Über Flucht – Ein Gespräch mit Michael B.

Foto: Jona DaumMichael heißt eigentlich nicht Michael, er hat seinen Namen geändert, weil sein alter Name ihn an die Zeit in Syrien und an seine Flucht erinnert. Er möchte diesen Abschnitt seines Lebens am liebsten komplett vergessen. Trotzdem trifft er sich mit mir, um noch einmal über seine Vergangenheit zu sprechen. Aber auch über seine Zukunft in Deutschland. Mit lachenden Augen …

Gehen wir zurück an den Ausgangspunkt. Du kommst aus Syrien. Wo hast du dort gelebt?
Ich habe in Aleppo gelebt, zusammen mit meiner Familie. Wir waren insgesamt acht Geschwister, ich bin der jüngste. Meine Geschwister haben dann alle geheiratet und ich habe mit meinen Eltern eine Zeit lang allein gelebt. Bis ich mit 17 Jahren in den Libanon gegangen bin.

Warum bist du weg von zu Hause?
Ich bin homosexuell, und in Syrien ist das sehr schwer. Das ist in der Gesellschaft geächtet. Es gibt sehr viel Druck. Und es war auch schwer mit meinen Eltern. Es war ein Versteckspiel. Ich hatte die Hoffnung, dass es im Libanon ein bisschen freier sein könnte. Ich habe ein paar Jahre probiert, dort zu leben. Aber so richtig gut und frei war es im Libanon natürlich auch nicht. Und ich bin dann irgendwann zurück zu meinen Eltern. In Aleppo war es aber wieder eine richtige Katastrophe. So viel Zwang. Du musst deine Haare schneiden, du musst beten, du musst, du musst, du musst. Und ich habe schon als Kind meine Schwierigkeiten mit solchen Zwängen gehabt. Ich wollte immer, dass man mich in Ruhe lässt. Ich bin dann schließlich in Syrien nach Tartus, ebenfalls eine größere Stadt, und habe dort eine Weile mit Freunden gelebt. Aber dann kam der Krieg und ich bin zurück zu meinen Eltern, beziehungsweise zurück zu meiner Mutter, denn mein Vater war damals schon gestorben. Nicht im Krieg, sondern vor dem Krieg. Meine Mutter hat mich einfach gebraucht. Sie ist schon alt. Sie lebt noch heute in Aleppo.

Wie alt bist du?
Ich bin jetzt 35 Jahre alt.

Leben deine Geschwister auch noch in Aleppo?
Sie leben überall sehr zerstreut. Zwei Brüder leben heute mit ihren Familien in der Türkei, aber wir haben keinen Kontakt. Sie wissen nicht, dass ich homosexuell bin und würden das strikt ablehnen. Ein Bruder, mit dem ich sehr eng war, ist in Syrien verschwunden. Seine Frau wohnt mit den Kindern in der Wohnung über meiner Mutter.

Und du weißt nicht, was aus deinem Bruder geworden ist?
Assad hat ihn geholt. Und wir wissen gar nichts. Er war nur für einen kurzen Weg auf der Straße und ist dann einfach verschwunden. Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass er tot ist.

Du wünscht dir, dass er tot ist?
Ja, sehr. Wenn er lebt und in Assads Gefängnissen sitzt, ist das für ihn die Hölle. Darum wünsche ich mir, dass er tot ist, dass er Frieden hat. Keine Folter, keine Schläge – wenn er tot ist, ist das besser für ihn.

Wie war damals vor deiner Flucht die Situation in Syrien?
Es war schlimm. Es konnte dir jederzeit passieren, dass du auf der Straße von der Polizei aufgegriffen wurdest. Völlig grundlos. Man wurde dann geschlagen, ging für zwei, drei Tage ins Gefängnis. Es war völlig unmöglich, sich mit Freunden zu treffen. Viel zu gefährlich. Keine treffen in Cafés oder in Klubs. Man war möglichst wenig auf der Straße. Wir haben uns viel versteckt. Man versucht, möglichst unsichtbar zu sein.

Ich merke, dass es dir schwerfällt, über diese Zeit zu sprechen. Dich verfolgen die Erinnerungen, die Bilder …
Vor allem im Schlaf. Mein Mann fragt mich immer, gegen wen ich im Schlaf kämpfe. Ich habe keine Antwort, ich weiß nicht genau, was in meinen Träumen passiert. Vor einem Jahr hat mal eine Frau zu mir gesagt, dass ich mich um meine Traumata kümmern müsse. Aber ich kann auf Deutsch nicht wirklich gut darüber sprechen. Und ich möchte das alles auch lieber einfach vergessen. Sich zu erinnern, das ist schwer. Ich habe dann Depressionen. In der Schule hat ein Lehrer mal das Thema aufgemacht. Da musste ich weinen. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Und einem Kollegen ging es genauso. Ich habe so viel geweint. Und ich mag es überhaupt nicht, zu weinen. Wie ich in den letzten zwei, drei Jahren in Syrien gelebt habe, das kann sich niemand vorstellen. Was ich gesehen habe, das kann sich niemand vorstellen. Eine einzige Katastrophe. Auf der Straße, Köpfe ab.  Ich habe das alles gesehen. Und ständig Angst, ganz viel Angst. Dass du etwas falsch machst, dass sie dich erwischen. Ich habe mich zwei, drei Monate in der Wohnung versteckt, ich habe mich nicht auf die Straße getraut. Meine Mutter hat für uns eingekauft. Und wenn die anderen dich erwischen, die gegen Assad, dann zwingen sie dich mitzukämpfen. Ich hatte wirklich so viel Angst. Ich möchte das alles jetzt vergessen. Aber es ist nicht so einfach, das zu vergessen. Ich sage zu mir jeden Tag, dass ich das endlich vergessen muss. Aber ich habe das alles erlebt. Und dann mein Bruder. Er hat nichts gemacht. Er war wie eine Maus. Er war so ein friedlicher Mensch. Warum er? Warum nicht ich? Er hat zwei Kinder. Warum haben sie ihn den Kindern weggenommen? Die Polizei hat ihn erwischt. Und wir wissen nichts. Gar nichts.

In Syrien sind sehr viele Menschen verschwunden.
Ja, und du kannst nichts machen. Du kannst dir keinen Anwalt nehmen, du kannst nicht zur Polizei gehen. Es gibt überhaupt keine Chance, etwas zu tun. Man ist völlig machtlos. Das ist ein ganz schreckliches Gefühl.

Wie ist die Lage heute in Syrien?
Ich höre nur ein bisschen was von meiner Mutter, aber ich verfolge nicht die Nachrichten. Die Politik in Syrien interessiert mich nicht mehr. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Nicht mit der Politik, nicht mit der Religion. Das ist Vergangenheit für mich.

Du versucht also einen Schlussstrich zu ziehen.
Ja.
Was aber nicht so ganz geht, weil deine Mutter nach wie vor in Aleppo ist.
Ja, sie ist noch in Aleppo, mit meiner Schwägerin. Und das macht mich zwischendurch immer wieder sehr traurig. Ich mache mir jeden Tag Sorgen.

Hörst du viel, hast du regelmäßig Kontakt?
Ja.

Wollen deine Mutter und deine Schwägerin mit den Kindern auch raus aus Aleppo, raus aus Syrien?
Wenn ich könnte, würde ich sie alle rausholen. Aber meine Mutter kann nicht einfach so kommen. Ich bin 35, ich bin zu alt. Ich müsste für alles bezahlen. Vielleicht kann ich das, wenn ich arbeite. Ich mache mir vor allem Sorgen um die Kinder meines Bruders.

Wie ist die Versorgungslage dort? Haben sie genug zu essen? Wie muss man es sich dort gerade vorstellen?
Ohne Hilfe geht es nicht. Sie brauchen Hilfe. Es gibt dort ja jetzt so etwas wie das Rote Kreuz. Jetzt gibt es das. Lange gab es das nicht. Meine Mutter und auch meine Schwägerin mit den Kindern, sie können nur leben, wenn wir Geld schicken. Meine Brüder aus der Türkei. Ich. Ohne Geld hat sie nichts zu essen. Es ist wirklich schlimm. Ganz schlimm. Ich kann jetzt nicht mehr so gut darüber sprechen.

Hast du noch so etwas wie Heimatgefühle für Syrien? Verbindest du noch etwas Positives mit deinem Geburtsland?
Früher ja, heute nicht mehr. Ich bin jetzt seit sechs Jahren in Deutschland und seit etwa fünf Jahren habe ich damit abgeschlossen. Syrien ist nicht mehr meine Heimat. Deutschland ist jetzt meine Heimat. Es ist nichts Positives übrig. Da sind die Bilder von den Toten auf der Straße, von den Köpfen. Das ist nicht mehr mein Land. Das war eine schlimme Zeit. Andere haben vielleicht noch diese Gefühle. Aber bei mir kommt noch meine Homosexualität dazu und die damit verbundene Angst und Unfreiheit.

Wird Homosexualität streng verfolgt in Syrien, kommt man dafür ins Gefängnis?
Das ist dort alles eine einzige Katastrophe. Zuerst kümmert sich aber die Familie. Sie setzen dich unter Druck, sie beten mit dir, sie wollen dich verheiraten. Wenn die Familie nichts tut, dann kümmert sich die Politik, dann kümmert sich Assad. Inzwischen wissen meine Schwestern, dass ich homosexuell bin und sogar, dass ich hier in Deutschland mit einem Mann verheiratet bin. Der weibliche Teil der Familie, meine Schwestern, die Cousinen, die wissen es alle. Und sie gehen ganz normal damit um, so wie die meisten Menschen hier im Westen. Aber die Brüder, die Cousins, die Neffen, sie wissen es alle nicht. Und ich werde es ihnen auch nicht sagen. Ich halte bewusst Abstand. Denn sie würden mir sicher zusetzen. Das will ich nicht. Ich will meine Ruhe und ich will mein Leben leben.

Hast du nicht Angst, dass sie es mit diesem Interview jetzt erfahren?
Wenn sie es jetzt erfahren, dann ist mir das im Grunde egal. Denn ich bin hier. Ich bin aus meiner Familie der Einzige, der in Deutschland ist. Was sollen sie machen aus der Ferne? In Syrien wäre das natürlich ganz anders.

Was hätte dir gedroht in Syrien?
Ich wäre jetzt tot. Ganz sicher. In Syrien musst du als Mann irgendwann verheiratet sein. Das wird einfach verlangt, das fordert die Gesellschaft von dir. Das ist ein Muss. Das hätte ich nicht gekonnt. Aber sie verlangen es. Du musst. Meine Mutter hat immer gefragt, warum ich noch nicht verheiratet bin. Ich habe ihr jetzt gesagt, dass ich verheiratet bin. Aber sie denkt, dass ich mit einer Frau verheiratet bin. Meine Schwestern amüsieren sich darüber. Aber sie sagen, dass ich das gut gemacht habe. Dass ich es nicht erzählen muss. Weil ich Ruhe brauche. Und sie wollten Bilder von meiner Hochzeit (lacht). In Syrien wäre ich jetzt sehr wahrscheinlich tot oder im Gefängnis. Wenn sich deine Familie nicht kümmert, dann kümmert sich Assad. Oder die anderen. Ich wollte da einfach nur schnell weg. Ich musste weg. Ich hatte die Wahl, zu sterben oder zu flüchten. Gott sei Dank bin ich jetzt hier in Deutschland.

Was war dein Beruf in Syrien. Hast du eine Ausbildung gemacht?
Nein, ich habe bei einer Firma im Bus-Ticket-Verkauf und der Kundebetreuung gearbeitet. Mein Vater hatte einen Obst- und Gemüsehandel, und sein Plan war immer, dass einer meiner Brüder oder ich oder wir zusammen sein Geschäft übernehmen. Aber das war überhaupt nicht meine Welt. Diese Geschäftswelt war so „männlich“. Du musst deinen Mann stehen. Sehr viel Klischee. Das ist eine sehr eigene und mir sehr fremde Welt. Das wäre für mich einfach nicht gegangen. Im Ticket-Verkauf war ich weitaus besser aufgehoben.

Sprechen wir mal über deine Flucht? Wann hast du Syrien verlassen?
Das war 2015.

Hast du das lange geplant?
Nein, das war eher spontan, nachdem ich viele Jahre Angst hatte. Irgendwann war einfach ein Punkt erreicht und ich habe gesagt: Ich kann nicht in Syrien bleiben. Da kam bei mir ja ein bisschen was zusammen. Meine Sexualität. Die Religion. Der Zwang. Der Krieg. Und dann habe ich mit jemandem gesprochen, der solche Reisen organisiert hat. Ich wollte in die Türkei, weil ich gehört hatte, dass man von da aus weiter nach Europa kommt. Ich habe bezahlt. Und dann war ich irgendwann in der Türkei. Dort zuerst auf der Straße, zwei Tage. Aber ich wollte schnell weiter, nach Griechenland.

Mit dem Boot?
Ja, wir haben es mit einem Boot versucht. Aber das ist gekentert. Das war grausam. Die türkische Polizei hat uns rausgeholt. Ich habe noch heute meine Probleme damit. Wasser ist schwierig. Schwimmen gehen ist unmöglich. Ich war danach noch ein ganzes Jahr in der Türkei. Aber dann habe ich neuen Mut gefasst. Ich wollte weiter. Unbedingt. Nach Europa. Deutschland war gar nicht so sehr im Fokus. Einfach Europa. Und ich bin wieder in ein Boot nach Griechenland gestiegen. Diesmal mit Erfolg. Ich hatte die ganze Zeit panische Angst. Es war schrecklich. Aber ich habe es geschafft. Und in Griechenland habe ich dann nach 14 Tagen zwei Leute kennengelernt. Ich kam ja allein nicht weiter. Ich hatte natürlich Schwierigkeiten, wegen der Sprache. Ich kann kein Englisch. Ich habe bezahlt. Und dann ging es zuerst von Griechenland nach Makedonien bis zur Grenze nach Serbien. Das war dann eine Katastrophe. Eine schlimme Zeit. Es hat geregnet, es war kalt, wir waren draußen. Ich bin von dort mit einem Auto weiter. Die standen dort bereit an einer Tankstelle, so ähnlich wie Taxis. Ich habe viel bezahlt aber ich wollte unbedingt dort weg. So bin ich nach Österreich gekommen. Und in Österreich habe ich mich dann entscheiden müssen zwischen Holland und Deutschland. Das war eine wirklich harte und schlimme Zeit. Ich hatte nur ein T-Shirt und Shorts. Ich habe dann immer so eine Tüte über mich gezogen als Regenschutz. Da waren viele so wie ich. Schrecklich. Schließlich bin ich dann erst mit dem Bus und dann mit der Bahn nach Deutschland. Und die erste Station in Deutschland war Frankfurt.

Wann war das?
Am 15. September 2015.  Das Rote Kreuz hat geholfen, wir wurden in einer Turnhalle untergebracht. Wir wurden untersucht. Das war alles gut. Ich war sehr dankbar. Aber ich wollte nicht in dieser Turnhalle bleiben. Ich wollte weiter nach Bremen. Und bin dann von Bremen nach Oldenburg, und von Oldenburg nach Bramsche bei Osnabrück. Dort war ich drei Monate.

Warum bist du dort jeweils hin?
Weil ich gehört hatte, dass es dort besser ist. Ich habe gemacht, was die Leute mir gesagt haben. Und ich brauchte auch Papiere. Ich hatte große Angst, dass ich zurückgeschickt werde. Das ist so eine Angst, die man sich gar nicht vorstellen kann. Von Bramsche ging es dann noch weiter nach Wittingen. Das war schwierig. Ich war dort untergebracht mit sechs anderen Männern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Sie haben gebetet. Ich habe nicht gebetet. Da gab es einen Mann, der sich dort um Flüchtlinge gekümmert hat und der hat mir geholfen. Ich bin nach Wolfenbüttel in eine andere Wohnung umgezogen. Und dann war meine Sache endlich vor Gericht und ich habe meine Papiere bekommen. Ich durfte lernen. Ich konnte auf eine Schule. So bin ich schließlich nach Hannover gekommen.

Ein Odyssee …
Ja. Und es war nicht schön die erste Zeit. Ich hatte Angst. Ich habe die Sprache nicht verstanden. Die Leute waren mir gegenüber distanziert. Sie haben mich irgendwie als Bedrohung empfunden. Ein Flüchtling – besser Abstand halten. Der könnte gefährlich sein. Dabei bin ich sehr, sehr friedlich. Ich würde niemals irgendjemandem etwas tun. Ich möchte nur freundlich „Hallo!“ sagen. Aber dann habe ich schließlich meinen Mann kennengelernt, im Sommer 2018. Das war gut. Und hier in dieser Wohnung leben wir jetzt zusammen seit August 2020. Ich mache momentan eine Weiterbildung im Bereich Betreuung bei einem tollen Unternehmen. Das macht mir sehr großen Spaß. Es hat sich sehr viel zum Guten gewendet. Mir haben viele Leute in Deutschland sehr geholfen. Und das Land hat mir eine Chance gegeben. Jetzt kann ich etwas zurückgeben. Ich möchte jetzt auch Menschen helfen. Als ich nach Deutschland gekommen bin, wollte ich zuerst eine ganze Weile Friseur werden (lacht). Das war so ein Plan. Aber ich konnte ja die erste Zeit nicht arbeiten, weil meine Papiere fehlten. Ich musste lange warten. Das war nicht schön. Ich wollte unbedingt arbeiten. Und dann ist der Gedanke entstanden, dass ich direkt etwas für die Menschen tun möchte, dass ich direkt helfen möchte. In diesem Bereich herrscht Mangel, da kann ich wirklich einen Beitrag leisten. Und das mache ich jetzt. Ich bin damit sehr zufrieden.

Du machst auch einen sehr zufriedenen Eindruck, wenn du davon erzählst.
Weil ich mich hier frei entscheiden kann. Und mich auch für diese Arbeit frei entschieden habe. In Syrien ist alles Zwang. Du musst, du musst, du musst. Das war für mich immer ganz schwierig. Hier in Deutschland muss ich nicht, hier kann ich. Ich sage heute zu meiner Familie, dass ich Deutscher bin. Ich sehe mich nicht mehr als Syrer. Und ich habe auch kaum Kontakte in der Richtung. Das gäbe auch nur Theater wegen meiner Sexualität.

Deine Sexualität war auch während deiner Flucht immer wieder ein Problem, hast du eben angedeutet. Zum Beispiel in der Wohngemeinschaft mit den sechs Männern.
Das war natürlich die ganze Zeit so ein Versteckspiel. Ich hatte wirklich Angst. Und als dieser Mann dann für mich eine andere Wohnung gefunden hat, war die Sache natürlich zuletzt irgendwann klar. In der neuen Wohnung habe ich dann auch nicht allein gelebt, sondern mit zwei Männern. Aber in getrennten Zimmern. Mit denen haben wir vorher gesprochen, der Mann hat mit ihnen gesprochen, ihnen die Situation erklärt und sie gebeten, das zu akzeptieren. Die beiden haben es natürlich nicht akzeptiert. Sie wollten mich ändern. Sie wollten immer mit mir beten. Darum gab es bald den nächsten Umzug. Ich hatte wegen meiner Sexualität in den ersten Jahren in Deutschland sehr viel Angst, weil immer viele Landsleute in meiner Nähe waren, viele Muslime. Ich bin homosexuell und nicht religiös. Das ist für viele in der Community überhaupt nicht zu verstehen. Und auch nicht akzeptabel. Und wenn es herauskommt, spricht es sich in dieser Gemeinschaft natürlich auch ganz schnell herum. Dann wird viel geredet und getuschelt. Und es kann eben auch gefährlich werden. Dabei gibt es auch in Syrien viele Männer, die eigentlich Männer mögen. Sie müssen es dort natürlich verstecken, viele Männer sind darum auch verheiratet mit Frauen und leben so eine Art Doppelleben. Und das bleibt oft auch in Deutschland so. Sie verheimlichen es in der Gemeinschaft, weil sie Angst haben. Und tatsächlich auch Angst haben müssen. In Deutschland sind große Teile der Gesellschaft bei dem Thema wesentlich aufgeschlossener. Da ist es dann gar kein Problem.

Du hast öfter gesagt, dass du nicht betest. Glaubst du nicht mehr?
Ich kann das gar nicht so genau sagen. In Syrien war der Glaube immer verbunden mit Zwang. Religion war eine Pflicht. Ich musste, musste, musste. Damit bin ich aufgewachsen. Hier bin ich nun frei und muss nicht. Darum bete ich nicht. Ob ich irgendwann wieder glauben will oder kann, das weiß ich im Augenblick noch nicht. Im Moment verspüre ich einen großen Widerwillen bei dem Thema, weil es mich an all die Zwänge erinnert. In Syrien gab es einfach diesen Druck. Als Kind musste ich. Es gab immer viel Zwang, viel Angst. Immer mehr Angst. Die Aussicht, das alles hinter mir zu lassen, das hat mich sehr motiviert. Das war der Ausgangspunkt meiner Flucht. Mir war klar, dass es hart werden würde. Aber ich war bereit, dafür zu kämpfen. Und es war ein Kampf. Mein Leben in Syrien war zuletzt ein Kampf, die gesamte Flucht war ein Kampf. Ich habe sehr viel gekämpft in meinem Leben. Ich habe sehr viel für dieses Leben gekämpft, das ich jetzt habe. Ich war in Syrien einfach irgendwann an einem Punkt, an dem klar war, dass ich etwas ändern musste. Und die Hoffnung, dass ich es an einen Ort schaffe, an dem ich meine Ruhe habe, an dem ich einfach so leben kann, wie ich das möchte, das war meine Motivation. Ich habe das geschafft. Und dann habe ich noch meinen Mann kennengelernt. Wir haben geheiratet. Das gab natürlich auch wieder Gerede. Es gab die Unterstellung, ich würde ihn heiraten wegen der Papiere. Aber ich hatte ja längst meine Papiere. Und auch schon mein eigenes Geld. Wir haben aus Liebe geheiratet. Es gab keinen anderen Grund.

Hast du während deiner Flucht auch Menschen kennengelernt, die einfach so geholfen haben.
Erst in Deutschland. Vorher war das immer mit Geld verbunden. Ohne Geld gab es keine Hilfe. Und ich war sehr auf Hilfe angewiesen. Ich brauchte zum Beispiel die Übersetzung. Ich habe für alles bezahlt. Ich habe alle Fahrten bezahlt. Ich wollte weiter, also habe ich bezahlt. In Wittingen, in dieser Gemeinschaft mit den sechs Männern, haben sie mir dann auch noch mein Geld geklaut. Ich habe mit diesen Leuten dort drei Monate gelebt, wir haben zusammen gegessen – und dann hat einer von denen mein Geld genommen. Und du weißt, einer war es. Aber natürlich hat es niemand zugegeben. Ich habe sehr viel Vertrauen verloren. Ich vertraue heute eigentlich niemandem. Außer meinem Mann. Wenn ich auf der Straße unterwegs bin und jemand hinter mir geht, dann habe ich Angst. Ich habe Angst, dass mich jemand schlägt. Dass jemand hinter meinem Rücken irgendwas macht.

Du bist sehr viel geschlagen worden in deinem Leben …
Ja. Sehr viel. In Syrien, das war schrecklich. Und ich brauche da noch Zeit. Aber nun bin ich hier in Deutschland. Ein neues Leben. Und ich möchte jetzt gerne zeigen, was ich kann. Dass ich etwas beitragen kann. Viele Menschen denken, dass die Flüchtlinge nur kommen, weil sie Geld wollen. Ich möchte einfach weiterleben. Ich will arbeiten. Ich will lernen. Ich möchte Leute kennenlernen. Ich möchte ein Teil dieser Gesellschaft sein und meine Vergangenheit möglichst vergessen. Ich habe darum auch meinen Namen geändert. Machmud war mein Name. Jetzt heiße ich Michael. Und ich habe dazu den Nachnamen meines Mannes angenommen. Das war eine gute Entscheidung. Mit dem Namen Machmud war ich immer gleich in einer Schublade. Du bist Muslim. Und damit verbunden sind natürlich sehr viele festgefügte Vorstellungen. Die aber alle rein gar nicht für mich passen. Das betrifft zum Beispiel auch meine Homosexualität.

Wie war das in deiner Kindheit in Syrien, wann hast du gemerkt, dass du homosexuell bist?
Ich denke, ich muss 14 Jahre gewesen sein. Das war alles sehr schwer. Und sehr gefährlich. Darum habe ich mir schon als Kind immer gewünscht, woanders zu Leben. Irgendwo in Freiheit. Ich habe dabei früher nie an Europa gedacht. Eher an Kuwait oder Dubai. Ich habe erst später realisiert, dass es dort auch nicht viel besser gewesen wäre. Homosexualität ist in dieser Kultur überall ein Problem. Darum habe ich irgendwann von Europa geträumt. Nicht von Deutschland. Ich wusste ja nichts über Deutschland. In Makedonien hat mich die Polizei gefragt, wohin ich will. Und ich habe geantwortet: Europa!

Es ist wirklich schwer, sich das vorzustellen: Aus einem Land zu flüchten, sich einfach auf den Weg zu machen, ohne ein konkretes Ziel.
Ja. Und nein, denn ich wollte in erster Linie einfach weit weg. Ich wollte raus, ich war ungeduldig. Hauptsache raus. Das alles zurücklassen, das alles vergessen. Wenn das Thema Vergangenheit kommt, wenn es weh tut, ich daran denken muss, dann erinnere ich mich immer ganz schnell daran, wo ich jetzt bin, dass ich es geschafft habe.

Hast du auf deiner Flucht eigentlich auch Gewalt erlebt? Davon hört man ja momentan sehr viel.
Nein, damals nicht. Aber die Umstände waren oft schlimm. Vor allem in Serbien. Das war eine Katastrophe. Es war so kalt, es hat so viel geregnet, es war schrecklich. Und es waren so viele Kinder unterwegs. Wir Erwachsenen haben natürlich versucht, ihnen zu helfen. Und es gab auch andere Hilfe, aber nicht genug Hilfe. Die Erinnerung tut weh. Ich möchte nicht weinen. Als ich in Deutschland angekommen bin, war ich so müde und kaputt. Du kannst dir das nicht vorstellen.

Viele Flüchtlinge hoffen ja darauf, dass sich die Verhältnisse in ihrer Heimat irgendwann ändern und sie zurückkehren können. Für dich ist das gar keine Option …
Nein, meine Heimat ist hier. Auch wenn es in Syrien wieder Frieden gäbe, dann wäre da immer noch das Problem mit meiner Sexualität. In Syrien wäre das ein massives Problem. Schon ein Besuch wäre problematisch. Ich hätte Angst. Eine Rückkehr ist für mich unvorstellbar. Das wäre eine Katastrophe. Nein, meine Heimat ist jetzt Deutschland. Hier habe ich meine Ruhe und meinen Frieden. Das ist gut. Das gefällt mir. Hier erlebe ich Verständnis. Ich kann hier mit dir sitzen und über meine Homosexualität reden und für dich ist das völlig normal und gar kein Problem. Verstehst du? Das wäre in Syrien nicht vorstellbar. Nein, ich gehe niemals zurück. Wohin soll ich zurück? Ich habe mitbekommen, dass Flüchtlinge zurückgekehrt sind, die zum Beispiel aus dem Irak geflohen waren. Aber nach Syrien kehrt momentan niemand zurück. In Syrien herrscht nach wie vor Krieg.

Hier in Deutschland gibt es ja inzwischen auch sehr viel Hass auf Flüchtlinge.
Ja, aber in meinem Alltag erlebe ich das kaum. Es gibt da fast keine Berührungspunkte. Und in Deutschland gibt es dazu eine Polizei. Eine richtige Polizei, nicht so wie in Syrien. Eine Polizei, die aufpasst, die sich kümmert. In Syrien schlagen sie dich, sie sperren dich ein, sie wollen Geld, du kannst einfach verschwinden, sie töten dich. Hier in Deutschland kann ich dagegen bei Problemen die Polizei rufen. Ich habe nicht so viel Angst vor den Rechten, ich habe mehr Angst vor der muslimischen Community wegen meiner Homosexualität. Ich würde mal sagen, dass so etwa 20 Prozent das entspannt sehen, aber 80 Prozent eben nicht. Ich halte mich darum lieber fern. Obwohl sie ja eigentlich nichts machen können. Wir sind in Deutschland, es gibt Regeln und Gesetze, es gibt bei der Religion keinen Zwang. Und es gibt insgesamt eine große Offenheit. Als wir geheiratet haben, waren wir in den Herrenhäuser Gärten und haben Fotos gemacht. Wir hatten keine große Feier wegen Corona. Aber in den Herrenhäuser Gärten haben dann viele Leute gratuliert und waren sehr zugewandt. Das war so ein schöner Tag!

Verfolgst du in den Nachrichten die Berichte über die Flüchtlinge, die jetzt kommen?
Ich verfolge das natürlich, aber das ist auch sehr schwer für mich. Ich muss dann immer an die Kinder denken, die mir während meiner Flucht begegnet sind. Ich muss an die Babys denken. Ich habe sehr viel Schreckliches gesehen und diese Bilder kehren dann zurück. Ich möchte da jetzt nicht weiterreden. Es gab viele schlimme Situation. Ich hoffe, dass die Kinder es bis nach Deutschland schaffen. Sie können doch nichts dafür. Sie haben sich das nicht ausgesucht. Niemand flüchtet freiwillig. Niemand will das. Ich wünsche mir auch für die Kinder meiner Nichte, dass sie es irgendwann nach Europa schaffen. In Syrien haben sie keine Perspektive, keine Chance. Hier in Deutschland hätten sie eine Chance. Dafür habe ich sogar mal gebetet.

Wie geht es jetzt für dich weiter mit deiner Ausbildung?
Ich bin im kommenden Jahr fertig und dann kann ich endlich richtig arbeiten. Die Weiterbildung dauert eineinhalb Jahre. Ich hoffe, dass ich das alles schaffe, Ich bin momentan sehr konzentriert auf diese Ausbildung. Und ich lerne weiter Deutsch. Ich habe ja erst vor drei Jahren damit angefangen. Das war am Anfang vor allem schwer, weil ich niemanden kannte. Ich habe nur wenig mit Leuten sprechen können. Darum habe ich mich bemüht, Leute kennenzulernen. Inzwischen ist es besser. Zwischendurch habe ich noch überlegt, ob ich den Führerschein machen soll, aber ich habe mich dann dagegen entschieden.

Warum?
Du wirst lachen. Ich denke an die Welt. Wir müssen etwas tun. Es gibt schon viel zu viele Autos.  Außerdem hat mein Mann einen Führerschein, das reicht doch. Es gibt den Bus und die Bahn, ich habe ein Fahrrad. Das funktioniert auch ohne Auto.

Ich danke dir sehr für deine Zeit und für dieses Gespräch. Ich hoffe, ich habe nicht zu viel aufgerührt damit.
Es ist okay. Ich muss mich ja damit auseinandersetzen. Und es wird auch jeden Tag besser. Die Hauptsache ist, dass ich jetzt hier bin. Das ist ein großes Glück.
● LAK


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