Stadtkinder bewältigen den Alltag – The XXX-Files

Als WahlhelferIn „eingezogen“ zu werden, ist gar nicht so unwahrscheinlich, auch wenn einen das Losglück sonst eher nicht so leicht trifft. Nach einer Abstinenz von mehreren Legislaturperioden war ich in diesem Jahr mal wieder dabei. Was soll‘s? Irgendjemand muss es ja machen, ich betrachte das als Mini-Praktikum in angewandter Demokratie. Doofer wird man nicht davon.
Das Team, das ich am Sonntagmorgen um 7.30 Uhr vorfand, wirkte zunächst etwas unorganisiert, aber sehr bemüht. Unser Wahlvorsteher V. war ein sehr freundlicher und vor allem kommunikativer Mensch, schob allerdings deutlich Panik, weil er keine Ahnung hatte, was zu tun war und auch nur noch sehr schlecht sehen konnte. Ich fand es irgendwie stimmig, ihn mit einem „Wir schaffen das“ zu beruhigen.
Ansonsten stach noch M. heraus, der schon ein paarmal Wahlhelfer war und das Bedürfnis hatte, uns öfter mal mitzuteilen, sein Team sei IMMER das allerletzte beim Auszählen der Stimmen. Dass das bei uns anderen nur so mittelgut ankam, hat ihn nicht gestört. Es war dann schnell 8 Uhr und schon der erste Wähler wirkte schlecht gelaunt, weil wir erst um fünf nach mit den Vorbereitungen fertig waren. Ich durfte mich zunächst einmal verabschieden, da ich für die zweite Schicht eingeteilt war. Bei meiner Rückkehr um 13 Uhr fand ich eine Menge wartendes Wahlvolk auf dem Schulhof vor.
Schnell war klar, dass viele Leute unfassbar lange brauchten, um ihre Kreuzchen zu setzen. Klar, die Zettel waren wirklich groß, sehr klein bedruckt und es waren gleich vier, da kann man sich schon mal etwas gefordert fühlen, vor allem wenn man älter ist und nicht mehr gut gucken kann. Aber ich habe sehr viele junge, fitte Menschen gesehen, die für fünf Minuten oder länger hinter den Pappwänden verschwunden sind, die wir etwas großsprecherisch „Wahlkabinen“ nennen. Das ist echt lang. Wenn man sieht, wie die Schlangen draußen immer länger werden und die Laune der Wählenden immer schlechter, ist das sogar sehr sehr lang.* Wir haben dann eine dritte Wahlkabine für unseren Raum angefordert, die auch bald kam. Das hat geholfen, aber die Schlangen wurden an diesem Tag nicht mehr kürzer. Um 18 Uhr wurde das Tor zum Schulhof geschlossen, wer es bis dahin auf den Hof geschafft hatte, durfte noch von seinem Wahlrecht Gebrauch machen.
Mit 45-minütiger Verspätung konnten wir mit dem Auszählen anfangen, meine Hoffnung, ich würde wie früher, als ich ein paarmal beim Auszählen der Briefwahl dabei war, um 22 Uhr nach Hause gehen, war da schon ziemlich geschrumpft. Einen guten Anteil daran hatte aber auch M. mit seinem fröhlich wiederkehrenden „Wir sind immer die Letzten!“.
Okay, jetzt also auszählen. Das ist keine Raketenwissenschaft, aber man muss sich schon sehr konzentrieren, wenn man nicht ständig nachzählen möchte. Das Ausfüllen der Unterlagen ist zum Teil etwas tricky. Das liegt aber in erster Linie am Behördendeutsch der Erklärungen. Warum gibt es die nicht in „Einfacher Sprache“, in der heute schon die allermeisten behördlichen Broschüren zu bekommen sind? Ansonsten sortiert man Stimmzettel (bei vier verschiedenen natürlich stundenlang), bildet akkurate Zehner- oder Zwanzigerstapel und macht so viele einfache Additionen wie seit der vierten Klasse nicht mehr – mit dem Unterschied, dass man jetzt einen Taschenrechner benutzen darf. Auf eine etwas kranke Art macht das ja Spaß, und ich mag diese „So, das ist echt viel Arbeit, aber wir machen das jetzt alle zusammen fertig“-Situationen. Nicht zuletzt konnten wir ja auf die Unterstützung von V. bauen, der unsere Zählerei alle zwei Minuten mit einem „Na, ich sehe, bei euch läuft es ja spitze, oder?“ auflockerte und dabei auch die eine oder andere Anekdote einstreute. Mithelfen konnte er aufgrund seiner Sehschwäche leider nicht, die mentale Unterstützung aber ließ nichts zu wünschen übrig. Time flies when you’re having fun. Alarmiert vom wütenden Geschrei des Hausmeisters, der Feierabend haben wollte, stellten wir fest, dass es schon halb zwölf war. Gerade hatte ich ein so nettes Gespräch mit einer der Mitarbeiterinnen der Stadt, deren Job es war, die Schnellmeldungen entgegenzunehmen. Da ich dieses Berta-Emil-Zeppelin-Alphabet nicht beherrsche, hatte ich alternative Wörter benutzt, das hat sie sehr gefreut. „Wir müssen alle AfD-Stimmen noch einmal nachzählen, bei uns stimmt was nicht“ krähte M. fröhlich aus der anderen Ecke. Das hat den Hausmeister wiederum nicht so sehr gefreut.
Also noch einmal. Am Ende hat alles gestimmt, selbst der verstimmte Hausmeister war gegen einen geduldigen Stellvertreter ausgetauscht worden, der um halb eins die mit Rollen ausgezählter Zettel und sonstigem Wahl-Klabaster gefüllten Mülltonnen, die als Urnen gedient hatten, herauskarrte, irgendwohin in einen tiefen, kühlen Rathauskeller.

* Herzlichen Dank an alle Wählenden, die trotzdem noch gute Laune hatten (ja, die gab es!) und besonderen Dank an die Frau, die uns Hanuta mitgebracht hat.

        ● Annika Bachem

Foto: Gerd Altmann / Pixabay


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