Für diese Ausgabe habe ich noch einmal Sonja Anders getroffen. Sie wechselt nach sechs Jahren Intendanz am Schauspiel Hannover zur nächsten Spielzeit zum Thalia Theater nach Hamburg. Und das ist schön für Hamburg – aber nicht so schön für Hannover. Was Sonja über unsere Stadt denkt, was sie vermissen wird, wie sie ihr Schaffen in Hannover beschreibt, was ihr hinsichtlich der Entwicklungen in unserer Gesellschaft Sorgen bereitet und was ihr außerdem noch wichtig war und ist, darüber mehr ab Seite 52.
Was mir hier an dieser Stelle wichtig ist, das sind ein paar Gedanken, auf die mich nicht zuletzt Sonja gebracht hat – übrigens immer wieder während ihrer Spielzeit. Sonja mag, glaube ich, keine großen Lobhudeleien. Aber sie kann sich ja hier nicht wehren … Was ich an ihr wirklich sehr bewundere, das ist die Klarheit, mit der sie ihre Haltung vertritt. Sie hat das, was man gemeinhin wohl als Rückgrat bezeichnet. In den vergangenen Wochen war politisch viel von Verantwortung die Rede. Sonja mach darum nicht viele Worte, sie sieht sich einfach in der Verantwortung. Sicher auch in der Rolle als Intendantin, aber darüber hinaus – und das finde ich noch viel wichtiger – einfach als Mensch. Und sie nimmt diese Verantwortung voll an. Was heißt, dass sie immer für ihre Werte eintritt, dass es kein vorsichtiges Taktieren gibt, aus Angst vor irgendwelchen Konsequenzen. Sie hat ihre Grundsätze, ihre Werte, und wer daran rütteln will, der muss sich auf Widerstand gefasst machen. Sie ist an dieser Stelle wohltuend stur.
Ich finde das beispielhaft. Und ich würde mir wünschen, dass viel mehr Menschen bei uns in Deutschland in dieser Weise Verantwortung übernehmen würden, nicht nur im Kulturbetrieb. Wenn ich mich umschaue und umhöre in diesen schwierigen Zeiten, dann fehlen mir die klaren Stimmen, die Farbe bekennen, die widersprechen, die laut und deutlich auf unsere Werte pochen, aus der Kultur, aus den Kirchen, aus der Wissenschaft. Zum Beispiel, wenn es aktuell darum geht, Menschen auf Afghanistan aufzunehmen. Die Diskussionen um diese Aufnahme, auch angestoßen von der CDU/CSU waren schlicht unwürdig. Ich habe mich wirklich geschämt. Was für Gefühle will man mit solchen Aktionen in der Bevölkerung eigentlich bedienen? Und was ist noch der Unterschied zu den Stimmen, die wir von der AfD hören? Ich bin in den vergangenen Wochen immer wieder darüber erschrocken, in was für eine platte Sprücheklopferei die Politik teilweise abrutscht. Markus Söder natürlich vorneweg, aber der Rest unseres politischen Führungspersonals gibt sich ebenfalls alle Mühe. Ich denke da zum Beispiel an Jens Spahn – der es partout nicht lassen konnte, kurz nach dem Sturz Assads alle Syrer aufzufordern, jetzt doch bitte umgehend Deutschland wieder zu verlassen und zurückzukehren in das wieder „sichere“ Heimatland. Während natürlich alle, die sich auch nur ein bisschen mit der Situation vor Ort auskennen, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben. Was einen Jens Spahn allerdings nicht weiter zu stören scheint. Er macht auf mich schon lange den Eindruck, gegen Beratung ausgesprochen resistent zu sein. Ich frage mich wirklich, wie wir mit solchen Persönlichkeiten einen Wandel in Deutschland hinbekommen wollen. Billiger Populismus hat jedenfalls noch nie irgendwelche Probleme gelöst. Ich hoffe sehr, dass sich unsere demnächst neue Regierung das immer wieder in Erinnerung ruft. Und dass man sich zwischendurch gemeinsam daran erinnert, für welche Werte wir uns in unseren Breitengeraden eigentlich so stolz auf die Schultern klopfen … Wenn beispielsweise mal wieder von „den Syrern“ oder „den Afghanen“ die Rede ist. Das sind verdammt noch mal Menschen! Ich habe den Eindruck, dass genau das sehr oft vergessen wird. Auch bei der „illegalen Migration“ geht es nicht um irgendwelche abstrakten Monster, sondern um Menschen, die alle einen sehr guten Grund haben, sich auf den Weg zu machen – bittere Armut, Verfolgung, Krieg. Würden wir unsere Maßstäbe nicht scheinheilig, sondern ehrlich anlegen, würden wir nicht über 138 debattieren, sondern überlegen, wie wir möglichst viele Frauen aus Afghanistan nach Deutschland ausfliegen.
Aber das diskutieren wir nicht. Schon gar nicht, weil solche Gedanken natürlich alles andere als populistisch sind. Mit Nachdenklichkeit gewinnt man heute keinen Blumentopf mehr. Was es braucht, sind kurze Kernbotschaften, die den richtigen Nerv treffen. Und entsprechend gereizt ist inzwischen der „Volks-Nerv“, entsprechend wund ist unsere Gesellschaft. Ich finde, es ist jetzt wirklich allerhöchste Zeit, der Verflachung zu widerstehen und sich zu besinnen. Es geht auch anders. Man kann Politik ohne diese permanenten lauten Töne machen, ernsthaft und faktenbasiert. Man kann sich dabei sogar unterstützen lassen. Wir haben in Deutschland noch eine relativ freie Wissenschaft, die gerne berät, ohne dass irgendwelche Lobbygruppen im Hintergrund die Fäden ziehen.
Leider ist momentan die Wissenschaft aber ebenfalls eher leise unterwegs. Unsere Akademikerinnen und Akademiker schweigen um die Wette. Ja, es gibt ein paar Ausnahmen, aber ich sage es mal so: Ein Harald Lesch macht noch keinen Sommer. Wo bleibt eigentlich der kollektive Aufschrei aus den Geisteswissenschaften, angesichts einer immer rechteren Stimmung im Land? Warum mischen die sich alle politisch nicht viel mehr ein? Und kämpfen beispielsweise dafür, dass bei uns die Bildung in der Agenda allmählich mal wieder nach oben rutscht? Oder schlicht für eine andere Debattenkultur? Um es auf den Punkt zu bringen: Wir brauchen viel mehr Sonja Anders und viel weniger Markus Söder in Deutschland. Dringend!
