Der Eisberg

 Andrea Spallanzani, Pixabayy„Hannes! Endlich! Der Herr sei gepries- … ich meine: Wie gut, dass du so schnell kommen konntest! Bitte, tritt ein!“
Mit hörbarem Widerwillen folgt mein Bruder der Aufforderung meines nervlich angespannten Liebsten und betritt, zum allerersten Mal überhaupt, meine Wohnung. Dem Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses nach zu urteilen legt er seine Jacke ab, sehr langsam und zögerlich.
„Keine Ursache“, sagt er trocken. „Also: Was ist mit Anne? Am Telefon warst du nicht sehr konkret …“
„Das ist, weil ich es selbst nicht so recht weiß! Und ich habe nicht die geringste Idee, was ich tun – wie ich ihr helfen kann! Deshalb habe ich gehofft, dass jemand, der sie länger kennt … und weil wir gerade von dir sprachen, als es anfing …“
„Was anfing?“
Sofort nehme ich mein lärmendes Treiben wieder auf, woraufhin Lachlan ein verzweifeltes Da hörst du’s! stöhnt. Ich erhöhe den Lautpegel noch etwas, damit ich den weiteren Wortwechsel der beiden nicht mit anhören muss; schließlich weiß ich sehr genau, welche Ereignisse zu meiner jetzigen Gefühlslage geführt haben, und zu dem Umstand, dass ich hinter verschlossener Badezimmertür in einem Meer aus Reue und Wehmut sitze. Diese nämlich:
Nachdem Lachlan von seinem zweiwöchigen Brecht-und-Ballett-Bootcamp zurückgekehrt war, wollten wir endlich mal wieder einen Abend zu zweit verbringen und etwas tun, das wir schon sehr lange nicht mehr getan haben: Fernsehen. Wir saßen also gemütlich aneinander gekuschelt auf dem Sofa und starrten – der eine mehr, die andere weniger – gebannt auf den Bildschirm, über den ein ziemlich langatmiger maritimer Streifen flimmerte, als ich nach etwas mehr als drei Stunden (!) einen heißen Tropfen über meine Stirn kullern spürte. Verwundert drehte ich den Kopf zu Lachlan, dessen gerötete, ausgebeulte Augen ich als Ursprung des Gusses ausmachte. In einem Anflug von Peinlichkeit rückte ich ein Stück von ihm ab.
„T-tut mir leid“, stammelte er, „auch wenn ich die Szene bestimmt schon ein dutzend Mal gesehen habe, bringt sie mich doch jedes Mal wieder zum Heulen! Dieser Moment, wenn klar wird, dass er stirbt – der ist so unfassbar traurig und gleichzeitig so romantisch ergreifend und schön …“
„… und dumm“, ergänzte ich seine Auflistung. „Immerhin hätte ein schmaler Bursche wie Jack mit Leichtigkeit Platz auf der Tür gefunden, wenn Rose nur ein wenig zur Seite gerückt wäre. Hätte sie außerdem ihre Rettungsweste ausgezogen und an der Unterseite befestigt, hätte ihr improvisiertes Floß genügend Auftrieb bekommen, um beide Körper aus dem eiskalten Wasser zu heben und die Gefahr des Erfrierungstods zu minimieren. Wenn sie nur etwas mehr nachgedacht hätte und weniger … nun ja …“
Lachlan stutzte. „Du willst sagen: weniger geweint?“
Ich nickte etwas widerwillig und wollte mich schon erheben, um noch eine Tüte Kaiserkrabbenkräcker aus der Küche zu holen, als Lachlan etwas verunsichert fortfuhr: „Eigentlich wollte ich dich das schon länger einmal fragen, Anne. Kann es sein, dass du … nicht sehr oft weinst?“
„Ich sehe nun einmal keinen Sinn darin“, antwortete ich etwas schnippisch und ging nun wirklich los, um mir meine Kalorien zu holen. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, war das Thema jedoch noch nicht gegessen.
„Keinen Sinn? Weinen ist doch keine Frage des Sinns!“, schleuderte er mir entgegen. „Es ist eine körperliche Reaktion, die immer dann eintritt, wenn man von seinen Gefühlen überwältigt wird. Und du, Anne, du hast doch auch, ähm, Gefühle. Außerdem ist Weinen bei aller kulturellen Stigmatisierung doch etwas sehr Nützliches, Reinigendes …“
„Es ist ja nicht so, als ob ich es nie versucht hätte“, unterbrach ich ihn verärgert, da ich diese Konversation überhaupt nicht schätzte. „Als Kind habe ich sogar regelmäßig mit meinem Bruder geübt – leider völlig erfolglos. Was ich auch versuchte, es kam keine einzige Träne heraus, dafür Schweiß, Blut und … andere Flüssigkeiten. Nicht einmal meine Eltern, die mich eigentlich bloß anzusehen brauchten, um selbst in Heulkrämpfe auszubrechen, konnten es mich lehren … Augenblick mal!“
In diesem Moment war mir ein brillanter Einfall gekommen. Ich packte Lachlan bei den Schultern und blickte ihm erwartungsvoll in die immer noch feuchten Augen.
„Du könntest es mir beibringen! Als Schauspieler gehört das Nachäffen von menschlichen Regungen schließlich zu deinem Beruf! Sicher gibt es da einen Trick fürs Weinen, oder?“
„Also, ‚Nachäffen‘ ist nicht gerade der Ausdruck, den ich für meine Kunst verwenden würde“, entgegnete Lachlan spitz. „Allerdings gibt es schon verschiedene Methoden, die unsereins verwendet, um Emotionen authentisch zu spielen. Ich persönlich hänge der Schauspieltheorie von Konstantin Stanislawski, dem Urvater des Method Acting, an, die besagt: ‚Erschaffe eine Als-Ob-Situation, um das für deine Rolle benötigte Gefühl abzurufen.‘ Ich sehe, das Unverständnis ist dir ins Gesicht geschrieben …“
Ich setzte mich wieder auf das Sofa und lauschte in leiser Hoffnung, heute vielleicht endlich einen Durchbruch in Sachen Menschlichkeit zu erleben. Lachlan räusperte sich.
„Wenn in meinem Skript steht, dass meine Rolle vor Kummer in Tränen ausbrechen soll, versetze ich mich an gegebener Stelle geistig zu einem Zeitpunkt in meiner Vergangenheit zurück, da ich ähnlich verzweifelt war – und zwar an den Abend vor meiner Abreise ins Priesterkolleg, als mich die Angst vor der Fremde und die Sorge, aus lauter Pflichtgefühl den Weg in eine einsame, durchregulierte und vor allem theaterfreie Zukunft einzuschlagen, vollkommen niederdrückten … und ich mir zum ersten Mal Titanic ansah. Siehst du: Ich muss nur daran denken, da gehen schon die Schleusen auf!“ Stolz deutete er auf zwei fette Tränen, die sich unter seinen Lidern hervorquetschten, auf den Sofabezug platschten und zwei große dunkle Flecken hinterließen. Ich runzelte die Stirn.
„Aha. Der Film funktioniert aber bei mir nicht, das haben wir nun schon festgestellt. Dann … lassen wir’s halt. Ist eh nicht so wichtig, dass ich’s lerne …“
Damit wollte ich das Thema begraben und einfach nur noch schweigend den Film zu Ende sehen. Doch Lachlan hatte noch was auf dem Herzen.
„Du sagtest vorhin, du hättest mit deinem Bruder trainiert“, sagte er, nachdem er sich lautstark in ein Taschentuch geschnäuzt hatte. „Wie muss ich mir das vorstellen?“
„Wie wohl? Ich habe ihn natürlich zu imitieren versucht, jedes Mal, wenn er geweint hat, was praktischerweise recht oft vorkam. Manchmal habe ich aber auch etwas nachgeholfen, damit ich mehr Übungsmöglichkeiten bekomme – zum Beispiel bin ich des Nachts mit der laufenden Kettensäge in sein Zimmer gestürzt, damit er aus Angst weint. Oder ich habe ein Wandregal manipuliert, damit es ganz knapp an ihm vorbei zu Boden stürzt und er aus Erleichterung weint. Oder ich habe ihm seine geliebte Haselnuss-Limettencreme-Torte gebacken und dann vor seinen Augen aufgegessen, damit er vor Enttäuschung … hat mir aber wenig genützt das Ganze …“
Nachdem ich diese Erklärung abgegeben hatte, blieb es eine Weile still, sodass ich mir in Ruhe den Abspann des Films ansehen konnte. Dann berührte mich Lachlan leicht am Arm, und als ich mich fragend zu ihm umdrehte, blickte mir aus seinem Gesicht das blanke Entsetzen entgegen.
„Du hast ihn absichtlich zum Weinen gebracht? Deinen eigenen Bruder?“
„Ja. Genau das. Warum?“
„Weil … du ihm damit doch sicher wehgetan hast. Und das nur, um dir anschließend seinen Schmerz ansehen zu können. Das war alles andere als christ- … ich meine: das war nicht sehr empathisch von dir.“
Ich blinzelte. Aus dieser Perspektive hatte ich meine unschuldigen Kindheitserinnerungen noch nie betrachtet – also, aus der meines Bruders. Hatte ich ihn damals wirklich … gequält? Erklärte das womöglich, warum unser Verhältnis – bei aller Liebe – stets etwas angekratzt blieb? Es musste so sein. Doch wie hatte ich das nur all die Jahre übersehen können?
Lachlans harte, zutreffende Worte hatten mich so unvorbereitet getroffen wie der gewaltige Eisberg das stolze Luxusschiff. Und als ich an ihnen zerschellte, brachen sich die schmerzlichsten Gefühle Bahn, sie überwältigten mich und führten zu einer körperlichen Reaktion … und ins Badezimmer.
Hier bin ich also nun und tue – wie Hannes zweifelsohne in diesem Moment meinem aufgewühlten Herzblatt auseinandersetzt – das, was ich im Augenblick totaler Emotionsüberflutung immer schon getan habe: Ich putze. Kacheln schrubben, Wanne scheuern, Klo pömpeln. Und das mit Schmackes, damit man schon von Weitem hört, dass hier keine Unterbrechung gewünscht wird.
Wenn ich schon nicht zur Selbstreinigung fähig bin, dann doch wenigstens zur Badreinigung.
  ● Anne Andersch

Foto: Andrea Spallanzani, Pixabay


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