Ein offener Brief an den Weihnachtsmann

Lieber Weihnachtsmann, wir sind echt großer Fan. Wie du das alles so gedeichselt hast in der Vergangenheit, all die Kinder auf der ganzen Welt, alle pünktlich besucht und beschenkt – und alles, was man von dir jemals sah, war höchstens mal aus dem Augenwinkel ein rötlich schimmernder Schatten. Hochachtung!
Doch nun sind die Wünsche der Kinder in den vergangenen Jahren immer größer geworden. Die Bescheidenheit ist auf der Strecke geblieben. Und was hat das bedeutet für dich? Unfassbar viel mehr Arbeit. Wie schiebt man mal schnell ein Pferd durch einen Kamin, ohne dass es nachhaltig Schaden nimmt? Woher bekommt man einen Prinzessinnen-Pavillon für den Garten? Wer garantiert, dass die Handwerker mit dem Pool im Kinderzimmer rechtzeitig fertig werden? Und das sind nur die Probleme, die sich bei den heute üblichen Wünschen ergeben. Hinzu kommt, dass auch die Zahl der Geschenke in den vergangenen Jahren immer größer geworden ist. Böse Zungen behaupten, das läge daran, dass heutzutage gar nicht mehr unterschieden wird. Artige Kinder bekommen jetzt also genauso viele Geschenke wie die unartigen. Aber klar, wer will das bei all den Kindern auch verlässlich prüfen im Vorfeld. Geht ja gar nicht. Und dann wird da am Ende noch ein Kind als unartig eingestuft, das gar nicht unartig war, nur wegen übler Nachrede. Wahrscheinlich würden die Eltern klagen. Auf der anderen Seite kann ein auf den ersten Blick artiges Kind in Wahrheit eine Ausgeburt der Hölle sein. Man guckt den Kindern ja nur vor den Kopf, welche Abgründe sich da verbergen – niemand kann das genau wissen.
So ist es dir also ergangen mit deinem Job in den letzten Dekaden, immer mehr beschenkte Kinder und bei den Geschenken grassiert eine erschreckende Maßlosigkeit. Darum können wir sehr gut nachvollziehen, dass du dich irgendwann vor gar nicht allzu langer Zeit nach Unterstützung umgesehen hast und bei deinen Aufgaben inzwischen voll auf Outsourcing setzt – du hattest einfach keine andere Wahl mehr, die ganze Geschichte ist dir über den Kopf gewachsen, oder? Also hast du amazon und Co. zu Partnern gemacht.
Eine riesige Entlastung für dich. Sie haben dir bereitwillig dein Geschäft abgenommen, natürlich total selbstlos. Warum auch nicht? Klar, das alles ist nun ein bisschen aus dem Ruder gelaufen, man erzählt sich, dass manche Kinder ihre Wunschzettel mittlerweile mit „Lieber Jeff Bezos“ beginnen, aber das ist ja kein Beinbruch, denn ganz am Ende zählen doch nicht irgendwelche Eitelkeiten, sondern nur die freudig strahlenden Kinderaugen. Und der Bezos sorgt für viele Millionen lachende Gesichter. Das ist dein alter und sein neuer der Job. Und der wird mehr oder minder zuverlässig erledigt. Klar, ab und zu diese Lieferschwierigkeiten, dann gibt es Verspätungen oder man muss noch mal zur Post, was in der Vorweihnachtszeit natürlich kein Spaß ist, aber so alles in allem kann man den oder die Wunschzettel heute problemlos direkt in die entsprechenden Masken im Internet eingeben oder sogar einsprechen, und der Geschenke-Hase läuft. Das ist großartig!
Und so ganz nebenbei sorgt der ganze amazon-Weihnachtszauber auch noch für echte Entschleunigung und Momente der Ruhe und Besinnlichkeit. Denn wenn der Lieferverkehr in den Straßen der Städte vor Weihnachten noch mal ungeahnte Dimensionen annimmt, dann kann sich mancher Autofahrer im Stau ganz in Ruhe und gemütlich zurücklehnen und sich besinnen. Hat man wirklich alle seine Lieben ausreichend beschenkt? Hat man tatsächlich jeden Wunsch erfüllt? Und dann fällt einem noch etwas ein, was man per Smartphone noch schnell ordert – schon macht sich Sekunden später an anderer Stelle ein weiterer Lieferwagen auf die Reise und man sorgt damit für noch mehr entspannte Momente. Wunderbar! Du, lieber Weihnachtsmann, hast das alles also ganz richtig gemacht. Und kannst dich zur Weihnachtszeit nun selbst entspannt zurücklehnen. So hast du deine Ruhe und wir genau das Weihnachten, das wir verdienen. Perfekt!  VA

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