkeiten zu verbinden. Eine klare Haltung ist wichtig, sie allein hilft aber manchmal nicht, politische Probleme zu lösen.

Der SPD wird zurzeit unterstellt, dass der Kompass vollständig fehlt.
Ein Ausgangspunkt für diese Kritik ist, dass wir nach der Wahl eine Groko abgelehnt haben und jetzt vielleicht doch in eine solche Koalition einsteigen. Dazwischen ist aber viel passiert, Jamaika ist geplatzt. Und wenn jetzt keine Regierung zustande kommt, gibt es Neuwahlen. Ich finde, es gehört zur politischen Verantwortung, dass man sich mit der neuen Lage befasst und sie womöglich neu bewertet. Genauso, wie ich es nach den Bundestagswahlen richtig fand, dass die SPD in die Opposition geht, finde ich es nach dem Scheitern von Jamaika heute richtig, dass die SPD eine Regierungsbeteiligung anstrebt.

Ich habe die Vermutung, dass bei den Leuten der Eindruck entsteht, dass da irgendwie gemauschelt wird. Und am Ende ist dann immer die SPD schuld.
Ja, dazu tragen wir aber selber bei, denn wenn es irgendwo ein Haar in unserer Suppe gibt, suchen wir zuerst danach.

Interview: Lars Kompa


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