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Julians  Eismanufaktur  Birne & Beere – Mobil, flexibel und lecker

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Julians Eismanufaktur Birne & Beere – Mobil, flexibel und lecker


Streuselkucheneis mit Apfelsauce, Rhabarbersorbet oder Stracciatella mit echter Schokolade: Julian Rakowski ist seit Mitte April in Hannover unterwegs und serviert per Eisfahrrad überall da, wo es bisher kein Eis gab. Dabei ist nicht nur das mobile Vehikel eine Spezialanfertigung mit Kühlung und Spüle – auch die Eissorten von „Julians Eismanufaktur Birne & Beere“ sind besonders und vor allem alle selbstgemacht. Der Gründer will mit seiner Idee der mobilen Eisdiele die eiskalten Leckereien von der Eilenriede bis hin zur Dornröschenbrücke direkt vor Ort anbieten.
„Es gab eine Vielzahl von Gründen, die mich zu meiner Idee mit dem Eisfahrrad gebracht haben,“ rekapituliert Julian Rakowski: „Erst einmal liebe ich Eis und habe mich immer über die vielen unnötigen Zusatzstoffe darin geärgert. Dazu sind mir Nachhaltigkeit und Regionalität immens wichtig – und: an so vielen schönen Orten dieser Stadt gibt es keine Eisdiele. Das zusammen waren die Inspirationen, die mich auf die Idee für meine Unternehmensgründung gebracht haben.“
Sein Eis ist zu 100 Prozent natürlich und selbst hergestellt, fast alle Zutaten kommen aus der Region. Nur bei Vanille, Schokolade und Gewürzen aus fairen und nachhaltigen Projekten macht er Ausnahmen. Zudem verwendet Julian keine industriellen (Halb-)Fertigerzeugnisse und/oder Fertigmischungen. Das macht das Birne-&-Beere-Eis in erster Linie frei von allen überflüssigen Zusatzstoffen. Immer sind zwei vegane Sorten mit im Angebot, dazu eine Variante auf Joghurt- oder Buttermilchbasis und fünf auf Milch-Sahne-Basis. Dabei werden keine klassischen Kugeln, sondern Portionen angeboten, was den Vorteil hat, dass Schleckermäuler auch zwei Sorten bei einer Portion mischen können. Mit dem Eisfahrrad liefert Julian die kalte Leckerei quasi überall hin, InteressentInnen können ihn auch für Events von Kindergeburtstagen bis zur Business-Party buchen. Über einen GPS-Tracker auf seiner Website kann jeder nachverfolgen, wo er gerade mit seinem Icebike präsent ist. Von Herbst bis Frühling – also außerhalb der Eissaison – will der Eismann sein Know-how in Eismacherkursen an Interessierte weitergeben.
Anderen GründerInnen empfiehlt er vor allem eines: „Durchhaltevermögen. Es kommt immer alles anders als man denkt oder geplant hat. Ich bin mit viel Idealismus angetreten und will mir treu bleiben, das bringt aber auch viele lange Arbeitstage mit sich. So wollte ich beispielsweise nur mit dem Rad ausliefern, doch die Nachbarn in der Calenberger Neustadt, wo ich mein Eis produziere, wünschen sich sehr eine Eisdiele. Deshalb denke ich mittlerweile neben weiteren Fahrrädern zusätzlich auch über ein stationäres Angebot nach. Der Rückenwind von Familie und FreundInnen ist wirklich wichtig, meine Mitbewohner etwa testen jede Eissorte vor. Das positive Feedback sorgt dafür, dass ich mir noch keine Regentage gewünscht habe! Und: Mein Erstkontakt zur regionalen Wirtschaftsförderung hannoverimpuls war klasse mit dem Vier-Wochen-Seminar „Gründung kompakt“! Ich habe zwar das Hotelfach gelernt und Erfahrung als ehemaliger Veranstaltungsleiter der Konditorei Kreipe, doch in diesen vier Wochen habe ich noch ganz viel Wichtiges dazugelernt und mich fit gemacht für das jetzt notwendige ,unternehmerische‘ Denken.“

Julians Eismanufaktur Birne & Beere
Julian Rakowski
Produktion: Calenberger Str. 43-45
30169 Hannover
Tel. 0163 2103147
info@birneundbeere.de
www.birneundbeere.de

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Regionspräsident Hauke Jagau

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Regionspräsident Hauke Jagau


Wir treffen Hauke Jagau mit Abstand im Haus der Region in
der Hildesheimer Straße 20 und rechnen eigentlich damit, nach vielen anstrengenden Wochen einem zumindest leicht müden und abgekämpften Regionspräsidenten gegenüberzusitzen. Aber weit gefehlt, Hauke Jagau ist „angeschaltet“ – es gibt einfach Menschen, die legen in Krisenzeiten noch eine Schippe drauf. Doch immerhin, er gibt zu, dass es auch für ihn nun gerne langsam mal vorbei sein könnte mit dem Krisenmodus.
Ein Gespräch über Improvisation und Pragmatismus, über
Corona-Management, persönliche Quarantäneerfahrungen und vielleicht ein paar doch gar nicht so schlechte Aussichten.  

Herr Jagau, wir haben momentan immer mehr Lockerungen, aber gleichzeitig ist Corona noch längst nicht vorbei und man sollte weiter sehr vorsichtig sein. Wie erklärt man das den Leuten?
Das ist in der Tat ein Problem. Die Menschen sind Corona inzwischen leid; mir geht es genauso. Wir wünschen uns alle unser altes Leben zurück. Das macht es schwierig zu akzeptieren, dass wir um Vorsichtsmaßnahmen nicht herumkommen. Die Darstellung in den Medien ist sehr unterschiedlich: Auf einem Fernsehsender ist noch Weltuntergang angesagt, auf dem anderen sieht alles nach Entspannung aus. Und die Lage ist ja auch komplex. Mit Blick auf die Zahl der Intensivbetten, die zur Verfügung stehen, können wir uns scheinbar zurücklehnen. Auf der anderen Seite stehen Masseninfektionen wir im Schlachthof in Rheda-Wiedenbrück oder auch bei UPS in Langehangen.

Und das alles wird dann auch noch sehr unterschiedlich interpretiert.
Ganz genau. Wir haben wenig gesicherte Erkenntnisse, aber jede Menge Mutmaßungen. Im Moment sieht es so aus, dass das Virus im Sommer wohl weniger Kraft hat. Die Krankheitsverläufe sind deshalb leichter. Aber das heißt nicht, dass die Ansteckungsgefahr gebannt ist, das Virus ist weiter aktiv. Man könnte jetzt sagen: Super, dann sollen sich die Leute im Zweifel anstecken und Antikörper entwickeln – in den Krankenhäusern sind wir ja auch gut vorbereitet. Aber ist das wirklich eine gute Strategie? Wer garantiert harmlose Krankheitsverläufe? Dann haben wir noch die Forderung nach Massentests an möglichst vielen Stellen. Die sind aus meiner Sicht auch nicht immer hilfreich, denn sie spiegeln eine Pseudosicherheit vor. Ein Test ist eine Momentaufnahme und schlägt auch nur in einem bestimmten Stadium der Erkrankung an. Wir wissen von Menschen, die negativ getestet wurden, obwohl sie bereits infiziert waren. Massentests können zur Einschätzung einer Lage helfen, bringen aber nur scheinbar Sicherheit – schon im nächsten Moment kann man sich angesteckt haben und das Virus unwissentlich weitertragen, obwohl man getestet wurde.

Die Lage in Deutschland erscheint im Augenblick aber unter Kontrolle.
Ja, wir können sehr froh sein, dass die Maßnahmen gegriffen haben. Es ist gelungen, die erste Welle abzuflachen. Und wir haben ein gutes Gesundheitssystem, das allen Menschen zur Verfügung steht. In den USA sieht das ganz anders aus: Dort haben viele Menschen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Wer seinen Job verliert, der verliert meistens seine Krankenversicherung. Ich denke, vielen wird jetzt erst klar, wie gut wir in Deutschland aufgestellt sind. Das gilt auch für andere Bereiche, zum Beispiel unser Bankenwesen mit Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Das hat uns in der Weltwirtschaftskrise 2009 mit gerettet. Die Lehre war, dieses System mit Nachdruck zu erhalten. Sparkassen und Volksbanken machen das Geschäft mit den echten Menschen vor Ort und sind auch in dieser Krise für viele regionale Unternehmen Partner.

Wann haben Sie zum ersten Mal von Corona gehört und wie ist es dann weitergegangen?
Ich habe, wie wohl die meisten, im letzten Jahr irgendwann im Dezember nebenbei von einem Virus in China gehört. Da ging es um den Tiermarkt in Wuhan – das war sehr weit weg. Näher dran war dann der erste Fall in Bayern. Aber das war für mich ebenfalls ein lokales Geschehen und der Infektionsweg war nachvollziehbar, weil es einen direkten Kontakt zu China gab. Ich habe das noch nicht als bedrohlich wahrgenommen. Als dann die Nachrichten aus Italien kamen, hat uns das allerdings alarmiert. Wir haben auf der Ebene des Gesundheitsamtes einen Krisenstab gebildet und diskutiert, was vorzubereiten ist. Ganz konkret wurde es am 29. Februar, ein Samstag. Ich wurde am Nachmittag telefonisch über den ersten Corona-Fall in der Region informiert. Wir haben noch am selben Abend den Krisenstab zusammengerufen und uns an dem Samstag um 20.30 Uhr hier getroffen.

Und seither ging es bei Ihnen nur noch um Corona?
Ja, das kann man so sagen. Leider. Unser Fall in der Region war gleichzeitig auch der erste in Niedersachsen. Die Umstände waren fast wie im Krimi: Der erste Patient war aus Uetze, ein Italien-Urlauber, wie fast alle Patienten am Anfang. Der Mann war bei seinem Hausarzt im Landkreis Peine in Behandlung. Ergo war die Meldung des Falls an das Gesundheitsamt in Peine gegangen – unser Mitarbeiter, damals noch aus dem Bereitschaftsdienst, konnte den Betroffenen nicht erreichen. Gerettet hat uns der Anruf beim Bürgermeister Werner Backeberg, der hat den Ortsbrandmeister angerufen. Tja, und der wusste sofort, wer der Betroffene war – weil man in einem Dorf weiß, wer gerade in Italien im Urlaub war. Und so erhielten wir auch die Information, dass der Patient in der Woche schon zweimal beim Schützenverein zum Schießen gewesen war und dass noch am selben Abend ein Schützenball stattfinden sollte. Der wurde sofort abgesagt. Wir hatten großes Glück, dass der erste Fall in einem Umfeld auftrat, in dem man sich kennt und in dem ein Feuerwehrmann eingebunden war. Der hat dafür gesorgt, dass der Schützenball abgesagt wurde. Mit Ball hätten wir es in der nächsten Woche mit einer ganz anderen Infektionskette zu tun gehabt.

In den ersten Tagen, bei den ersten Fällen, hat man die Ansteckungswege insgesamt noch sehr gut nachverfolgen können, oder?
Man kann klar sagen, dass Corona seinen Weg mit den Winterurlaubern aus Österreich und Italien nach Deutschland genommen hat. Man konnte ein klares Wohlstandsgefälle erkennen. Es gab gehäuft Corona-Fälle in Gegenden mit hohem Einkommen. Ein weiterer Indikator waren Universitätsstädte, also Studentinnen und Studenten, die ebenfalls besonders mobil sind.

Viele kamen aus Ischgl. Das hätte vermieden werden können.
Ja, und aus meiner Sicht müssen die Verantwortlichen dort wirklich bestraft werden. Sie haben das Risiko, das Virus zu verbreiten, bewusst in Kauf genommen zugunsten wirtschaftlicher Interessen. Sie haben dafür Menschenleben aufs Spiel gesetzt.

Dann sind die Zahlen nach den ersten Fällen sehr rasant gestiegen.
Ja, wir mussten die Arbeit im Gesundheitsamt komplett neu aufstellen. In der Spitze haben dort fast 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gearbeitet – anderen Aufgaben im Gesundheitsamt liefen ja nebenbei weiter. Glücklicherweise ist die Regionsverwaltung groß, so konnten wir flexibel umstrukturieren. Wir haben die Mitarbeiterschaft gefragt, wer bereit ist zu helfen, vor allem bei der Kontaktverfolgung. Das ist ja ein zentraler Punkt, wenn man Infektionsketten unterbrechen will.

Und dann war Ihnen persönlich Corona plötzlich ganz nahe. Belit Onay hatte sich angesteckt.
Ja, und ich bin freiwillig in Quarantäne gegangen. Der Oberbürgermeister und ich hatten an den Kontrollen in der Innenstadt teilgenommen, als die ersten Abstandregelungen inkraft traten. Ich war kein sogenannter K1-Kontakt von Belit Onay, hatte also nicht eine Viertelstunde lang den Abstand von 1,50 Meter unterschritten. Trotzdem war mir das Risiko zu groß, unwissentlich das Virus weiterzutragen. Zudem war ein Foto von uns beiden erschienen, auf dem wir den Mindestabstand – zumindest aus der Perspektive – nicht einhielten. Niemand hätte verstanden, warum ich nicht in Quarantäne muss.

14 Tage Zwangspause?
Eine Pause war das nicht gerade. Ich habe zehn, elf Stunden am Tag telefoniert, mitunter bis 23 Uhr. Aber es war eine spannende Erfahrung: Ich war noch nie 14 Tage am Stück zu Hause, ich bin viel unterwegs. Wobei mir klar ist, dass ich mit einem Haus mit Garten sehr privilegiert bin. Wie ergeht es erst Menschen, die 14 Tage in kleinen Wohnungen festsitzen? Da kann sich schnell Druck aufbauen.
Und Sie haben dann Krisenmanagement per Telefon gemacht?
Ja, die Telefonschaltkonferenzen begleiten mich seitdem. Während meiner Homeoffice-Zeit war auch das Behelfskrankenhaus in der Planung. Da bestand ein großer Entscheidungsbedarf. Hinzu kamen Fragen zur Auslegung der Verordnungen. Was ich als sehr gute Erfahrung verbuche, ist, dass der Großteil der Menschen sehr darum bemüht war und ist, alles richtig zu machen.

Die haben dann angerufen und gefragt?
Ja, sowohl beim Gesundheitsamt als auch beim Bürgertelefon. Es gab sehr spezielle Fragen. Zum Beispiel, als die Friseure wieder öffnen durften. Die Regelung lautet: Kunden dürfen nicht selbst die Haare föhnen. Ein Friseur fragte dann, ob seine Kunden selbst föhnen können, wenn die ihren eigenen Föhn und ihre eigene Bürste mitbringen. Ausgangspunkt für uns ist in solchen Zweifelsfällen der sogenannte Normzweck. Also: Was ist der Zweck der Verordnung, beziehungsweise der Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz? All die Regelungen haben ja zum Ziel, vor Infektionen zu schützen. Wenn jemand seinen eigenen Föhn und seine Bürste mitbringt, besteht keine Gefahr, also ist das erlaubt. Wichtig war in solchen Punkten der Informationsaustausch mit den Ordnungsämtern und der Polizei. Täglich haben hunderte Menschen mit Fragen angerufen, wie welche Regelung zu verstehen ist. 50 bis 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben versucht, kurzfristig Antwort zu geben. Eine echte Herausforderung. Der Katalog, in dem unser Team Medizin und Recht die jeweils aktuellen Regelungen und Auslegungen zusammengefasst hat, war zwischendurch 120 Seiten stark. Bis heute rufen im Gesundheitsamt 300 bis 400 Menschen pro Tag an.

Also war das gesamte Team der Region eingespannt.
Es ist unglaublich, wie engagiert die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren und sind. Auf die Uhr hat niemand geschaut. Ähnlich bei unserem Behelfskrankenhaus: Wir hätten tatsächlich keine vier Wochen nach der ersten Idee starten können. Ich habe mich mal bei einem Trockenbauer bedankt, der an einem Sonntag auf dem Messegelände im Einsatz war. Er sagte, das sei selbstverständlich und er wäre auch umsonst gekommen, wenn er in Kurzarbeit gewesen wäre. Großartig! Dank des unglaublichen Engagements haben wir mit dem Behelfskrankenhaus innerhalb von wenigen Wochen zusätzlichen gesundheitlichen Schutz für 500 Menschen aufbauen können.

Was sagen Sie denn den Kritikern, die jetzt anmerken, dass das viel Geld gekostet hat, aber nicht gebraucht wurde?
Ich bin sehr froh, dass wir das Behelfskrankenhaus nicht gebraucht haben. Denen, die nach den Kosten fragen, stelle ich die Gegenfrage: Was wäre gewesen, wenn wir Menschen nicht vor dem Ersticken hätten bewahren können, aus Mangel an Kapazitäten? Zu Beginn der Krise hat hier niemand voraussagen können, wie sich die Situation entwickelt. Man denke an die Zustände in Italien. Wir haben auch sehr früh die Leitungen aller Kliniken in der Region Hannover an einen Tisch geholt. Dort wurde insbesondere von den Experten der MHH dringend empfohlen, die Kapazitäten zu erhöhen. Es wurde aber auch über die Besuchsregelung diskutiert und schon früh ein Besucherstopp verabredet, bevor er vom Land verordnet wurde – weil alle die Gefahr von Infektionsketten in den Krankenhäusern erkannt haben. Aber die Regelung war nur gemeinsam möglich – ein einzelnes Krankenhaus hätte ein riesiges Akzeptanzproblem gehabt.

Wie hat die Region mit der Versorgung von Schutzmitteln geholfen?
Die Beschaffung von Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln war abenteuerlich. Die Materialien werden ja normalerweise nicht in Deutschland produziert, zumindest nicht in großen Mengen. Da konnte es passieren, dass die Lieferung vereinbart war, und am nächsten Tag wurde das Doppelte verlangt. Darauf haben wir uns dann nicht eingelassen. Aber die Preise sind natürlich nach oben geschossen – ein Blick in die Abgründe der Marktwirtschaft. Trotzdem es ist gelungen, über unterschiedliche Drähte und Kontakte, für Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste Schutzmittel zu besorgen. Einen Teil mussten wir auch für das Behelfskrankenhaus beschaffen. Wenn man einen voll ausgelasteten Betrieb mit vier Schichten kalkuliert, braucht man pro Tag 5.000 Schutzanzüge.
Das mit der Verdopplung der Preise klingt schon ziemlich kriminell.
Auf krumme Geschäfte haben wie uns nicht eingelassen, aber manchmal waren die Wege schon unkonventionell. Der Schutz der Bevölkerung hatte oberste Priorität.

Pragmatisches Improvisieren, kann man das so umschreiben?
Das trifft es ganz gut. Ich bin froh, dass sich die Region in dieser Krise bewährt hat. Dank der Größe und der Kompetenzen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten wir schnell handeln. Natürlich findet man immer etwas, was noch besser laufen könnte. Aber insgesamt bin ich zufrieden und haben große Hochachtung vor dem Geleisteten.

Die Regionsverwaltung ist recht flexibel aufgestellt, oder? Die Hierarchien sind eher flach.
Die Regionsverwaltung arbeitet mit Zielvereinbarungen. Wir vereinbaren, was erreicht werden soll. Bei der Umsetzung bekommen die Einheiten möglichst viel Freiraum; die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind fachlich die Expertinnen und Experten. Ich bin nicht immer mit allem einverstanden, versuche aber, selten einzugreifen. Man muss andere Vorstellungen aushalten können und sich im Zweifel auch vor die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellen. Natürlich gibt es auch Zielkonflikte, zum Beispiel zwischen den Interessen der Wirtschaftsförderung und des Naturschutzes. Dann muss man gemeinsam an Lösungen arbeiten. Um diese Kultur zu leben, gibt es verpflichtende Schulungen und einen fest verankerten, institutionalisierten Austausch. Es ist toll, wie viele unterschiedliche Kompetenzen in dieser Verwaltung vorhanden sind – mehr als 100 Berufe. Der alte Verwaltungsgrundsatz „Das ist meins, und da lasse ich keinen reingucken!“ hat bei uns hoffentlich ausgedient.

Bei der Region ist Denken und Mitdenken also ausdrücklich erlaubt.
Natürlich, und das hat sich vor allem jetzt in der Krise bewährt.

Ist Ihnen während der Krise ein Projekt besonders ans Herz gewachsen?
Ja, die Unterbringung von rund 100 Wohnungslosen in der Jugendherberge, ein gemeinsames Projekt von Region, Stadt Hannover und Land. Das Projekt war von einigen Befürchtungen und Vorurteilen begleitet: Gehen diese Gäste mit den Zimmern pfleglich um? Einige der Wohnungslosen hatten nach zehn Jahren zum ersten Mal wieder einen eigenen Raum, in den sie sich zurückziehen können. Nach wenigen Tagen haben einige gefragt, ob sie etwas tun können, sie wollten sich bedanken. Das Projekt ist ein Impuls für uns, über die Unterbringung von Wohnungslosen neu nachzudenken. Ich bin überzeugt davon, dass wir Wohnungslosen eine würdige Chance geben und Perspektiven eröffnen müssen, zurück in ein Leben mit eigenem Wohnraum zu finden. Auch die Zusammenarbeit von Diakonie und Caritas hat gut funktionieren.

Stichwort Homeoffice, was haben Sie für Erfahrungen gemacht?
Innerhalb weniger Tage waren die technischen Voraussetzungen geschaffen, damit 1000 Menschen zusätzlich von zu Hause arbeiten konnten. Es ist bemerkenswert, wie schnell etwas geht, wenn man die Bürokratie weglässt. Normalerweise hätten wir für die Veränderungen, die wir jetzt in acht bis zwölf Wochen erlebt haben, wahrscheinlich fünf Jahre gebraucht. Ich denke, hier hat Corona positive Entwicklungen angestoßen. Ich persönlich habe gelernt, dass ich stellenweise mehr loslassen kann und sollte. Agilität funktioniert nur, wenn wir uns von unserem Sicherheitsdenken verabschieden.

Was vermissen Sie in diesen Zeiten am meisten?
Meiner Frau und mir fehlt die Kultur. Ohne Theater, ohne Konzerte, ohne Musik – das ist fürchterlich. Aber das Team Kultur hat jetzt viel auf den Weg gebracht. Stefanie Schulz und Sandra van de Loo haben zum Kultursommer ein tolles Programm auf die Beine gestellt. Das fühlt sich dann fast schon nach Normalität an.

Gibt es noch Themen, die Sie in diesen Corona-Zeiten besonders problematisch finden?
Große Sorgen mache ich mir um die Kinder und Jugendlichen. Die Situation ist nicht so dramatisch, wenn Eltern sich kümmern. Aber es gibt viele Kinder und Jugendliche ohne Unterstützung zu Hause, die massiv benachteiligt sind.

Was würden Sie sagen, in welcher Phase der Corona-Krise befinden wir uns momentan?
Ich empfinde die Zeit momentan als eine Art Verschnaufpause. Wir müssen jetzt Normalität mit Abstand einüben, ohne übermütig zu werden. Niemand weiß, was im Herbst sein wird. Jetzt haben wir die Chance zu prüfen, welche Maßnahmen welche Folgen haben – gesundheitlich, aber auch wirtschaftlich. Ein wenig zuversichtlich stimmt mich, wenn ich höre, dass der Konsum wieder anzieht. Auf eine mögliche zweite Welle sind wir jetzt besser vorbereitet, weil die Strukturen stehen. Das gibt uns eine gewisse Sicherheit für die Zeit, bis ein Impfstoff entwickelt ist.

Gibt es so ganz grundsätzliche Lehren, die Sie aus dieser Krise ziehen?
Ich denke, wir haben alle einen neuen Blickwinkel auf das, was wirklich wichtig ist. Aus meiner Sicht gehört dazu das Thema Bildung, damit die jungen Menschen weiterhin eine Perspektive haben. Zweiter Punkt ist für mich der Klimaschutz – das können wir nicht mal eben 20 Jahre verschieben. Gleichzeitig wissen wir, dass wir in den nächsten Jahren als öffentliche Verwaltung weniger Geld zur Verfügung haben werden. Das wird eine spannende und notwendige politische Debatte, worauf wir künftig verzichten wollen und wo wir Standards absenken. Eine Lehre aus der Krise ist aber auch, dass wir aufpassen müssen, dass Veränderungen nicht zu Lasten der Frauen gehen. Es darf nicht sein, dass Frauen künftig wieder zu Hause bleiben, dort arbeiten und die Kinder betreuen, während die Männer zur Arbeit gehen.

Was meinen Sie, wird Corona auch zu einer neuen Solidarität führen?
Ja, im Sinne eines größeren Bewusstseins für das lokale Angebot – zum Beispiel beim Einkaufen. Die unmittelbare Umgebung wird wieder wichtiger. Und es entwickelt sich vielleicht ein neuer Anspruch bei den Themen Gerechtigkeit und Fairness.

Und wie geht man mit all den Weltverschwörungstheoretikern um?
Wir leben in einer aufgeklärten Welt, fast alle Informationen sind für jedermann zugänglich. Das ist Risiko und Chance zugleich.  Die Verschwörungstheorien machen mich fassungslos. Dazu kommt die Verquickung mit Rechtspopulismus, der Ängste schürt. Populisten leben von der Angst und brauchen die Missgunst für ihren Erfolg. Die dahinterstehenden Strategen sind nicht naiv, sondern handeln gezielt, um unsere Demokratie zu schwächen. Mir scheint, Schutz vor diesem Irrsinn bieten nur Bildung und die Fähigkeit, selbst zu denken. Dazu gehört eine gute Medienbildung. Wir müssen gemeinsam gegen die Angstmacher und Verschwörungstheoretiker arbeiten.

Lars Kompa

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Ein letztes Wort im Juli

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Ein letztes Wort im Juli


Herr Weil, wir müssen kurz darüber sprechen, dass es mit der Prämie für besonders ökologische Benziner und Diesel, die Sie gefordert haben, nun nicht funktioniert hat.
Ja, in diesem Punkt waren die Berliner Beschlüsse aus meiner Sicht alles andere als vernünftig. Aber jetzt sind die Würfel gefallen und eine solche Diskussion darf man auch nicht ewig weiterführen. Solange noch über etwaige Prämien gesprochen wird, halten die Käufer sich noch mehr zurück. Also, Haken dran. Aber das Problem bleibt leider trotzdem. Sorgen bereiten mir nämlich nicht in erster Linie die großen Hersteller, also zum Beispiel Volkswagen. Das sind ja starke und auch widerstandsfähige Unternehmen. In immer größere Schwierigkeiten geraten aber viele kleine und mittlere Zuliefer-Unternehmen, die wir in Deutschland und insbesondere in Niedersachsen haben. Seit drei Monaten werden kaum noch Autos verkauft und das merken gerade solche Unternehmen. Deswegen brauchen wir eine Ankurbelung des Marktes dringend. Am Ende geht es auch in Niedersachsen um viele Tausend Arbeitsplätze, die genauso viel Engagement erwarten dürfen, wie es für andere Branchen gezeigt wird.

Sie haben ja sehr viel persönlichen Kontakt zu den Unternehmerinnen und Unternehmern, nicht nur in dieser Branche. Vielleicht berichten Sie mal von Ihren Erfahrungen und Eindrücken. Ich kann mich erinnern, dass Sie vor einigen Wochen von gestandenen Unternehmern erzählt haben, die am Telefon furchtbar verzweifelt waren.
Das waren Reaktionen aus den ersten Tagen nach dem Lockdown, als wir reihenweise Geschäfte dichtgemacht haben. So manches Unternehmen stand von heute auf morgen ohne jede Einnahme da. In dieser ersten Phase haben sich viele Unternehmerinnen und Unternehmer wie im falschen Film gefühlt, wie in einem Alptraum. Die Sofortprogramme, die dann ja sehr schnell installiert worden sind, haben die Verluste sicherlich ein wenig lindern können, aber unterm Strich blieben doch erhebliche Einbußen. Das Problem in der Zuliefer-Industrie ist nochmal ein anderes. Der Automarkt ist ja – wie gesagt –  seit drei Monaten nicht mehr derselbe, die Nachfrage ist leider fast vollständig eingebrochen. Es kommt hinzu, dass viele Unternehmen aus diesem Bereich bereits angeschlagen in die Krise hineingegangen sind. Abgesehen davon, dass sie in den vergangenen Jahren schwierige Marktverhältnisse hatten, mussten sie auch teilweise hohe Investitionen tätigen im Zusammenhang mit dem Thema Klimaschutz. Und ebenso wie beim menschlichen Organismus machen auch bei Unternehmen etwaige Vorerkrankungen, also insbesondere eine Finanzschwäche, das Ganze noch einmal viel gefährlicher. Das ist derzeit meine große Sorge.

Und Sie haben tatsächlich schlimmste Befürchtungen?
Wie groß das Ausmaß sein wird, kann Ihnen so genau natürlich keiner sagen, aber die IG Metall hat auf Bundesebene ganz grob von etwa 150.000 Arbeitsplätzen gesprochen, die verloren gehen könnten. Und bei NiedersachsenMetall, dem Arbeitgeberverband hier in Niedersachsen, spricht man über gefährdete Arbeitsplätze im fünfstelligen Bereich. Das sind alles qualifizierte Arbeitsplätze, tarifliche Arbeitsplätze. Wir müssen wirklich verhindern, dass die Wertschöpfungsketten in der Großindustrie nicht kaputt gehen. Wir haben in Deutschland bisher den enormen Vorteil, viele starke Industriezweige im eigenen Land zu haben. Das sollten wir nicht aufs Spiel setzen, da müssen wir sehr genau hinsehen. Insofern hätte ich mir auch bei der Frage der Prämie einen längeren Blick und eine offenere Haltung gewünscht. Aber wie gesagt: Das Thema ist nun durch.

Sie hatten ja so einen Kompromiss im Kopf, zwei weitere Jahre gibt man noch den Benzinern, um für die gesamte Branche ein bisschen Zeit zu gewinnen …
Ja, wir sprechen über die größte deutsche Industrie, die sich in einem dringend notwendigen Umbauprozess in Richtung Klimaschutz befindet. Diesen Kurs unterstütze ich auch persönlich sehr stark. Aber letztlich ist es wie bei einem sehr großen Tanker, der zwar seinen Kurs ändern kann, dann aber seine Zeit braucht bis er wieder mit guter Geschwindigkeit auf neuem Kurs fährt. Und diese Zeit muss man dem Tanker geben, sonst kommt man nicht ans Ziel. So ist es auch mit der Industriepolitik in Sachen Automobilwirtschaft.

Man hat aus Ihrer Sicht also eher nach dem gegenwärtigen Zeitgeist entschieden, nach der Stimmung in der Öffentlichkeit?
Für mich ist es ein ganz wichtiges Thema, Arbeitsplätze zu erhalten. Darum brauchen wir gute und kluge Kompromisse. Und wenn ich mir das jetzt anschaue und sehe, dass man sich in vielen Bereichen allergrößte Mühe gegeben hat, Unternehmen zu retten und Jobs zu erhalten, dann frage ich mich, warum das im Bereich der Automobilwirtschaft nur sehr verhalten geschieht.

Es gab ja einige Parteien und auch Organisationen oder Bewegungen wie Fridays vor Future, die diese Entscheidung gegen Prämien sehr begrüßt haben. Da gab es lauten Beifall und auch Genugtuung. Mir scheinen die Gräben sehr tief. Wie könnte man denn diese Gräben wieder ein bisschen mehr zuschütten?
Indem man sich gegenseitig zuhört und den notwendigen Diskussionen angemessen Zeit und Raum gibt. Es gibt Themen, die lassen sich nicht auf zwei Hauptsätze herunterbrechen. Leider werden aber viele Themen in den politischen Diskussionen zu stark verkürzt. Industriepolitische Entwicklungen sind schwierig und komplex und wenn man versucht, es sich damit ganz ganz einfach zu machen, dann macht man im Zweifel einen Fehler. In der Automobilwirtschaft sind ganz ohne Frage in der Vergangenheit sehr viele Fehler gemacht worden und wir könnten schon wesentlich weiter sein mit dem Umbau. Aber der jetzt eingeschlagene Kurs ist vernünftig und nachhaltig. Ich hätte mir gewünscht, dass man gerade die Zulieferunternehmen in dieser Krise unterstützt.

Ich habe den Eindruck, wir leben mehr und mehr in einer Zeit, in der es ständig darum geht, sich auf die vermeintlich richtige Seite zu schlagen, um dann Feuer frei zu geben auf die andere Seite. Gibt es so eine neue Sehnsucht, die Dinge mal schnell in Ordnung bringen zu wollen?
Wenn es diese Sehnsucht gibt, dann ist zunächst nichts dagegen einzuwenden. Es ist ja durchaus positiv, etwas in Ordnung bringen zu wollen. Und auch Stellung zu beziehen, eine Meinung zu haben und zu vertreten, auch öffentlich. Davon lebt unsere Demokratie. Aber wir leben tatsächlich in einer Zeit gefährlicher Vereinfachungen. Das geht, um bei unserem Thema zu bleiben, dann so: „Wenn wir jetzt auf Elektroautos umsteigen, dann sollen auch nur die gefördert werden, dann darf es kein Geld mehr für die Verbrenner geben.“ Das klingt auf den ersten Blick plausibel. Die Krux an der Sache ist nur, dass sich die Automobilindustrie gerade jetzt in einer anspruchsvollen Umbauphase befindet, was man sich übrigens in Hannover in Stöcken gut sehen kann. Der Prozess ist in vollem Gange, aber die E-Autos, die wir jetzt alle wollen, die gibt es momentan noch nicht. Sie werden kommen, im Laufe dieses Jahres, im Laufe des kommenden Jahres. Und man kann nicht all den Menschen, die momentan noch am Verbrennungsmotor arbeiten, sagen, sorry, für euch ist jetzt kein Platz mehr. Das sind nach wie vor im Augenblick noch 90 Prozent der Beschäftigten in dieser Industriesparte. Diese Menschen brauchen eine Perspektive und das verdient mindestens eine Abwägung mit dem Aspekt des Klimaschutzes. Diese Abwägung ist nicht nur in zwei Hauptsätzen möglich und sie ist in diesem Fall wesentlich zu kurz gekommen.

 Interview: Lars Kompa

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Tobias Kopke vom Vermehrungsgarten Hannover

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Tobias Kopke vom Vermehrungsgarten Hannover


Wer kennt den Guten Heinrich und weiß, dass die Goldforelle nicht unbedingt ein Fisch ist? Kaum jemand, denn der Wunsch nach ständiger Verfügbarkeit und die industrialisierte Herstellung von Lebensmitteln haben dazu geführt, dass durch Normierungen die Vielfalt der Nutzpflanzen auf einen Bruchteil der noch vor 80 Jahren verfügbaren Sorten zusammengeschrumpft ist. Dem Erhalt dieser alten Sorten hat sich der Vermehrungsgarten in Hannover-Ricklingen verschrieben, wo sich ehrenamtliche MitarbeiterInnen unter der fachkundigen Leitung von Kornelia Stock um den Betrieb des Schau- und Lerngartens kümmern. Einer von ihnen ist Tobias Kopke.

Zunächst einmal die Auflösung: Der grüne Heinrich ist eine Spinatsorte und die Goldforelle ein Kopfsalat. Diese – und alle anderen Gemüsepflanzen – wollen gehegt, gepflegt, und in dieser Jahreszeit vor allem bewässert werden. Tobias Kopke, der seit einem halben Jahr zum Team gehört, ist gerade an einer Pumpe damit beschäftigt, einen großen Kübel mit Gießwasser zu füllen.
Nachdem er sechs Jahre lang seine Mutter gepflegt hat, zeichnete sich ab, dass der Mediengestalter in seinem alten Beruf nicht wieder Fuß fassen können würde. Psychisch war das alles sehr belastend. Um sich selbst aus dem Tief zu befreien, kam Kopke die Idee, sich ehrenamtlich zu engagieren und auszuprobieren. So konnte er Sinnvolles tun, ohne gleich dem Druck eines regulären Arbeitsverhältnisses ausgesetzt zu sein. Verschiedene Angebote sprachen ihn an und er legte gleich los: Im Kulturzentrum „Bauhof Hemmingen“ füllte er Getränkevorräte auf, in einem Altenpflegeheim in Badenstedt beseitigte er im Herbst Laub und in einem Pflegeheim in Ricklingen betreute er zweimal wöchentlich Demenzkranke. Er brachte seine Gitarre mit und spielt ihnen vor, Volkslieder, oder – was ihm viel mehr liegt, Songs der Beatles. Wegen der Corona-Pandemie liegen diese drei Jobs auf Eis und Tobias Kopke ist froh über sein viertes Engagement im Vermehrungsgarten. Er ist gern in der Natur und mag die körperliche Arbeit an der frischen Luft, gerade als Kontrast zu seinem Engagement im Pflegeheim.
Das Konzept des Gartens, alte Gemüsesorten für die Nachwelt zu erhalten und so auch einen Beitrag zur Biodiversität zu leisten, war erst einmal neu für ihn, genau wie das Gärtnern überhaupt, aber sehr interessant. Er lernt gerne dazu. Zum Beispiel dürfen die Blätter von Tomatenpflanzen beim Gießen nicht nass werden, weil sie sonst leicht von Pilzen befallen werden.
Im Garten seines Bruders, wo er auch Kartoffeln und Tomaten zieht, kann er sein Wissen jetzt anwenden. „Von Frühling bis Herbst ist immer was zu tun“, so Kopke, und auch das Schleppen der vollen Gießkannen macht ihm nichts aus. Immerhin die Pumparbeit soll in Zukunft durch einen solarbetriebenen Brunnen erledigt werden, der demnächst in Betrieb genommen wird.
Wenn von der Ernte etwas übrig ist, dürfen die Freiwilligen natürlich auch Gemüse mit nach Hause nehmen. Im Vordergrund steht aber die Gewinnung von Saatgut. Welche Arten dafür angepflanzt werden, entscheidet Kornelia Stock. Meist sind es alte Hausgartensorten, die in unserem Klima gut gedeihen. Diese Sorten haben oft Eigenschaften, die perfekt für den eigenen Garten, aber eben nicht für einen Anbau im großen Stil geeignet sind. Ein Beispiel dafür sind Salatsorten, die über einen längeren Zeitraum geerntet werden können. Ein wichtiges Kriterium ist die Samenfestigkeit, das heißt, das aus dem Saatgut dieselbe Pflanze hervorgeht. Das ist bei modernem, für die Massenproduktion erzeugtem Saatgut häufig nicht der Fall. Hier werden durch Kreuzung Hybridpflanzen mit bestimmten Eigenschaften erzeugt, deren Samen für die Nachzucht ungeeignet sind.
Im Vermehrungsgarten werden die Sorten beschrieben, damit nachvollziehbar ist, welche Eigenschaften Pflanzen und Früchte haben. Das Saatgut wird gereinigt und im Rahmen der jährlich stattfindenden Saatgutbörsen unter die Leute gebracht. Ein Insektenhotel beherbergt Wildbienen, und auch ein Honigbienenvolk gehört zum Garten.
Vor der Pandemie war die Mitarbeit im Garten noch so organisiert, dass zu den festen Terminen am Dienstag und Sonntag ab 14 Uhr einfach kommen konnte, wer Lust und Zeit hatte. Ganz so spontan geht das zurzeit nicht mehr. Um Sicherheitsabstände gewährleisten zu können, wird mit einem festen Stamm von etwa zehn Leuten gearbeitet, die, wie Tobias Kopke, regelmäßig kommen, und nicht jedes Mal aufs Neue eingearbeitet werden müssen. Wenn die HobbygärtnerInnen um 14 Uhr eintreffen, wird kurz besprochen, wer an diesem Tag was übernimmt, es gibt keine festen Parzellen oder Spezialisten für bestimmte Pflanzen, sondern jeder kümmert sich im Prinzip um alles, sei es der Gute Heinrich oder die Goldforelle.

Für Führungen mit begrenzter Teilnehmerzahl kann man sich unter vermehrungsgarten@htp-tel.de anmelden. Am Tag der Führung besteht die Möglichkeit, Honig oder Pflanzen zu erwerben.

www.vermehrungsgarten.de

Annika Bachem

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Högers 1910

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Högers 1910


Was für ein Schmuckstück: Die denkmalgeschützten Grundmauern des Högers wurden in den Zwanzigerjahren vom Architekten Fritz Höger gelegt. Vor dem Weltkrieg, in dem das Innere des Hauses ausbrannte, befand sich hier das „Restaurant am Stephansplatz“. Höger wandte sich nach kleineren Bauten ab 1910 dem Kontorhausbau zu (daher der Zusatz „anno 1910“ für die heutige Gastronomie), der wohl bekannteste seiner Bauten in Hannover ist das „Anzeiger Hochhaus“ von 1927. Bis 2005 war das Autohaus Günther Hauptmieter seines dekorativen Klinkerbaus am Stephansplatz, nach zweijähriger Umbauphase feierte das Restaurant Högers Eröffnung. Hier wird im bestechenden Wiener-Kaffeehaus-Ambiente traditionelle deutsche Küche geschickt mit kleinen Ideen verfeinert, ohne am Klassiker vorbei- und über den Tellerrand hinauszugaloppieren.

Die Kaffeehaus-Einrichtung schmeichelt dem Auge mit ihrem Farbkonzept von grünen italienischen Marmortischplatten über gepolsterte antike Stühle und viele naturbelassene Holzoberflächen, ergänzt durch stilistischen Augenschmaus in Form von original Deckenlampen im Stil des Art déco und smaragdgrünen Jugendstil-Fliesenarbeiten. Eine Schiebetür trennt ein Kaminzimmer mit freiliegenden Backsteinmauern ab, wo bis zu 14 Personen privat oder geschäftlich dinieren können (weswegen auch der Flatscreen an der Wand entschuldigt ist, stilbrüchig bleibt nur der Teppich auf dem Holzboden und Kitsch wie der alberne Geweih-Lüster über dem Tisch). Eine erhöhte Galerie für 35 Personen bietet Durchblick zur Haupttheke sowie separate Buffet- und Multimedia-Möglichkeiten. Besonders stolz ist das Team allerdings nicht nur auf die äußerlichen Vorzüge des Högers sondern auf die Frische und Güte dessen, was hier auf die Teller kommt, vor allem auf Fleischprodukte aus der Eiderstädter Region in Nordfriesland.
Die Qual der Vorspeisenwahl umgehen wir, indem wir die Bunte Tüte (für 20,90 Euro) nehmen, und freuen uns an gezupftem Kuhmilchkäse vor der intensiv köstlichen Kulisse von lauwarmem Linsen-Apfelragout sowie Roastbeef mit Remoulade (die Farbe der Saison ist hiermit bereits gefunden und der Preis für das schönste Zartrosa vergeben). Einzig die Blutwurst – mit Jus und Sellerie ansonsten gut gemacht – ist einen Tick zu lange gebraten, doch das in Knoblauchöl geröstete Gaues-Graubrot, der spitzenmäßige Gurkensalat und der sahnige Schnittlauch-Frischkäseaufstrich lassen nur eine uneingeschränkte Empfehlung für die kommenden Sommermonate zu.
Auf der weitläufigen Sonnenterrasse bietet sich, umgeben von Steinmauern, Olivenbäumen und blühenden Pflanzenkübeln, die Caesar-Salat-Stulle als Snack für den lauen Abend an, nachmittags belgische Waffeln, selbstgemachtes Eis und Kuchen aus der Konditorei Mönickes zum Heißgetränk der Kaffeemanufaktur Heimbs. Angesichts von Regenwetter und Mittagszeit wählen wir heute aber zwei Hauptgerichte aus Högers Heimatküche und geraten in Verzückung über das deliziöse Stillleben „Lamm im Kräuterbeet“: Zwei friesländische Deichlamm-Würste ruhen mit geschmorten Honig-Zwiebeln auf Kartoffelstampf mit reichlich zerlassener Butter und krauser Petersilie neben frischen Kopfsalaten, Rucola und Radieschen (für 14,90 Euro). Zum Rinderschmorbraten, zeitaufwendig löffelzart geschmorter Schaufelbug aus dem Ofen, schmeckt mit Röstgemüse und Rosmarinjus (für 15,90 Euro) ein Gläschen weißer Hauswein. Wer es lieber veggie möchte, kann sich an vollmundigen Senfeiern oder schmackhaft gerahmten Pilzen satt essen, bald können eventuell auch die beliebten Käse-und-Wein-Abende wieder stattfinden, und spätestens zum Oktoberfest (oder ersatzweise) könnte es wieder ein deftiges Jahreszeiten-„HöSpecial“ geben. So lange werden wir mit einem erneuten Besuch aber bestimmt nicht warten!
Anke Wittkopp

Oesterleystraße 5 – 7
30171 Hannover
Tel. 0511 – 51 06 425
www.hoegers1910.de

Öffnungszeiten Mo – Sa 12 – 23 Uhr So 12 – 21 Uhr

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Tonträger im Juli

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Tonträger im Juli


Lucy And The Rats: Got Lucky
Surfiger Garage-Gitarrenpunkrockpop mit 60er-Jahre-Einschlag mit wunderbarem Harmoniegesang und reichlich whoawhoawhoo liefert die aus Australien stammende Lucy Spazzy mit ihren drei Londoner Kollegen (die Ratten?) auch auf ihrem zweiten Album. Surfer-Gitarren und vor allem Lucys klare, zarte Stimme prägen den Sound, der eindeutig verortet ist im Kielwasser der Ramones.

 

 

 

Soko: Feel Feelings
Das dritte Studioalbum der französischen, in den USA lebenden Sängerin, Multiinstrumentalistin und Schauspielerin Stéphanie Sokolinski schillert über seinem entspannt-unterschwellig melancholischen Grundton in allen Regenbogenfarben. Glasklare Shoegaze-Gitarren, melodische Bassarbeit und träumerischer, süßlicher, aber nicht überzuckerter Gesang werden vielschichtig locker übereinander geworfen.

 

 

 

Smoove & Turrell: Stratos Bleu
DJ und Produzent Jonathan Scott Watson und Sänger/Songwriter John Turrell aus Gateshead im Nordosten Englands nennen ihren Stil, eine Fusion aus Funk, Soul, Hiphop und Electronica, „Northern Funk“. Sie verschmelzen auf ihrem 6. Studioalbum Einflüsse der Musik ihrer Jugend wie Massive Attack, Inner City oder Kruder & Dorfmeister mit Drum & Bass-gewürztem Dancefloor.

 

 

 

 

Hania Rani: Home
Weniger minimalistisch als sein Vorgänger „Esja“ zeigt das zweite Album der in Danzig geborenen, zeitweise in Berlin lebenden Pianistin und Komponistin klanglich eine größere Bandbreite, entstand es doch in Zusammenarbeit mit ihrer neuen Band. So setzt Rani nicht nur auf ihren ätherischen Gesang und elektronische Elemente, sondern wird auf einigen Tracks von Schlagzeug und Bass unterstützt.

 

 

 

Long Distance Calling: How Do We Want To Live?
Die vier Münsteraner gelten als international erfolgreichste deutsche Instrumental-Rockband. Detailreich verweben sie auf ihrem 7. Album Elektronisches mit dem klassischen Rockband-Instrumentarium. Dass das eine mit dem anderen so ein perfektes Amalgam bildet, ist vielleicht die eigentliche Stärke der Band, die Wohlmeinende gern als „Pink Floyd von heute“ bezeichnen.

 

 

 

 

Thomas Azier: Love, Disorderly
Das vierte Album des niederländischen Avant-Pop-Songwriters und Produzenten, bekannt auch durch seine Zusammenarbeit mit Größen wie Stromae oder Casper, kommt breitwandig und  mit düsteren, oft von Streichern getragenen Harmonien daher. Deutlich weniger poppig als bisher, setzt er auf pointierte Dissonanzen als Gegenpol zu seiner weiterhin wunderschönen Tenorstimme.

 

 

 

Haken: Virus
Der Name sei purer Zufall, so Ross Jennings, Sänger der Londoner Progressive-Metal-Band, man hätte ihn niemals gewählt, hätte man geahnt, dass das Album in Zeiten einer Pandemie herauskommen würde. Das sechste Album der 2007 gegründeten, mit dem Prog-Award ausgezeichneten Band setzt das Konzept des Vorgängers „Vector“ fort, funktioniert aber völlig für sich allein. Eine knackige, wirbelnde und rhythmisch vertrackte Härte steht hier, wie gleich im Opener „Prosthetic“, im Vordergrund, wird aber immer wieder von ruhigen, kontemplativen Momenten durchbrochen. Jennings weiche, glockenhelle Stimme verbindet beides auf das Allerschönste. Der Kern des Albums ist das 5-Tracks-Opus „Messiah Complex“ – voller Anspielungen auf das 2013er Album „The Mountain“ mit dem Bohemian Rhapsody-verdächtigen „The Cockroach King“. Geplant ist, „The Vector“ und „The Virus“ zusammen auf die Bühne zu bringen.

 

The Haggis Horns: Stand Up For Love
Für Freunde von klassischen US-Soulfunk-Alben der Siebzigerjahre ist das fünfte Album der siebenköpfigen Soul-, Funk, Jazz-Afrobeat-Band aus dem nordenglischen Leeds ein echter Leckerbissen. Ausgezeichnete Musiker sind hier am Werk, denen die neun Bläser-Sektion-getriebenen Soul-, Funk, Jazz-, Deep Funk- und Groove-Stücke genug Freiraum dafür lassen, sich als Solisten zu zeigen, ohne dass das zum Selbstzweck würde. Ungewohnt gesangslastig ist das Werk: Auf sieben der Tracks ist der aus dem Debütalbum „Hot Damn” von 2007 bekannte John McCallum zu hören, so auch auf dem eher untypischen Reggae-Titelstück „Stand Up For Love”. Und warum Haggis? Drei der Bandmitglieder sind Schotten, und dass das auch allen anderen als Begründung vollkommen ausreicht, zeigt eine sympathische Lässigkeit, die als Unterton in allen Songs hörbar mitschwingt.
                                                                                                                                                                         Annika Bachem

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