Tag Archive | "2021-07"

Tonträger im Juli

Tags:

Tonträger im Juli


Fargo: Strangers D’Amour
1973 von Peter Knorn gegründet und 2016 vom selbigen wiederbelebt, verkörpern die Handlungen und Wandlungen dieser Band ein echtes Stück hannoverscher Rockgeschichte (geschätzt 50 %). „Strangers D’Amour“, die Frucht der aktuellen Dreierbeziehung aus Peter Knorn, Peter Ladwig und Nikolas Fritz, bedient Fans von klassischem, gitarrenlastigem Rock perfekt, mit Kirsche in Form einer bluesigen Ballade obendrauf.

 

 

 

 

WNU: WNU
Wilson Novitzki an der Gitarre, Nils Schumacher am Bass und Uli Hoffmann am Schlagzeug spielen seit 2018 zusammen und das Spielen ist hier in zappaesker Manier ganz wörtlich zu nehmen. Dem vor allem dem „Galeria Lunar goes Underground“-Publikum bekannten Jazz-Trio aus Hannover ist es gelungen, die explosive Energie und die wilde Improvisationslust ihrer Auftritte in acht Tracks zu pressen.

 

 

 

 

 

The Bamboos: Hard Up
Die im Jahr 2000 im australischen Melbourne gegründete Funk-Soul-Band um die phänomenale Sängerin Kylie Auldist liefert mit ihrem 10. Album einmal wieder einen klassischen Retro-Sound ab, der dem authentischen Soul huldigt, ohne sich zeitgenössischen Einflüssen zu verschließen. Einen witzigen Schlusspunkt setzt die Coverversion des Househits „Ride On Time“ von Black Box.

 

 

 

 

 

Fritzi Erst: Keine Termine
Nach der Auflösung ihrer Hamburger Band Schnipo Schranke 2019 musste sie sich erst einmal ein bisschen berappeln und absolvierte eine Klavierbau-Ausbildung. Das Klavier ist stets präsent auf diesem schönen Solo-Debüt, das, recht minimalistisch arrangiert, den rotzig-intelligenten Texten eine perfekte Bühne bietet. Produziert gemeinsam mit Ted Gaier von den Goldenen Zitronen.

 

 

 

 

 

Eloise: Somewhere In Between
Spart man sich bei diesem jungen britisch-französischen Riesentalent den Billie Eilish-Vergleich, stünde er als Elefant im Raum. Der große, Grammy-überhäufte Star outete sich sogar schon als Fan und coverte den Elois-Song „Left Side“ bei Instagram. Das aktuelle 9-Tracks-Album ist von einer wunderbaren Leichtigkeit, voller groovigem Soul und, pardon my french, saucool.

 

 

 

 

 

Vilnes: Back To The Start
Auf seinem kurzen Debütalbum serviert der junge Norweger mit müheloser Leichtigkeit und ebenso prägnanter wie wandelbarer Stimme zunächst angejazzten Pop, dann Blues und schließlich, im finalen sechsten Song hängt der Himmel voller Geigen. Mit einer gut verdaulichen Dosis Bombast und so schön, dass die Entscheidung, an dieser Stelle Schluss zu machen, definitiv die Richtige ist.

 

 

 

 

 

Wolf Alice: Blue Weekend
2010 als Akustik-Duo von Sängerin und Gitarristin Ellie Rowsell und Gitarrist Joff Oddie gegründet, wurde die Band bald um Bassistin und Schlagzeuger erweitert. Nachdem ihr Album „Visions of Life“ von 2018 den Mercury Prize gewann, der als Independent-Gegenstück zu den BRIT Awards gilt, dürfte „Blue Weekend“ mit einiger Spannung erwartet werden. Musikalisch vereint das Quartett folkig-poppigen Sound mit Rock-Elementen und wurde vom britischen Clash-Magazine treffend als „Wunschkind von Grunge und Folk“ bezeichnet. Klassisches Songwriting, atmosphärisch dicht gewobene Soundteppiche aus folkigem Chorgesang und eingängige Refrains fundamentieren hier den Grund, auf dem auch richtig gerockt und sogar gerappt werden kann. Die erste Single „The Last Man On Earth“ wird auf BBC bereits als „Hottest Record in the World“ gehandelt. Die Latte lag also hoch, Wolf Alice sind locker drüber.

 

 

Urne: Serpent & Spirit
Metalheads aufgepasst! Einen fetten, satten, klassischen Sound hat die 3-Mann-Metalband aus London da auf ihrem Debütalbum hingelegt. Anklänge von Metallica, Mastodon und Alice In Chains werden ihnen nachgesagt und die hochklassige Gitarrenarbeit wird nicht nur Mucker aufhorchen lassen. Sänger und ex-Hang The Bastard-Bassist Joe Nally wechselt zwischen Growls und Gesang, und auch die langen Instrumentalparts, die zuweilen sogar in eine schwere Shoegaze-Atmosphäre abdriften, lassen das Herz höher schlagen. 2018 taten sich Joe Nally, Gitarrist Angus Neyra und Drummer Richard Harris zusammen und benannten sich nach der Graburne, allerdings nicht englisch „Urn”, sondern in deutscher Schreibweise –, weil es cooler aussieht. Der 8-Tracks-Umfang des Albums huldigt den Jugendhelden von Sänger Joe Nally: Judas Priest, Pantera, Metallica, Megadeth.
 ● Annika Bachem

Abgelegt unter TonträgerEinen Kommentar verfassen...

Jüdisches Leben in Hannover

Tags:

Jüdisches Leben in Hannover


KloepperfotodesignDie Liberale Jüdische Gemeinde hat sich 1995 in Hannover gegründet und ist mit über 700 Mitgliedern die größte progressiv-jüdische Gemeinde Deutschlands. Sie hat ihren Sitz in ihrem Gemeindezentrum Etz Chaim (Baum des Lebens) im Stadtteil Leinhausen. 2020 hat Rebecca Seidler die langjährige Vorsitzende Ingrid Wettberg abgelöst. Rebecca Seidler ist in der jüdischen Einheitsgemeinde aufgewachsen, aber bereits seit 1995
aktives Mitglied in der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover und sie hat sich dort von Beginn an ehrenamtlich eingebracht. Neben der Funktion als Vorsitzende ist sie heute außerdem im Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen die Antisemitismusbeauf-
tragte und zuständig für den Bereich Beratung im Umgang mit Anti-
semitismus,aber auch beim Thema Sicherheit jüdischer Institutionen.

Schildern Sie uns zum Einstieg und Kennenlernen mal kurz Ihren beruflichen Werdegang.
Ich bin von Haus aus Sozialpädagogin und war einige Jahre im Jugendamt der Region Hannover beschäftigt, habe dann berufsbegleitend mein Masterstudium im Bereich der internationalen Sozialen Arbeit sowie eine Zusatzausbildung zur qualifizierten Mediatorin absolviert. Seit nun fast zwölf Jahren bin ich selbstständig im Bereich der Unternehmensberatung mit Schwerpunkt Mediation und im Bereich der politischen Bildung. Zudem bin ich noch Dozentin an der Hochschule Hannover im Fachbereich Soziale Arbeit und Religionspädagogik. Als Mutter zweier Schulkinder ist für diese Vielfalt an beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten eine gute Organisation unerlässlich und zum Glück habe ich einen geduldigen und unterstützenden Ehemann an meiner Seite.

Und Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover. Was verbirgt sich hinter dem Wort „liberal“?
Das liberale Judentum hat seine Wurzeln hier in Deutschland. Viele denken, das sei eine „Erfindung“ aus Amerika, aber das stimmt nicht. Entwickelt wurde das Reformjudentum vor rund 250 Jahren in Seesen, also gar nicht weit von Hannover, unter anderem von Israel Jacobson. Das liberale Judentum setzt sich zum Beispiel für eine Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen ein. Das heißt, Frauen haben in unserer Gemeinde dieselben Rechte und Pflichten wie die männlichen Gemeindemitglieder. Wir haben bei uns auch Rabbinerinnen und Kantorinnen. Es gibt keine Unterschiede, wir sitzen gemeinsam im Gottesdienst und nicht getrennt voneinander. Diese Gleichberechtigung der Frau im religiösen Kontext ist ein ganz wesentlicher Unterschied zu orthodoxen Gemeinden. Hinzu kommt unter anderem noch, dass wir unsere Gottesdienste mehrsprachig durchführen. Die Hauptsprache ist Hebräisch, also die Sprache der Tora, aber wir haben auch Gebete, die wird zum Teil auf Deutsch oder auf Russisch lesen, weil unsere Gemeindemitglieder mehrheitlich aus der ehemaligen Sowjetunion kommen. So haben sie in der Sprache ihres Herzens einen guten Zugang zum Gebet.

In den anderen jüdischen Gemeinden gibt es diese Gleichberechtigung nicht. Gibt es da auch mal Auseinandersetzungen?
Nein, eigentlich nicht. Das Judentum war schon immer pluralistisch. Es ist also nichts Besonderes, dass es hier in Hannover verschiedene innerjüdische Strömungen gibt. Nach der Shoah ist dieser Pluralismus in den Hintergrund getreten, weil es nur wenige überlebende Jüdinnen und Juden gab. Die Wenigen haben sich dann in Gemeinden zusammengefunden, die innerjüdischen Strömungen waren dabei meist nebensächlich. In der Einheit hat man eher den orthodoxen Charakter gelebt und die Shoah war der identitätsstiftende Faktor, der zusammengehalten hat. Aber mit den Nachfolgegenerationen kam dann wieder der Wunsch auf, den innerjüdischen Pluralismus auszuleben und zu berücksichtigen, dass es eben auch Entwicklungen in der Gesellschaft gibt. Dafür steht das liberale Judentum. Wir bewahren die Tradition des Judentums, wir möchten die jüdische Religion und Kultur in ihrem Fortbestand schützen, aber immer auch mit einem Blick in die Moderne. Diesen Zweiklang aus Tradition und Moderne halte ich für ganz wichtig. Um letztlich nicht separat von der Mehrheitsgesellschaft zu leben, sondern als Jüdinnen und Juden im Einklang mit unserer sich entwickelnden Gesellschaft.

Wie muss ich mir das Leben in Ihrer jüdischen Gemeinde vorstellen?
Wir haben hier für alle Generationen sehr viele unterschiedliche Angebote. Das fängt an mit unserem jüdischen Kindergarten, in dem wir 40 Kinder haben, auch nichtjüdische Kinder. Deren Eltern natürlich ein gewisses Verständnis dafür haben müssen, dass wir ausschließlich die jüdischen Feiertage feiern. Wir bieten den jüdischen Kindern in unserem Kindergarten seit 2007 einen Ort, wo sie in ihrer jüdischen Identitätsentwicklung unterstützt und gestärkt werden. Und für nichtjüdische Kinder ermöglichen wir einen ganz authentischen Einblick ins Judentum. Die Kinder erleben das Judentum als völlige Selbstverständlichkeit, das fließt einfach ein in den Kita-Alltag. Es werden zum Beispiel vor den Mahlzeiten kleine Segenssprüche auf Hebräisch gesprochen. Nach der Kindergartenzeit geht es natürlich weiter in der Gemeinde, wir haben Kindergruppen für Schulkinder, wir haben ein jüdisches Jugendzentrum, wo jüdische Freizeiten geplant und organisiert werden, auch bundesweit, damit sich jüdische Kinder überregional kennenlernen und sich vernetzen können. Es gibt Angebote für junge Erwachsene, zum Beispiel für Studierende, die hier Räume bekommen, um sich als jüdische Community zu treffen. Wir arbeiten in dem Bereich auch mit der Organisation TaMaR Germany zusammen, die hier spezielle Veranstaltungen für junge, jüdische Erwachsene anbietet. Aber wir haben in unserer Gemeinde natürlich auch viele Angebote für Senioren, angefangen von Yogakursen oder Debattierclubs bis zu Lernkreisen zu jüdischer Religion und Tradition. Und wir begehen natürlich alle jüdischen Feiertage, Festtage, auch Lebensfeste wie Beschneidungen, Namensgebungen, Bar- und Bat-Mitzwa-Feiern, Hochzeiten – alles, was sozusagen zum Leben gehört. Wir verfügen auch über einen eigenen jüdischen Friedhof im Stadtteil Lahe, um unseren Gemeindemitgliedern eine jüdische Beerdigung zu ermöglichen. Unsere Angebote hier in der Gemeinde begleiten also das gesamte Leben.

Welche Verbindungen hat die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover zur Stadtgesellschaft und sind solche Verbindungen ebenfalls ein zentrales Anliegen?
Absolut, wir machen in der jüdischen Gemeinde sehr viel im Bereich des interreligiösen und interkulturellen Dialogs. Wir sind der festen Überzeugung, dass persönliche Begegnungen das beste Mittel sind im Kampf gegen Antisemitismus und für ein plurales, friedvolles Miteinander. Wir laden zum Beispiel Schulklassen ein, geben Führungen, machen Gesprächsrunden mit Schulklassen unterschiedlicher Jahrgänge – um nicht über Jüdinnen und Juden zu sprechen, sondern mit ihnen. Das ist ein wichtiger Baustein, denn so erzeugt man viele Aha-Momente bei Schülerinnen und Schülern. Wir möchten hier ein offenes Haus sein und zeigen, was jüdische Religion, Kultur und Tradition bedeutet. So kann man Gemeinsamkeiten feststellen zwischen den Religionen und den Menschen. Und man kann lernen, auch die Unterschiede auszuhalten, ohne sie zu bewerten. Mit einer gegenseitigen Wertschätzung. Wir haben darum sehr viele Projektnetzwerke aufgebaut in den letzten 25 Jahren. Es gibt enge Kontakte zu kirchlichen Trägern und zu anderen religiösen Institutionen, aber eben auch zu Schulen, Universitäten und Bildungsinstitutionen.

Können Sie mal ein jüdisches Wochenende beschreiben.
Sehr gerne. Der Schabbat beginnt am Freitagabend mit einem Gottesdienst und endet am Samstagabend. Der Schabbat ist unser wöchentlicher Ruhetag, ein Tag, an dem wir bewusst die Arbeit ruhen lassen, Zeit mit der Familie verbringen, Zeit für die Erholung haben – sei es für die körperliche Erholung, aber auch für die geistige Erholung. Wir sind am Schabbat zudem angehalten zu lernen. Nicht als Arbeit verstanden. Das Lernen soll Bereicherung sein. Wir beginnen den Schabbat immer mit einem gemeinsamen Gottesdienst. Zwei Kerzen werden angezündet, es folgen gemeinsame Gebete und es wird sehr viel gesungen. Nach diesem gemeinsamen Gottesdienst, bei dem auch die Gemeindemitglieder ganz aktiv eingebunden werden, sei es, dass Kinder kleine Passagen vorlesen oder andere Gemeindemitglieder für ein Gebet zuständig sind, wird gemeinsam getrunken und gegessen. Das ist bei uns ganz wichtig. Das ist der sogenannte Kiddusch, man isst gemeinsam und trinkt ein Glas Rotwein. Und dabei tauscht man sich aus. Wie ist die letzte Woche verlaufen? Was war vielleicht eine Herausforderung? Was hat belastet? Was wünsche ich mir für die kommende Woche? Das regt sozusagen den inneren Reflexionsprozess an. Am Samstag folgt dann ein Morgengottesdienst, es wird der jeweilige Wochenabschnitt aus der Tora gelesen, und auch dieser Gottesdienst endet wieder mit einem gemeinsamen Essen. Im Prinzip soll dann der gesamte Samstag frei von jeglicher Arbeit und von Verpflichtungen sein. Die jüdische Gemeinschaft soll im Vordergrund stehen, die Zeit für die Familie. All das soll Kraft geben für die kommende Woche. Der Schabbat endet schließlich mit einer sogenannten Hawdala-Zeremonie, bei der unterschieden wird zwischen dem Ruhetag und dem Alltag.

Das klingt sehr familiär.
Das ist auch ganz zentral, diese Zeit für- und miteinander. Wir hatten mal ein nicht-jüdisches Kind im Kindergarten, das wollte unbedingt zu Hause den Schabbat feiern. Was die Eltern verunsichert hat, es war ja nicht ihre Religion. Wie geht man also damit um? Ich habe dann mit dem Kind ein Gespräch geführt und dabei ist herausgekommen: Das Kind wollte diese Familienzeit. Weil man zusammen isst, weil man sich bewusst Zeit für sich und die anderen nimmt, weil man viel miteinander spricht, weil man Familie erlebt. Entsprechend habe ich der Familie geraten, wieder mehr den Sonntag als Familientag zu organisieren, so wie das ja auch in der christlichen Tradition vorgesehen ist. Was sie getan haben und damit war das Bedürfnis des Kindes gestillt, Schabbat zu feiern. Es ging um die Werte, die dahinterstehen, nicht um den religiösen Zugang. Diese sind ja auch in anderen Religionen fest verankert. Und gerade für Kinder ist das ein sehr schönes Element – auch wirklich ganz bewusst am Ende der Woche gemeinsam durchzuatmen.

Die jüdische Gemeinde startet also am Sonntag in die Woche?
Genau, wir starten am Sonntag in die reguläre Woche. In Israel haben an den Sonntagen auch die Geschäfte wieder auf. Am Samstag ist geschlossen.

Wie lange dauert so ein Gottesdienst?
Der Schabbat-Gottesdienst am Freitagabend dauert bei uns eine Stunde und der Gottesdienst am Samstag durch die Tora-Lesung etwas länger, da sind es dann schon zwei Stunden.

Sie haben eben von dem Wunsch eines nicht-jüdischen Kindes erzählt, zu Hause Schabbat zu feiern. Im Christentum würde man die Familie vielleicht einfach in der Gemeinde aufnehmen. Im Judentum geht das nicht.
Nein, das Judentum missioniert nicht, das ist verboten. Wir haben keinen Wahrheitsanspruch, für uns ist es eher wichtig, dass sich die Menschen auf die sogenannten Noachidischen Gebote verständigen. Das berührt mehr die Ethik, das heißt es geht um Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Nächstenliebe. Das sind die verbindenden Elemente. Aber welche Form des Zuganges zu Gott von einem Menschen gewählt wird, das soll jedem Menschen selbst überlassen sein.

Zum Judentum zu konvertieren ist unglaublich schwer …
Ja, das ist nicht so einfach. Die Konversion zum Judentum ist ein sehr langwieriger und schwieriger Weg, ein langer Prozess der fortwährenden Prüfung und Reflexion. Denn dies ist eine Lebensentscheidung. Das Judentum ist nicht nur eine Religion, wir verstehen uns als Volksgemeinschaft, damit verbunden ist also eine Zugehörigkeit, die auch den Alltag und das ganze Leben beeinflusst. Dessen soll man sich einfach sehr sicher sein.

Und zentral ist die Frau, denn wer eine jüdische Mutter hat, ist jüdisch…
Richtig, die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk wird von der Mutter übertragen. Das ist zum Beispiel ein Unterschied zum Islam, bei dem die Religionszugehörigkeit über den Vater weitergegeben wird. Wenn meine beiden Söhne einmal Kinder haben mit einer nicht-jüdischen Frau, dann sind deren Kinder also nach jüdischem Religionsgesetz nicht jüdisch. Da gibt es aber auch schon Debatten, ob das noch zeitgemäß ist, denn auch patrilineare Juden, also Juden, die nur einen jüdischen Vater haben, können ja sehr fest in der jüdischen Kultur und Tradition verankert sein. Ich persönlich finde, dass es hier eine Öffnung geben sollte, vielleicht auch durch eine vereinfachte Statusklärung durch ein Rabbinatsgericht.

Mit den Unruhen in Israel ist der Antisemitismus in Deutschland wieder sehr sichtbar in den Fokus gerückt. Wie sind denn ihre Erfahrungen vor diesen Unruhen? Ist das Problem nicht etwas, das schon lange da ist, beziehungsweise nie verschwunden war?
Antisemitismus gab es schon sehr lange vor der Shoah. Aber auch danach war der Antisemitismus nie verschwunden, er gehört zur geschichtlichen Kontinuität dieses Landes und auch Europas. Was zum Beispiel bedeutet, dass jeder jüdische Feiertag, jedes jüdische Fest seit jeher unter Polizeischutz stattfindet. Das ist nicht neu, das kenne ich seit meiner Jugend, die Polizei stand immer vor der Synagoge. Nach der Shoah haben sich in den letzten Jahrzehnten moderne Formen von Antisemitismus entwickelt, die zu den anderen Formen des Antisemitismus noch einmal hinzukommen. Wir haben es heute mit Formen von Antisemitismus zu tun, die aus ganz unterschiedlichen Milieus kommen, unabhängig von der Bildungsschicht. Wenn es um Antisemitismus geht, wird ja immer der Ruf laut, dass in der Bildung mehr passieren muss. Das stimmt, aber auch in akademischen Kreisen gibt es durchaus Antisemitismus. Die Arbeit im Kampf gegen Antisemitismus ist also sehr vielschichtig und herausfordernd. Und für die jüdische Gemeinschaft ist das natürlich belastend und es gibt sehr unterschiedliche Formen des Umgangs. Einige gehen nach außen sehr offen mit ihrem Judentum um, was dann leider immer wieder auch zu antisemitischen Erfahrungen führt. Andere Gemeindemitglieder leben ihr Judentum ausschließlich innerhalb der jüdischen Gemeinde, um sich auch vor antisemitischen Erfahrungen zu schützen.

In der aktuellen Diskussion hat sich die Kritik an Israel stark mit antisemitischen Anfeindungen vermischt …
Das ist ein sehr komplexes Thema. Aber ja, Israel wird gerne instrumentalisiert für Antisemitismus. Man muss nicht direkt sagen, dass man etwas gegen Jüdinnen und Juden hat, man projiziert das auf den jüdischen Staat. Der Begriff Jude oder Jüdin wird durch Israel ersetzt. Wir hören sehr häufig in den Debatten, dass man Israel kritisieren dürfen muss. Ja, natürlich. Das politische Agieren des Staates Israels kann man kritisieren, das geschieht fortwährend und ist gar kein Tabu. Aber man muss dennoch genau hinsehen. Kennen Sie einen Staat, bei dem die Politik ähnlich oft in den Medien debattiert wird? Nehmen wir mal den Begriff „Israelkritik“. Das ist eine feste Begrifflichkeit im Duden. Gibt es eine „Deutschlandkritik“? Oder eine „Grönlandkritik“? Nein. Es gibt auch keine „Finnlandkritik“ oder „Russlandkritik“. Es scheint ein immenses Bedürfnis zu geben, Israel massiv zu kritisieren. Woher kommt das? Genau das müssen wir reflektieren. Was ich darüber hinaus erlebe ist, dass Jüdinnen und Juden eine gewisse Illoyalität unterstellt wird gegenüber dem deutschen Staat. Ich werde beispielsweise recht häufig gefragt, wann ich mal wieder in die Heimat Israel fahre. Oder was mein Ministerpräsident da wieder anstellt. Und damit ist dann nicht Herr Weil gemeint, sondern bis vor Kurzem Benjamin Netanjahu. Man wird sehr schnell in die Position gebracht, für das politische Handeln Israels mitverantwortlich zu sein. Man kommt in die Lage, sich rechtfertigen und verteidigen zu müssen, obwohl keine Möglichkeit der Einflussnahme besteht. Wir haben ja kein Wahlrecht in Israel. Wir wohnen in Deutschland, wir zahlen hier unsere Steuern, wir wählen hier. Da gibt es also eine Pauschalisierung, eine Verallgemeinerung. Es heißt: Israelis sind Juden und somit sind alle Juden auf der Welt verantwortlich für Israel. Und dann hören wir zum Beispiel in Gelsenkirchen, wo vermeintlich gegen das politische Agieren Israels protestiert wird, dass „Scheißjuden“ gerufen wird. Und wir erleben, dass Synagogen zunehmend Drohungen erhalten, dass massiv Mitglieder jüdischer Gemeinden am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis mehr und mehr mit antisemitischen Aussagen konfrontiert werden.

Was macht das mit Ihnen? Sind Sie wütend? Traurig?
Eher traurig und nachdenklich. Wissen Sie, wir Jüdinnen und Juden werden meist auf drei Themen reduziert, auf den Holocaust, auf Antisemitismus und auf Israel. Aber wir sind so viel mehr. Das jüdische Leben ist so unfassbar reich an Tradition, Kultur, Ethik und Philosophie. Es gibt unglaublich viele Zugänge zum Judentum. Wir sind ein sehr lebensbejahendes Volk. Wir möchten leben, wir möchten das Leben gestalten. Ich würde gerne viel mehr diese Vitalität und Lebensfreude in den Fokus stellen. Eine Chance dazu sind sicherlich die Feierlichkeiten und Aktivitäten rund um das aktuelle Festjahr 1700 Jahr jüdisches Leben in Deutschland. Ich hoffe, dass wir trotz Corona in einen guten Austausch kommen. Das sehe ich als eine meiner Hauptaufgaben an: das gesellschaftliche Miteinander aktiv zu fördern und mitzugestalten.                   ● Interview: LAK                                             Foto: Kloepperfotodesign

Abgelegt unter Im GesprächEinen Kommentar verfassen...

PW Lederdesign – Leder Handwerk/Wohnkonzepte

Tags:

PW Lederdesign – Leder Handwerk/Wohnkonzepte


„Leder und Pelz haben schon in früher Kindheit eine magische Anziehungskraft auf mich ausgeübt”, erzählt Petra Warneke, die in der Herrenstraße eine Werkstatt für handgefertigte Leder- und Filzwaren mit zugehörigem Laden betreibt. „In den 1970er-Jahren fuhr ich immer wieder mit meiner Mutter in die mondänen Kaufhäuser der Hamburger Innenstadt. In den Fahrstühlen und auf Rolltreppen glitten meine Finger im Schutz der Enge an den Pelzmänteln der feinen Damen entlang.“ So war Petra Warnekes beruflicher Weg, ohne dass sie das in diesem zarten Alter hätte ahnen können, bereits vorgezeichnet.

Eines sei hier vorangestellt: Massentierhaltung wie in dänischen Nerzfarmen oder auch nur das Töten von Tieren allein ihres Felles wegen sind Warneke ein Graus: „Ich rede darüber eigentlich gar nicht mehr, weil es so selbstverständlich ist. Ich verwende nur Leder von Tieren, die der Fleischgewinnung dienen und die in ihren Herkunftsländern artgerecht gehalten werden. Die Häute werden in Deutschland mineralisch oder vegetabil gegerbt und gefärbt. Wenn ich Pelze verarbeite, sind das solche, die bereits eine ‚Karriere‘ als Kleidungsstück hinter sich haben.“
Noch heute schwärmt Petra Warneke von ihrer Ausbildung zur Schneiderin, die sie in Hannover absolviert hat: „Es war eine überbetriebliche Ausbildung bei der hannoverschen Obermeisterin. Wir durften dort sehr frei arbeiten und haben viel gelernt. Zuschnitt und Lederverarbeitung kommen in einer betrieblichen Schneiderlehre oft gar nicht vor, ich konnte das schon nach meinem ersten Lehrjahr und habe bald die ersten eigenen Aufträge bekommen.“
1989 eröffnete sie ihre eigene Werkstatt mit Ausstellungsräumen, nachdem sie erst noch Zusatzausbildungen in Lederverarbeitung und Schnittkonstruktion absolviert hat. Es ist das Geburtsjahr von PW Lederdesign. Seither hat sie zahlreiche Fortbildungen bei „alten Hasen“ zu historischen Handwerkstechniken besucht und beherrscht das Flechten und Handnähen von Dickleder genauso wie das Punzieren.
Inspirationsquelle und Sehnsuchtsort zugleich ist für die passionierte Handwerkerin der Alpenraum. Wer sich ihre Stücke ansieht, findet immer wieder kleine Hinweise darauf.
Es sind ausschließlich eigene Entwürfe, die Warneke direkt aus der Werkstatt über ihren Onlineshop und auf dem Lister Wochenmarkt verkauft. Taschen, Röcke, Jacken oder Westen, jedes ihrer Stücke ist ein Unikat. Vom kleinen Leder- oder Wolltäschchen fürs Handy oder die Brille bis hin zum Lammfell-Wendemantel ist für Damen und Herren, Jung oder Älter und für jeden Geldbeutel etwas dabei. Natürlich haben diese handgefertigten Produkte aus maximal nachhaltigen und hoch qualitätvollen Materialien ihren Preis. „Alltags-Luxus“ nennt Warneke ihre Stücke und weist darauf hin, dass gutes Leder mit dem Alter immer schöner wird: „Das sind tägliche Begleiter, die Sie lieben und jahrzehntelang nutzen werden.“
Manche ihrer Stammkundinnen oder -kunden bringen ihre Pelze, oft Erbstücke, in die Werkstatt, die Warneke nach Maß und Wunsch umarbeitet. Während der Pandemie war es natürlich kaum möglich, so nah an ihrer Kundschaft zu arbeiten.
In dieser Zeit entwickelte Warneke die „Wollroll“, eine handgemachte Sitzunterlage aus öko-zertifiziertem Wollfilz und pflanzlich gegerbtem Rindsleder. Perfekt für all die Treffen und Veranstaltungen, die notgedrungen auch mal bei etwas ungemütlicheren Temperaturen im Freien stattfinden. Die „Wollroll“ ist auch ein erster Schritt hin zu ihrer Geschäftserweiterung unter dem Leitgedanken „Wer wohnt hier?“. Schon oft wurde Petra Warneke auf ihre ansprechend und auffällig inszenierten, individuell gestalteten Wohn- Werkstatt- und Gartenräume angesprochen, oft verbunden mit der Bitte um Gestaltungsvorschläge oder eine Beratung. Ab sofort entwickelt die Designerin auch Raumkonzepte für ihre Kundschaft. Hier werden nicht nur Materialien wie Wolle, Leinen und Leder im Mittelpunkt stehen oder prägende Akzente setzen, sondern auch Funde vom Flohmarkt oder aus Vintage-Läden.
Leider läuft Warnekes Mietvertrag in der Herrenstraße in wenigen Monaten aus und sie ist dringend auf der Suche nach neuen Werkstatt- und Geschäftsräumen zwischen 30 und 80 Quadratmetern. Neuer, inspirierender Gestaltungsraum für die kreative Unternehmerin, die Tipps hierfür dankbar entgegennimmt.        ● AB

Aktuelle Öffnungszeiten und Kontakt unter
www.pw-lederdesign.de
oder Tel. 0157 326 10 633
sowie per E-Mail an info@pw-lederdesign.de

Abgelegt unter Der besondere LadenEinen Kommentar verfassen...

Tags:

Endlich wieder Kultur!


Diese Ausgabe ist eine echte Premiere, wir erscheinen zum ersten Mal seit unserer Gründung ohne eine Titelstory. Das wird zwar eine Ausnahme bleiben, war uns aber in diesem Monat ein echtes Anliegen, denn wir wollten möglichst viel Platz für die Kultur schaffen, für den Neustart, den wir im Moment erleben. Überall dürfen wir uns in diesem Sommer draußen und teilweise auch schon wieder drinnen über Musik, Theater, Literatur und Kunst freuen.

Wir haben in dieser Ausgabe zusammengetragen, was uns rechtzeitig erreicht hat. Und hoffen, dass uns nicht allzu viel durchgerutscht ist. Beigelegt ist dem Stadtkind in diesem Monat auch wieder unsere Broschüre „Urlaub nebenan“ mit vielen Kulturtipps für die Region. Wem in diesem Sommer langweilig ist, der macht etwas falsch.

Bei aller Euphorie bleibt natürlich die Sorge, das haben wir auch von vielen Veranstaltern gehört. Wir sollten vorsichtig bleiben, nicht zu viel riskieren, weiter auf Abstand achten und auch noch eine Weile die Masken tragen, insbesondere dort, wo es eng sein könnte. Und wir sollten auch im Urlaub vorsichtig sein. Die Pandemie ist längst noch nicht vorbei, auch wenn sich das momentan vielleicht so anfühlt. Wir sollten uns daran erinnern, was es bedeutet, wenn es irgendwann wieder in die falsche Richtung geht.

Erinnern ist ein gutes Stichwort. Nicht alles ist schlecht gelaufen während der vergangenen Monate, aber auch längst nicht alles ist wirklich gut gelaufen. Wir neigen leider dazu, dieses Schlechte in der Rückschau auszublenden. Das sollten wir nicht, wir sollten uns im Gegenteil an die vielen kleinen und großen Katastrophen erinnern, die vermeidbar gewesen wären. Was mir sehr oft gefehlt hat in der Politik, das waren Mut und Pragmatismus, und das gilt nicht nur für die Bundespolitik. In vielen Bereichen in der Politik und in der Verwaltung haben wir massive Probleme mit einer ausufernden Bürokratie und der problematischen Grundeinstellung, im Zweifel gerade mal nicht zuständig zu sein. Das gilt natürlich nicht für alle, die in den Verwaltungen arbeiten. Aber leider für zu viele. Es ist gut, wenn alle Parteien nun ankündigen, an der Schraube drehen zu wollen. Wir werden in den kommenden Monaten immer wieder sehr genau hinschauen.

Abgelegt unter * TickerEinen Kommentar verfassen...

Endlich wieder Kultur!

Tags:

Endlich wieder Kultur!


Diese Ausgabe ist eine echte Premiere, wir erscheinen zum ersten Mal seit unserer Gründung ohne eine Titelstory. Das wird zwar eine Ausnahme bleiben, war uns aber in diesem Monat ein echtes Anliegen, denn wir wollten möglichst viel Platz für die Kultur schaffen, für den Neustart, den wir im Moment erleben. Überall dürfen wir uns in diesem Sommer draußen und teilweise auch schon wieder drinnen über Musik, Theater, Literatur und Kunst freuen.

Wir haben in dieser Ausgabe zusammengetragen, was uns rechtzeitig erreicht hat. Und hoffen, dass uns nicht allzu viel durchgerutscht ist. Beigelegt ist dem Stadtkind in diesem Monat auch wieder unsere Broschüre „Urlaub nebenan“ mit vielen Kulturtipps für die Region. Wem in diesem Sommer langweilig ist, der macht etwas falsch.

Bei aller Euphorie bleibt natürlich die Sorge, das haben wir auch von vielen Veranstaltern gehört. Wir sollten vorsichtig bleiben, nicht zu viel riskieren, weiter auf Abstand achten und auch noch eine Weile die Masken tragen, insbesondere dort, wo es eng sein könnte. Und wir sollten auch im Urlaub vorsichtig sein. Die Pandemie ist längst noch nicht vorbei, auch wenn sich das momentan vielleicht so anfühlt. Wir sollten uns daran erinnern, was es bedeutet, wenn es irgendwann wieder in die falsche Richtung geht.

Erinnern ist ein gutes Stichwort. Nicht alles ist schlecht gelaufen während der vergangenen Monate, aber auch längst nicht alles ist wirklich gut gelaufen. Wir neigen leider dazu, dieses Schlechte in der Rückschau auszublenden. Das sollten wir nicht, wir sollten uns im Gegenteil an die vielen kleinen und großen Katastrophen erinnern, die vermeidbar gewesen wären. Was mir sehr oft gefehlt hat in der Politik, das waren Mut und Pragmatismus, und das gilt nicht nur für die Bundespolitik. In vielen Bereichen in der Politik und in der Verwaltung haben wir massive Probleme mit einer ausufernden Bürokratie und der problematischen Grundeinstellung, im Zweifel gerade mal nicht zuständig zu sein. Das gilt natürlich nicht für alle, die in den Verwaltungen arbeiten. Aber leider für zu viele. Es ist gut, wenn alle Parteien nun ankündigen, an der Schraube drehen zu wollen. Wir werden in den kommenden Monaten immer wieder sehr genau hinschauen.

Abgelegt unter AktuellesEinen Kommentar verfassen...

Zorbas

Tags:

Zorbas


Schon seit 1982 findet sich im Stadtteil Vinnhorst neben dem Mittellandkanal ein weiteres beliebtes Ausflugsziel; das Restaurant Zorbas. Die hier betriebene griechische Küche folgt dem Ausspruch Sokrates‘ „Wir leben nicht, um zu essen, wir essen, um zu leben“ – eine Aufforderung, das Tempo des Verzehrs zu drosseln und damit den Genuss zu erhöhen oder eine philosophische Andeutung auf die üppige Fülle der gereichten Speisen? Das Bild „ein Abend mit griechischen Freu(n)den“ wird hier jedenfalls in den schönsten sommerabendlichen Farben und mediterranen Geschmäckern gemalt.

Wem in den heißen Monaten der Mittagstisch (erhältlich von Montag bis Freitag) selbst im Schatten der großen Sonnenschirme zu viel ist, der nimmt eben wie wir erst nach dem Abendspaziergang am Kanal hier Platz. Zum geselligen Schnack passt der Mezedes-Teller für zwei Personen (19,50 Euro), der zum delikat gebackenen, dünnen Weißbrot eine Zusammenstellung kalter und warmer Vorspeisen bietet, die man traditionellerweise aus tönernen Schälchen isst, die auf dem Tisch verteilt sind, anstatt sich nach deutscher Unart die Hälfte auf dem eigenen Teller zu „sichern“. Die Auswahl kleiner, variantenreicher Gerichte (im Original zu Wein und Ouzo gereicht, wir begnügen uns heute mit Wasser) wird langsam genossen und dient eher der Geselligkeit als der Appetitanregung. Die hier gereichte Platte offeriert dicke Bohnen in einer würzigen Tomatensauce, dazu sagenhaften Saganaki, paniert in der Pfanne gebratenen Schafskäse, Riesenpeperoni und Meze-Pilze. Selbst im Schatten schmelzen wir dahin bei Chtipiti, einer Schafskäsecreme, der Olivenöl, Pfeffer, Zitrone und scharfe Peperonis beigemengt wurden, und Tarama, dem „Kaviar der Griechen“ aus gesalzenem Fischrogen (meistens vom Karpfen, aber auch vom Kabeljau oder sogar Hering mit Weißbrot, Olivenöl und Zitrone zu einer Paste verarbeitet). Auch der hauseigene Zaziki darf nicht fehlen, in den man genießerisch die wunderbaren, goldbraun mit Mehl gebratenen Auberginen und Zucchini eintunken kann.
Auf der nachfolgenden Wein-Platte (für 16,90 Euro) tummeln sich appetitlich arrangiert und so saftig anzusehen wie anzubeißen ein Souvlaki (gegrillter Fleischspieß), ein Kotelett, ein Lammkotelett, ein Suzuki aus feinem Hack kräftigen Geschmackes, ein salziges Scheibchen Käse und lockeres Gyros. Den dazugehörenden Viertelliter Hauswein tauschen wir gegen einen Tsipouro (ein traditioneller griechischer Tresterbrand), um etwas Luft für die noch ausstehenden Probierhappen zu schaffen. All das Fleisch ist derartig gut gewürzt und ge(b)raten, dass wir glücklich sind, uns nicht zwischen den einzelnen Sorten entscheiden zu müssen – und wie üblich eben sowenig zwischen Tomaten-Reis, Pommes und Salat. Auch die „Spezialität des Hauses“ (für 14,50 Euro) begleiten diese drei netten Beilagen, sie selbst entpuppt sich als kleingeschnittenes Filet in einem leicht bitteren, sehr fruchtigen Erbsen-Pilz-Bett, das mit zarten Karotten- und Zwiebel-Spänen bedeckt ist.
Zum großzügigen Trio vom Rotbarschfilet (für 14,50 Euro), das im geschmackvollen Pfeffer-und-Salz-Teigmantel daherkommt, war überbackener Brokkoli angekündigt, der nun doch anstatt von Käse nur eine leichte Metaxasauce trägt – angesichts der Temperaturen die richtige Entscheidung. Die hauseigene Remoulade, Orange, Zitrone und ein Tomaten-Gurken-Salat mit Oliven und Zwiebelringen steuern stattdessen weitaus sommerlichere Komponenten bei.
Insgesamt distanzieren sich alle Tellergerichte qualitativ ausdrücklich von ihren eingedeutschten Bekannten aus den Touristenortküchen Griechenlands (und hiesigen Restaurants mit ihren meist lustlosen Zitaten mediterraner Kochkunst). Wer Sehnsucht nach hellenischen Genüssen, aber keinen Koch mit den entsprechenden Fähigkeiten im Freundeskreis und keine Urlaubskoordinaten von authentisch griechischen Küchen hat, der kann diese auf der Zorbas-Terrasse zumindest für einen Abend lang stillen. In den kühleren Monaten lässt sich der lukullische Sommernachts-Traum im Gastraum mit großflächiger Oktopus-Fototapete unter den wachsamen Augen von Anthony Quinn und unter Flaschen von allerlei landestypischen Weinen und Spirituosen fortsetzen…

 ● Anke Wittkopp
Friedenauer Str. 45
30419 Hannover
Tel. (0511) 67 15 09
www.zorbas-in-hannover.de

Öffnungszeiten:
Mo – Sa 12-14 Uhr
So 12-14:30 Uhr
sowie 17.30-23 Uhr
Dienstag Ruhetag

Abgelegt unter Stadtkinder essenEinen Kommentar verfassen...

Stadtkind twittert