Small Talk

Neu im Stadtkind: Anne Andersch

Gestern waren mein Freund Michi und ich wieder einmal auf einer Sexparty zu Gast. Wie immer trugen die übrigen Anwesenden seltsame Kostümierungen, aber darüber zu rätseln habe ich schon längst aufgegeben. Meiner Ansicht nach ist Kleidung bei solchen Anlässen einfach deplatziert und ich komme dementsprechend ohne sie, mit vollster Unterstützung von Michi.

Der Trend des Abends lag eindeutig bei Latex und Leder – was mich angesichts der aktuellen Temperaturen schaudern ließ – und ziemlich schnell hatten wir ein Pärchen gefunden, das unseren jeweiligen Präferenzen vollends entsprach. Sie hießen Morpheus und Trinity (was ich im Übrigen für eine ausgesprochen gelungene Paarung antiker Mythologie und christlicher Dreifaltigkeitslehre halte) und waren dazu bereit, in einem der abgedunkelten Mehrbett-Separés, die von schwarzer Gaze mit lauter willkürlichen Zahlenreihen verhangen waren, einen kleinen Partnertausch zu machen.
Michi musste sich allerdings noch ein wenig gedulden, bis die kleinen blauen Pillen bei Morpheus anschlugen, und aus gebotener Höflichkeit warteten auch Trinity und ich.

Während wir so dasaßen und nichts zu tun war, versuchte ich, ein Gespräch anzuregen. Das ging eine Weile ganz gut, dann fragte mich Trinity plötzlich, ob ich lieber schlucke oder spucke. Die Frage kam aus völlig heiterem Himmel, und ich sah sie fragend an. „Na, schlucken oder spucken? Also ich schluck‘ es ja am liebsten – aber manchmal kau‘ ich auch vorher noch drauf rum.“ Was denn, gib mir ein Akkusativobjekt! – versuchte ich ihr mit den Augen zu bedeuten. Stattdessen zeigte sie erst auf ihren Mund, dann auf das Bett unserer Männer, wo sich langsam die Macht der Arzneimittelindustrie abzuzeichnen begann. Da ich weiterhin nicht verstand, warf sie mir einen enttäuschten Blick zu, murmelte etwas, das wie „Newb“ klang, und wandte sich seufzend ab.

Es war der Beginn einer peinlichen und überaus quälenden Stille, die ich bei Bettgenossen für unangemessen halte und daher so rasch wie möglich zu beenden suchte. Und da sie das Thema „Schlucken“ zu interessieren schien, fing ich an Dinge aufzuzählen, die ich in meinem Leben schon geschluckt hatte. Das war eine ganze Menge und ich kam sogar ziemlich gut voran, doch als ich die Bandwurmeier erwähnte, die ich kurz nach Ostern heruntergeschluckt hatte und um Weihnachten herum auszuscheiden plante, damit ich mir den Silvesterabend mit einer kurzweiligen Sektion versüßen könne, stießen Morpheus und Trinity, beide für sich, einen spitzen Schrei aus. Sie waren ganz schön aus dem Häuschen, was ich in dem Moment als ein positives Zeichen dafür deutete, dass das Eis gebrochen war. Aber bevor ich mit meiner Auflistung fortfahren konnte, mischte sich Michi ungefragt ein, behauptete, ich würde nur Spaß machen.
Wenn es eines gibt, das ich nicht ertragen kann, dann das. Ich verabscheue Unaufrichtigkeit! Deshalb habe ich ihm auch gleich vehement widersprochen und noch oben draufgesetzt, dass ich ein mindestens 60 Zentimeter langes Exemplar erwarte. Daraufhin stieß mich Trinity von der Bettkante und Morpheus scheuchte uns aus dem Separé.

Ich hatte schon begriffen, dass da etwas, irgendetwas, schief gelaufen war, aber dass Michi mich deswegen so wütend anfunkelte, fand ich absolut übertrieben. Der Abend war noch jung, die Halle voller Menschen. Ich bot mich an, uns flugs ein paar neue GespielInnen aufzutreiben, aber Michi wollte nichts davon hören. Er würde das übernehmen, ich solle an der Bar sitzen und mit niemandem sprechen.

Das ist leichter gesagt als getan. Denn es dauerte gar nicht lange, und ein Typ, selbstverständlich in Latex und Leder, lehnte sich zu mir herüber und redete auf mich ein. Lustigerweise hieß auch er Morpheus, nur hatte dieser eine Zahnlücke. Er behauptete höchst beunruhigende Dinge, nämlich, dass wir alle in einer Scheinwelt leben würden, dass uns eine allgegenwärtige Matrix umgibt und dass immer dann, wenn wir zu sehen, schmecken, hören, riechen und tasten glauben, eigentlich bloß elektrische Impulse unser Gehirn stimulieren. Er sagte: „Nehmen wir zum Beispiel diesen Löffel hier. Spürst du diesen Löffel? Dann täuschst du dich. Die Wahrheit ist: Es gibt überhaupt gar keinen Löffel.“ Und er legte mir etwas in die Hand, das ich noch vor einer Minute mit vollkommener Sicherheit als Penis identifiziert hätte. „Du meinst, der ist gar nicht real?“, fragte ich bestürzt. „Das heißt, es würde überhaupt nichts geschehen, wenn ich meine Finger schließen und dann meine Hand ganz schnell …“

… Michi war stinkwütend, als man uns auf Wunsch von Morpheus – allen beiden – des Geländes verwies. Für mich aber war es eine heilsame Erfahrung, da es mich von einem schwerwiegenden Irrtum kurierte. Jetzt weiß ich: Reden nach dem Sex ist okay. Davor ist es einfach zu riskant.

Anne Andersch


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