Andersch – Natur pur

„Hinaus in Feld und Flur! Hinauf auf Gipfel und Grat! Durch Hag und Heide, durch Moor, Modder und Morast!“ Mit diesen Worten und einem tatendurstigen Blitzen in den Augen trat ich an den platingrauen Mercedes heran, in dem mein alter Schulfreund Roger bereits auf mich wartete. Der schien von meinem Anblick einigermaßen erstaunt. „Wird jetzt gerade der Fasching nachgeholt, oder was?“, fragte er, während ich meine Outdoor-Regenschutz-Kappe auf den Rücksitz schleuderte und die Bauch- und Brust-Gurte meines Survival-Rucksacks lockerte. In Anerkennung von Rogers flachem Scherz klopfte ich mir auf den von Multifunktionshosen verhüllten Schenkel. „Der war gut! Nein, ich wollte einfach für jede Eventualität gerüstet sein. Immerhin gibt es da draußen keine Supermärkte, Krankenhäuser und im Zweifelsfall niemanden, der einen schreien hört.“
Dass er mich daraufhin entgeistert anblickte, begann mich zu ärgern. „Na hör mal, du warst es doch, der das vorgeschlagen hat! – Gestern, am Telefon: ‚Anne, hast du Lust, einen Abstecher in die weite, karge Wildnis zu unternehmen?‘ hast du gefragt …“ „Mitnichten!“, protestierte Roger und beobachtete unglücklich, wie ich mich mit meinen dreckverkrusteten Wanderstiefeln auf den Beifahrersitz schwang. „Ich fragte, ob du Lust hast, einen Absacker im Kleingarten von Tante Hilde einzunehmen!“
Einen Moment lang dachte ich darüber nach, den Klappspaten aus meinem Rucksack hervorzuholen und mir hier und jetzt ein Loch zu graben, in dem ich vor Scham versinken könnte. Aber dann beschloss ich, die Coole zu spielen. „Naja, wer weiß, in was für einem Zustand dieser Garten ist.“ „Wenn man meiner Tante glauben will, in einem fürchterlichen“, grummelte Roger und startete den Motor, „zumindest sagt sie das andauernd.“
Als wir ein halbes Stündchen später Tante Hildes Parzelle in der Kleingartenkolonie „Laubenpieper e.V.“ erreichten, konnte ich mich selbst davon überzeugen. Sogleich wurden wir auf einem geschmackvollen Ensemble aus Rattanmöbeln geparkt und von der rüstigen Rentnerin dazu aufgefordert, uns schon mal tüchtig in ihrer „grünen Oase“ umzuschauen, während sie die Getränke holte. Das tat ich auch, wobei mir ein Schauder nach dem anderen über den Nacken lief: Grün war hier keineswegs eine dominierende Farbe. Der gesamte Boden war, bis auf zwei ausgewiesene Sukkulentenpflanzungen, mit Granitsplitt und Zierschotter bedeckt. Dazwischen führten schmale Pflastersteinpfade, gesäumt von glänzenden Gartenzwergen mit roten Bäckchen und toten Augen. Den einzigen zusammenhängenden grünen Flecken in all dem Grau bildete eine kaum mannshohe Harlekinweide, deren Krone in eine peinlich perfekte Kugelform geschnitten worden war und dem Afroschopf von Bob Ross ähnelte. Ob der sich hier wohl genauso gegruselt hätte wie ich …?
Ich zitterte. Vielleicht, weil meine Füße so kalt waren. Denn die schmutzigen Wanderstiefel hatten das Gartentor nicht passieren dürfen.
„Ich weiß, es herrscht eine fürchterliche Unordnung, ich komme mit der Pflege gar nicht mehr hinterher!“, rief Tante Hilde, als sie mit den Getränken zurückkam, „eigentlich ist es auch viel zu viel Arbeit für eine Frau in meinem Alter. Aber was soll man machen – jeder will eben sein Fleckchen Natur!“ Solche und ähnliche Reden schwang die alte Dame unentwegt, während sie die mittig auf unseren Untersetzern platzierten Gläser bedächtig mit alkoholfreiem Weizen füllte. Ein weiteres Verbrechen. „Ihr müsst verzeihen, das richtige Bier habe ich für meine Nacktschneckenfalle aufgebraucht. Auf der Rückseite des Hauses habe ich nämlich ein Salatbeet, das von diesen kleinen Halunken nur allzu gut besucht wird. Mit Glyphosat lassen sie sich leider nicht vertreiben – auch nicht mit Metaldehyd, Eisen-III-Phosphat oder Mesurol.“ Ich schluckte. „Was passiert mit den Schnecken in der Falle?“, fragte ich heiser. „Ach, dasselbe wie mit einem Menschen: Sie werden betrunken und müde und lassen sich dann leichter beseitigen.“ Ich schluckte abermals. „W-wie beseitigen?“ Langsam drehte die alte Dame mir ihr rundes Gesicht zu, das von einem honigsüßen Lächeln erhellt war, und die Sonne schien sich zu verdunkeln. „Sie werden mit einem Spaten der Länge nach zerteilt.“ Und dann wandte sie sich an ihren Neffen: „Roger, mein lieber Junge, wirst du deiner alten Tante wohl den Gefallen tun, das für sie zu erledigen? Meine Arthritis macht mir heute ganz besonders zu schaffen, und in der Falle haben sich siebzehn von den kleinen Banditen angesammelt.“ „Null Problemo“, sagte Roger und erhob sich zur Tat. Das war zu viel für mich.
Mit einem schrillen Schrei sprang ich auf die Beine und setzte meinen Schulfreund mit einem Schlag gegen die Kinnlade außer Gefecht, danach betäubte ich seine Tante durch Anwendung eines vulkanischen Nackengriffs. Nachdem ich mir meinen Rucksack übergestreift hatte, rannte ich zu dem vermaledeiten Salatbeet, neben dem die Schüssel mit den alkoholseligen Schnecken stand. Alarmiert durch das Stöhnen der vorzeitig erwachenden Hilde ergriff ich die Schüssel und rannte los, schlug mich querfeldein durch die Gartenkolonie, sprang über Zäune und Zierteiche, Pools und Pergolen, Bohnenstangen und Bodendecker, und hielt lange Zeit nicht an …
Seit drei Wochen bin ich nun schon in den menschenleeren Wäldern untergetaucht. Den Schnecken geht es gut, mir ebenso. Schließlich war ich für alle Eventualitäten gerüstet. Nur eines finde ich ein wenig schade: Dass ich auf meiner überstürzten Flucht meine Wanderstiefel zurücklassen musste.

 Anne Andersch

Foto von Lum3n von Pexels


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