El Kurdis Kolumne im April

Die U-Bahn in unseren Köpfen

Hin und wieder besuche ich meine Quasi-Heimatstadt Kassel – und betreibe dort semi-sentimentale kulturwissenschaftliche Studien.
Neulich stand ich auf dem Platz vor dem alten Kasseler Hauptbahnhof und trauerte um die Kasseler U-Bahn. Die es selbstverständlich nie gab. Dazu ist die „Stadt der Künste und Kongresse“ – so eine frühere Eigenwerbung – bei aller Liebe mit ihren 200.000 Einwohnern dann doch zu klein.
Was es aber gab, war eine einzelne, solitäre U-Bahn-Station. Eben dort: Unter dem Vorplatz des Hauptbahnhofes. Mit allem Drum und Dran: U-Bahn-Schildern, Rolltreppen und einer schicken Ladenzeile auf einer „B-Ebene“.

Welche Drogen man damals – Mitte der 1960er – in der „nordhessischen Metropole“ genommen haben muss, um auf die Idee zu kommen, eine stinknormale Straßenbahn vor dem Bahnhof mal kurz unter die Erde tauchen und sie direkt dahinter wieder aus dem Hades herausfahren zu lassen, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren.

Vermutlich wollte man genauso modern sein wie der ewige hessische Konkurrent Frankfurt, der zeitgleich eine richtige U-Bahn baute. Wobei Frankfurt für Kassel eine ziemlich größenwahnsinnige Referenz war: Die Stadt am Main zählte schon damals drei bis vier Mal so viele Einwohner und war der Standort eines riesigen Flughafens und vieler internationaler Banken. Einzig beim direkten Geschmacksvergleich der lokalen Spezialitäten „Handkäs mit Musik“ (faktisch: Harzer Käse in einer Zwiebelmarinade) und „Ahle Wurscht“ (so eine Art Eichsfelder Stracke, bloß in lecker) hat Kassel bis heute die Nase und Zunge vorn.
Ansonsten lebten wir in Kassel nun mal im Zonenrandgebiet, in der Provinz, in der Hauptstadt von Hessisch-Sibirien, und freuten uns, bei Sturm nicht von der Erdscheibe herunter zu kullern …

Allerdings genossen wir es, dass wir mit DDR 1 und 2 immerhin zwei TV-Sender mehr als die Frankfurter empfangen konnten. Das war‘s dann aber auch schon.

Andererseits: Es funktionierte. Ich erinnere mich, dass wir als Jugendliche, nachdem wir uns im Kino zunächst durch das Anschauen von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ über die Drogenkonsumgewohnheiten von echten Großstadt-Teenagern informiert hatten, in die Kasseler U-Bahn-Station pilgerten – um dort dann zwar keine Opiate, aber doch immerhin leichte Cannabis-Produkte zu uns zu nehmen. Das fühlte sich fast authentisch an …

Einige Jahre später zog ich dann zum Studieren nach Hildesheim. Dort stellte ich fest, dass man für eine Fake-U-Bahn-Station noch nicht mal eine Straßenbahn braucht. Wer schon mal in Hildesheim war, weiß: Die Fußgängerzone wird von einer großen Straße, der Kaiserstraße, zerschnitten, die man heute oberirdisch an einer Fußgängerampel überquert. Früher aber existierte an dieser Stelle eine berolltreppte Unterführung. Soweit so üblich. Aber anders als andernorts, stattete man in Hildesheim diese Unterführung mit Läden aus (Popcorn, Billig-Klamotten, einen griechischen Imbiss, Ledergürtel), ließ das Ganze dann über die Jahre gezielt verranzen und verrotten und pinselte so dort für ca. 30 Meter einen charmant urban-urinigen Heroin-Chic unter die Erdoberfläche.
Wenn es mir in Hildesheim gelegentlich etwas zu idyllisch und eng wurde, stellte ich mich manchmal für fünf Minuten in diesen „U-Bahn“-Tunnel. Einfach so. Und atmete ein. Und durch.

Als ich Ende der 80er das erste Mal Hannover besuchte, beeindruckte mich hier natürlich die richtige U-Bahn. Ich dachte: Das muss tatsächlich eine Großstadt sein! Noch beeindruckender aber fand ich, dass man hier auch noch Teile der Fußgängerzone tiefergelegt hatte. Und den Autoverkehr an einigen Stellen nach oben. So als wollte man sagen: Hier ist soviel los, wir müssen auf mehreren Ebenen arbeiten!
Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Kumpel Matthias in seinem klapprigen Ford Fiesta über die Hochstraße am Aegi fuhr. Und es uns ein bisschen wie fliegen vorkam. Und auf eine paradoxe und faszinierend altmodische Art „modern“. So als wären wir in einen Science-Fiction-Film aus den 1960ern gerutscht, in dem auf dem Boden wie gehabt Autos und Fußgänger insektenartig herum krauchen, eine Etage höher aber der coole „state-of-the-art“-Verkehr stattfindet: umherzischende Flugtaxis und schwebende Menschen mit düsengetriebenen Flugrucksäcken …

Die U-Bahn-Stationen in Kassel und Hildesheim sind inzwischen Geschichte. Verrammelt und verschüttet. Auch die Hochstraße am Aegi ist Vergangenheit. Und fast schon vergessen.
In diesem Sinne: Gern geschehen. Mein Leben ist Service.
● Hartmut El Kurdi


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