Ein letztes Wort im April…

Herr Weil, wir sprechen heute mal wieder über Europa. Das Thema ist uns ja schon öfter bei unseren Gesprächen zu den Fluchtbewegungen begegnet. Im Mai steht die nächste Europawahl an, während der Brexit aktuell noch auf sich warten lässt. Und Emmanuel Macron hat jüngst in 28 Staaten einen Brief veröffentlicht, ein Plädoyer für Europa mit vielen Vorschlägen. Europa bewegt momentan sehr die Gemüter. Vielleicht vorab: Was verbinden Sie mit Europa?
Sehr viel Gutes. Freies Reisen, keine Grenzen, Frieden, das gemeinsame Geld. Sie müssen sich vorstellen, dass für mich bis zu meinem 30. Lebens-jahr Europa mehr oder weniger 50 Kilometer östlich von Braunschweig aufhörte. Nach der Wiedervereinigung war das plötzlich fundamental anders. Die Wiedervereinigung hätte es ohne unsere enge Einbindung in die EU nie gegeben. Ich könnte mir die zweite Hälfte meines bisherigen Lebens ohne Europa gar nicht mehr vorstellen.

Aus meiner Sicht sollte Europa auch durch eine gemeinsame Haltung geeint sein.
Das sollte so sein. Derzeit sind wir davon leider weit entfernt. Das ist ja eines der Strukturprobleme Europas. Mich erinnert die EU manchmal an einen Verein, bei dem die einzelnen Mitglieder unterschiedliche Ver-einszwecke für sich definieren. Es gibt eine Kernmannschaft, die steht für einen gemeinsamen Binnenmarkt, aber auch für Menschenrechte, für Pressefreiheit und für eine liberale, offene Gesellschaft. Und dann gibt es andere, bei denen man leider momentan erhebliche Abstriche machen muss, insbesondere in osteuropäischen Staaten. Einige betrachten Europa, so mein Eindruck, mittlerweile lediglich als eine Art Finanzumver-teilungsmaschine. Das ist nicht akzeptabel.

Sind da schon in der Vergangenheit Fehler gemacht worden. Ist Europa zu schnell gewachsen?
Rückblickend würde ich in der Tat sagen, dass Europa zu schnell gewachsen ist. Aber man hat vor 25 Jahren nicht alle Entwicklungen vorhersehen können. Polen ist dafür ein anschauliches Beispiel. Das war das am stärksten an Europa interessierte osteuropäische Land. Die Menschen in Polen haben sich auf Europa gefreut. Damals hätte sich kein Mensch vorstellen können, dass die polnische Regierung sich heute im Wesentlichen abgrenzt von Europa. Man kann also den Akteuren von damals nicht wirklich einen Vorwurf machen. Inzwischen gibt es Rechtsstaatsverfahren gegen Polen und Ungarn. Das ist richtig, man muss potenzielle Verstöße gegen Rechts-staatsprinzipien unbedingt klären.

Ich merke, solche Verhältnisse beispielsweise in Polen und Ungarn ärgern Sie.
Ja, die Europäische Gemeinschaft ist ein beeindruckendes Gebilde des Friedens, der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Aktuell aber ist der Zusammenhalt in Europa massiv bedroht. Und das will und kann ich nicht einfach akzeptieren. Es lohnt sich, für Europa zu kämpfen.

Europa ist ja ein Sammelsurium sehr unterschiedlicher Länder. Manche wirtschaftlich sehr stark, andere sehr schwach. Während wir uns hier über eine sehr niedrige Arbeitslosigkeit freuen, hat beispielsweise Griechenland größte Probleme, auch mit einer massiven Jugend-arbeitslosigkeit. Nun gibt es einige Stimmen, die sagen, dass man Europa neu sortieren müsse, dass vielleicht einige Staaten einfach nicht in diesen Club gehören.
Das wäre für mich der ganz falsche Ansatz. Es war ein Fehler, dass man sich insbesondere nach der Weltfinanzkrise darauf beschränkt hat, die Probleme in den einzelnen südeuropäischen Ländern nur übers Sparen lösen zu wollen. Man hat dabei viel zu wenig auf die gesellschaftlichen Auswirkungen geachtet. Ich war mit Hannover 96 in den guten Zeiten des Vereins in Spanien, bei einem Auswärtsspiel in Sevilla – einer der Höhepunkte meines Lebens (lacht). Bei dieser Gelegenheit habe ich mich mit dem dortigen Bürgermeister getroffen. Die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien lag damals bei 50 Prozent. Was macht das mit einer Gesellschaft, wenn die Hälfte der jungen Leute keinen Job findet? Das ist eine Katastrophe! Spanien, Griechenland, Italien: Der Gedanke der Solidarität wurde sträflich vernachlässigt. Ein anderes Beispiel ist der Umgang mit den Flüchtlingen. Die Italiener waren eigentlich immer große Europafans, es gab eine hohe Zustimmung zu Europa in allen Umfragen über Jahrzehnte hinweg. Inzwischen hat sich diese Stimmung sehr gewandelt, weil viele Italiener sich im Stich gelassen fühlen. Ihr Land ist nun einmal aufgrund der geographischen Lage das erste Ziel für viele Migrantinnen und Migranten, die über das Mittelmeer kommen. Eigentlich müssten wir Deutschen das gut nachvollziehen können. Im Herbst 2015 und im Winter 2016 ist es uns ganz ähnlich gegangen. Herr Salvini bekommt nicht zuletzt deshalb Zuspruch, weil die anderen europäischen Länder den Gedanken der Solidarität vernachlässigen. Das ist sehr gefährlich für Europa.

Ich habe immer den Eindruck, wenn es um die gemeinsamen Pfründe geht, wenn man sich also zum Beispiel darauf verständigen soll, sich gegen neue amerikanische Zölle zu wehren, dann ist man sich in Europa sehr schnell einig. Bei vielen anderen Themen fehlt aber dieser Schulterschluss. Geld eint Europa. Bei der Pressefreiheit oder anderen Themen sieht das deutlich anders aus.
Das stimmt wahrscheinlich, leider. Wobei der Schulterschluss beim Thema Zölle richtig und wichtig war. Man sieht daran, was für eine Macht Europa hat, wenn die Länder mit einer Stimme sprechen. Und umgekehrt ahnt man, wie gering unser Einfluss wäre, wenn wir Europa nicht hätten.

Wenn ich mir ansehe, wie antieuropäisch die Stimmung momentan in manchen Staaten ist, teilweise auch in Deutschland, wird mir ja angesichts der kommenden Europawahl Angst und Bange. Geht es Ihnen da auch so?
Ganz im Gegenteil. Wir müssen richtig kämpfen, das ist das Entscheidende. Ich werde jedenfalls in den Wochen vor den Europawahlen richtig viel Wahlkampf machen. Ich tue das nicht nur, um für meine Partei zu trommeln, sondern weil ich wirklich ein tief überzeugter Europäer bin. In Deutschland ist die Zustimmung zur europäischen Union in den letzten beiden Jahren übrigens spürbar gestiegen.

Was sagen Sie denn zum Trauerspiel in Großbritannien?
Das ist dort eine völlig verfahrene Situation, jeder blockiert jeden – ein verheerendes, verantwortungsloses Politikversagen. Angefangen mit Cameron, der dieses Referendum auf den Weg gebracht hat, um einen innerparteilichen Streit auszulagern. Und fortgesetzt von Theresa May, die ihre taktischen Spielchen inzwischen wahrscheinlich selber nicht mehr überblickt. Das ist eine einzige Katastrophe. Und es zeigt, wie gefährlich Populismus ist.

Was mich wundert ist, dass sich in den Umfragen vor allem die jungen Leute als proeuropäisch erweisen, während die älteren Generationen skeptisch sind. Hätten beispielsweise in England mehr Jüngere mit abgestimmt, hätte es den Brexit wohl nicht gegeben. Gerade die älteren Generationen müssten doch aber wissen, was wir an Europa haben.
Zunächst ist es ja schön, dass die Jüngeren schlauer sind als die Älteren. Das macht Hoffnung. Aber in der Tat: die Älteren müssten es eigentlich besser wissen.

Hat Europa zu viel reguliert? Liegt es daran?
Teilweise ja, wobei nicht alles, was man Europa in die Schuhe schiebt, wirklich in der Verantwortung der EU liegt. Oft gibt Europa nur mehr oder weniger einen Rahmen und dann kommen aus den Mitgliedsstaaten noch viele Details dazu. Wenn dann das Thema in die Kritik gerät, weisen alle Finger nach Brüssel. Es gibt leider die Neigung in der Politik, sich für alles Gute selbst verantwortlich zu fühlen und für alles Schlechte die anderen verantwortlich zu machen – und bedauerlicherweise oftmals Brüssel. Zugegeben, in Europa ist nicht alles gut. Aber es ist schon sehr viel sehr gut. Das Positive überwiegt ganz eindeutig. Und dafür lohnt es sich zu kämpfen.


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