Ein letztes Wort im Juni

Herr Weil, wir sind derzeit damit befasst, möglichst besonnen zu möglichst „normalen“ Zeiten zurückzukehren. Sie sind ja bereits vor den Gesprächen über die möglichen Lockerungen vor drei Wochen vorausgegangen und haben den Weg für Niedersachsen sehr klar definiert. Eine ziemliche Kehrtwende, nachdem sie zuvor sehr vorsichtig waren mit den Lockerungen.
Ich habe wirklich sehr lange zu denjenigen gehört, die darauf gedrängt haben, gemeinsam und einheitlich mit allen 16 Ländern Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen durchzuführen, das ist richtig. Aber aus Erfahrung wird man auch klug. Es hat mehrfach Situationen gegeben, in denen wir uns mühsam auf ein gemeinsames Vorgehen verständigt hatten, sei es die Mund-Nase-Bedeckung, sei es die Kontaktbeschränkung und vieles mehr – und dann stellt man fest: keine 48 Stunden später bricht das erste Land aus der vereinbarten Linie aus und dann beginnt eine Domino-Kette und die Länder regeln das nacheinander für sich jeweils anders. Und schon nach wenigen Tagen ist so von der gemeinsamen Vereinbarung nur noch wenig übrig. Da stellt sich natürlich irgendwann die Frage, inwieweit ein solches Vorgehen sinnvoll ist.

Aber das war nicht der Grund für die Kehrtwende.
Natürlich nicht. Mein Hauptgrund ist gewesen, dass wir nach dem Shutdown jetzt in einer neuen Phase sind, für die wir auch eine neue Strategie benötigen. Ein Fahren auf Sicht ohne Klarheit, wie es denn danach weitergeht, stößt auf zunehmend weniger Verständnis.  Es wurden immer Einzelthemen diskutiert, immer sektoral, mal waren es die Baumärkte, mal waren es die Masken, mal waren es die Abstandsregelungen, was auch immer. Das wird der Sache natürlich nicht gerecht. Denn in Wirklichkeit ist es ja so, dass das Infektionsrisiko die Summe vieler einzelner Risiken ist. Und man muss darum immer eine Gesamtschau vornehmen. Gleichzeitig brauchen alle gesellschaftlichen Bereiche eine Perspektive, die Familien genauso wie die Wirtschaft. Wenn das die Leitplanken sind, landet man fast zwangsläufig bei einem entsprechenden Phasenmodell. Deshalb habe ich das niedersächsische Stufenmodell für einen neuen Alltag mit Corona wenige Tage vor der nächsten Gesprächsrunde mit der Bundeskanzlerin und meinen Amtskolleginnen und -kollegen vorgestellt, um damit auch eine Debatte über eine neue Gesamtstrategie anzustoßen. Das ist übrigens ja auch gelungen, denn auch andere Länder haben dann später bestimmte Phasen für Lockerungen definiert.

Zu dieser Strategie gehört auch das Hochfahren der Wirtschaft.
Unbedingt, da geht es um hunderttausende Existenzen. Wir befinden uns in einer harten Wirtschaftskrise, da muss man gar nicht drumherum reden. Wir haben es zu Beginn der Pandemie mit einer exponentiellen Kurve bei den Infektionen zu tun gehabt, und jetzt haben wir es mit einer exponentiellen Kurve bei den Schäden in Gesellschaft und Wirtschaft zu tun. Es ist uns gelungen, die erste exponentielle Kurve gut in den Griff zu bekommen. Umso mehr müssen wir aber jetzt alle Möglichkeiten nutzen, die zweite exponentielle Kurve zumindest abzudämpfen. Ich mache mir da gar keine Illusionen, das Niveau der Vor-Corona-Zeit werden wir wahrscheinlich erst in ein paar Jahren wieder erreichen können, wenn es gut läuft. Aber wir müssen jetzt unbedingt dafür sorgen, dass wir auch die Voraussetzungen dafür schaffen. Und dazu zählt für mich, dass wir größeren Teilen der Wirtschaft überhaupt wieder die Chance geben, zu produzieren und zu verkaufen.

Und darum fordern Sie auch eine Abwrackprämie?
Ich vermeide dieses Wort, denn das ist für viele ein Reizthema, aber die Automobilwirtschaft hat in Niedersachsen eine Schlüsselstellung, und darum fordere ich eine ökologische Abwrackprämie, um damit den Kauf umweltfreundlicherer Fahrzeuge zu fördern. Mit so einem Anreiz für umweltfreundliche Antriebe wird auch die Automobilindustrie im Strukturwandel unterstützt. Ich halte das für richtig. Dabei geht es auch nicht – wie viele vermuten –
in erster Linie um die Hersteller wie VW, sondern vor allem um die vielen Zulieferunternehmen mit hunderttausenden Arbeitsplätzen, von denen viele durch den Strukturwandel hin zum Elektrofahrzeug schon geschwächt in die Krise reingegangen sind und jetzt ein sehr ernsthaftes Problem haben.

Wir werden darüber sicherlich demnächst noch mehr reden. Themawechsel: Was halten Sie denn von den Antikörpertests, ist das eine Chance?
Es kann zunächst mal eine Beruhigung sein für viele Menschen. Und es wird für einen noch besseren Überblick sorgen, denn dass es eine Dunkelziffer gibt, das ist ja unbestritten. Die Experten streiten eigentlich nur darüber, wie hoch sie ist. Ist es der Faktor 2, 3, 10 oder 20? Je höher der Faktor ist, desto lieber ist mir das persönlich. Denn es handelt sich dabei ja um Menschen, die nie einen Anlass hatten, sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Die also mit dem Corona-Virus infiziert worden sind, das aber gar nicht bemerkt bzw. problemlos überstanden haben. Je mehr Menschen krank gewesen, infiziert gewesen sind, ohne das zu wissen oder zu bemerken, desto besser. Uns machen ja die schweren Verläufe Sorgen, nicht die leichten. Ein aussagekräftiger Antikörpertest würde uns deshalb wirklich in vielerlei Hinsicht helfen: vor allem für die Bewertung der Gesamtlage und um das Infektionsrisiko weiter zu reduzieren.

Sind Sie eigentlich in letzter Zeit noch zu anderen Themen gekommen?
Kaum. Ich gehe mittlerweile seit drei Monaten mehr oder weniger mit Corona schlafen und stehe mit Corona auf. Aber ich weiß auch: Wenn Corona vorbei ist, sind der Klimawandel und die Digitalisierung immer noch da.

Ich bemerke bei mir, dass ich inzwischen ganz selbstverständlich von „früher“ rede. Unvorstellbar, dass diese Krise erst vor rund drei Monaten angefangen hat.
Aber das ist durchaus berechtigt, denn diese Krise ist ganz sicher eine Zäsur. Der gute alte Handschlag wird beispielsweise nicht mehr so selbstverständlich sein, wie früher. Ich glaube, dass die Sensibilität gegenüber Infektionsrisiken wesentlich größer sein wird. Und es wird wie gesagt einige Zeit brauchen, um die wirtschaftlichen Schäden zu überwinden.

Viele andere Themen bleiben derzeit liegen, die Bauern klagen bereits wieder über eine drohende Dürre, an der griechisch-türkischen Grenze ist die Lage weiterhin brisant, von den vielen Kriegs- und Krisengebieten weltweit ganz zu schweigen, doch Corona deckt all das zu. Ich finde das ziemlich gefährlich.
Corona ist sehr zentral, weil es wirklich jeden Bereich und jede und jeden Einzelnen betrifft. Wir hatten, ich glaube Mitte März, eine seit langem geplante Bund-Länder-Runde mit der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten zum Thema Energiewende und wie es da eigentlich weitergeht. Dieses Thema ist so gut wie ausgefallen, weil wir uns zum ersten Mal, dafür aber fast ausschließlich, nur mit Corona befasst haben. Das war auch das letzte Mal, dass wir uns persönlich in Berlin gesehen haben, seither haben wir nur noch Videokonferenzen. Aber wie gesagt, Corona wird irgendwann kein Thema mehr sein, aber der Klimawandel bleibt. Und was mir da insbesondere Sorgen macht, ist der ökologische Umbau unserer Wirtschaft, der viel Geld kosten wird. Geld, das jetzt deutlich weniger zur Verfügung steht als vor der Krise. Es wird also nicht einfacher werden.

Sollte man die wirtschaftlichen Hilfen dann nicht konsequent koppeln an nachhaltige Konzepte?
Ich stimme ausdrücklich zu, dass ökologische Kriterien z. B. für Verkaufshilfen bei Autos maßgeblich sein müssen. Dabei geht es auch nicht nur um Elektroautos. Es ist auch schon ein großer Vorteil für die Umwelt, wenn ein alter Diesel Euro 3 oder Euro 4 nicht mehr gefahren wird, dafür ein moderner Euro 6d-Temp. Man muss sehen, die Jahre 2020/2021 sind in der Automobilindustrie Übergangsjahre. Und wenn man Stand jetzt sagen wollte, wir fördern nur diejenigen, die sich ein reines Elektroauto kaufen, dann wird man ruckzuck feststellen, dass womöglich gar nicht genug Autos zur Verfügung stehen. Darum würde ich auch hier zu einem pragmatischen Vorgehen raten. Ja, Schwerpunkt auf ökologische Kriterien und volle Förderung nur für Elektroautos, aber eben nicht nur beschränkt auf Elektromobilität.

Mal so ganz grundsätzlich, Herr Müller von der CSU, unser Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, hat neulich sinngemäß gesagt, dass es mit dem Höher, Schneller, Weiter unseres Kapitalismus so nicht mehr weitergehen könne. Würden Sie das unterschreiben?
Die Botschaft höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Denn den Kapitalismus kriegt man mit seinen Vorteilen und mit seinen Nachteilen. Zu den Vorteilen gehört eine große Effizienz und zu seinen Nachteilen sozusagen eine immanente Dynamik, die sich nur schwer bremsen lässt und auch zu großen Schäden führen kann. Darum braucht es eine starke demokratische Steuerung. Gegen ein Schneller, Höher, Weiter in Sachen Klimaschutz hätte ich gar nichts.
Interview: Lars Kompa


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