Ein letztes Wort im September

Herr Weil, wir starten in einen ganz wichtigen Monat, am 26. September ist Bundestagswahl. Wir führen dieses Interview Mitte August und nach den aktuellen Umfragen sieht es für Olaf Scholz gar nicht mehr so schlecht aus. Und auch die SPD hat leicht hinzugewonnen, während die CDU/CSU verloren hat. Ich schätze mal, Ihre Stimmung ist nicht die Schlechteste …     
Das stimmt, die Stimmung hat sich deutlich verändert, nicht nur meine Stimmung, sondern vor allem die der Wählerinnen und Wähler. Wenige Wochen vor der Wahl ist das Ergebnis komplett offen und bei der wichtigsten Frage liegt die SPD inzwischen deutlich vorne – wer hat die beste Kandidatin oder den besten Kandidaten für das Kanzleramt?

Gleichwohl ist Olaf Scholz bei den Wählerinnen und Wählern wesentlich beliebter als die SPD. Ihre Partei kommt nur ganz allmählich in Schwung. Was raten Sie der SPD zum Endspurt?
Die K-Frage ist entscheidend, das zeigt sich immer deutlicher. Die Herangehensweise von Olaf Scholz erweist sich gerade als sehr erfolgreich. Es wird und muss viele nachhaltige Veränderungen geben in den nächsten Jahren und dann ist es gut, wenn jemand am Steuer steht, der weiß, was er tut, der Erfahrung hat und nicht wankelmütig ist.

Wenn ich ehrlich bin, habe ich bei der Frage, ob ich mir einen Kanzler Olaf Scholz vorstellen kann, vor ein paar Wochen noch gelacht und abgewunken. Dann kam der „Wahlkampf“ von Annalena Baerbock und Armin Laschet. Hätten Sie gedacht, dass die beiden eine so schlechte Figur machen?
Natürlich haben Annalena Baerbock und Armin Laschet Fehler gemacht, aber das allein ist es nicht. Wir erleben eine Zeit der Krisen und da fragen sich viele Leute ganz automatisch, wem sie das schwierigste und wichtigste politische Amt in Deutschland zutrauen. Olaf Scholz hat diese Kragenweite.

Was mir allerdings nach wie vor fehlt in diesem Wahlkampf, das sind die Inhalte. Man findet schöne Worte für große Pläne, aber über die Umsetzung wird kaum gesprochen, konkret wird es nur selten. Woran liegt das?
Ist das wirklich so? Die SPD sagt in ihrem Zukunftsprogramm schon sehr klar, wie sie beispielsweise bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen herstellen will. Ich nenne nur ein paar Stichworte: Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde, Garantie für Ausbildung, Tarifverträge leichter allgemein verbindlich erklärbar machen, Abschaffung der Befristung von Arbeitsverhältnissen ohne Sachgrund, ab dem ersten Tag gleicher Lohn für Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter wie Festangestellte, Rechtsanspruch auf mobile Arbeit, Arbeits- und Ruhezeiten auch im Homeoffice, ein Recht auf Nichterreichbarkeitszeiten, auf eine gute technische Ausstattung etc. Ziemlich konkret, oder?

Trotzdem, wenn man den Wählerinnen und Wählern zu klar die Wahrheit sagt, wird man nicht gewählt – ist das nicht die Erkenntnis, nach der sich alle ausrichten?
Nein, auch da möchte ich Ihnen widersprechen: Bei entscheidenden Fragen sind die Ansagen von Olaf Scholz sehr klar. Bereits seit langem weisen wir darauf hin, dass der Strombedarf in den kommenden Jahren und Jahrzehnten deutlich steigen wird, weil wir anstatt fossiler Energieträger mehr Strom im Verkehr, in der Industrie und beim Heizen einsetzen werden. Wir brauchen also einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, mehr Tempo beim Ausbau der Stromnetze, der Bahnstrecken, der Wasserstoffleitungen und der Ladesäulen für Elektroautos. Die dafür notwendigen Planungsverfahren müssen beschleunigt und Bürgerbeteiligungen müssen gebündelt werden. Für diese unbequemen Wahrheiten gibt es beileibe nicht nur Zustimmung, aber es ist trotzdem so.

Zur Wahrheit gehört auch, dass nach den derzeitigen Umfragen Rot-Rot-Grün zumindest nicht mehr ausgeschlossen ist. In der SPD heben bei der Frage immer alle reflexartig abwehrend die Hände. Warum eigentlich? Wäre das nicht eine Chance für Deutschland?
Jetzt kämpft erst einmal jede Partei für sich. Was die Linke angeht, ist es im Übrigen nun einmal so, dass ein großer Teil dieser Partei lieber Opposition sein will und es deswegen einen heillosen internen Streit gibt.

Die Schnittmengen der drei Parteien sind in vielen Bereichen sehr groß. Weitaus größer als die Schnittmengen jeder der drei Parteien mit der CDU/CSU oder der FDP. Man könnte sehr viel auf den Weg bringen …
Wie die nächste Bundesregierung aussieht, ist im Moment komplett offen und die Regierungsbildung könnte ziemlich schwierig werden. Da wird auch Kompromissfähigkeit gefragt sein. Es wird jedenfalls spannend, so wie es derzeit ausschaut.

Wenn ich mich so umschaue, was momentan passiert, dann muss die Politik schleunigst eine ganze Menge auf den Weg bringen. Beim Klima läuft uns die Zeit davon, aber auch in vielen anderen Bereichen gibt es dringenden Handlungsbedarf. Beispielsweise hat sich auch in Deutschland die Schere zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren noch weiter geöffnet. Wie sorgt die SPD für mehr Gerechtigkeit?
Das ist tatsächlich eine Schlüsselfrage. Die Pläne zur Sicherstellung fairer Löhne und Arbeitsbedingungen haben ich Ihnen schon beschrieben. Wir wollen, dass der Zugang zum Arbeitslosengeld erleichtert und die Lebensleistungen stärker berücksichtigt werden: Wer länger eingezahlt hat, soll zukünftig auch länger Arbeitslosengeld I beziehen. Die Grundsicherung wollen wir zu einem Bürgergeld weiterentwickeln, das digital und unkompliziert zugänglich sein soll. Die Regelsätze sollen zu einem Leben in Würde ausreichen und zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen. Mit der SPD würde ein Recht auf Förderung beim Nachholen eines Berufsabschlusses eingeführt und ein Weiterbildungs-Bonus. Olaf Scholz verspricht den Neubau von 100.000 Sozialwohnungen jährlich – ein Blick nach Hamburg zeigt, dass es ihm ernst ist mit einer engagierten Wohnungsbaupolitik. Er steht für ein zeitlich befristetes Mietenmoratorium in angespannten Wohnlagen und für ein Entfristen der Mietpreisbremse. Junge Familien sollen von guten Kitas und Schulen, von mehr Betreuungszeiten und einem deutlich höheren Kindergeld profitieren. Die SPD will die gesetzliche Rente stärken und für ein dauerhaftes Rentenniveau von mindestens 48 Prozent sorgen. Ich höre an dieser Stelle mal auf, oder?

Die SPD war von 1998 bis 2003 und von 2013 bis heute an der Regierung beteiligt. Ich finde es durchaus nachvollziehbar, dass viele Wählerinnen und Wähler der SPD nicht mehr allzu viel zutrauen. Sie auch?
Doch, ich traue der SPD jede Menge zu, aber sie muss dazu auch die Gelegenheit haben. Viele Initiativen der SPD, die auf eine größere soziale Gerechtigkeit und eine konsequentere Energiewende ausgerichtet waren, sind am Widerstand der CDU gescheitert. Und vieles andere hat die SPD gegen harten Widerstand dennoch durchsetzen können. Denken sie an die Grundrente, die weitreichenden Regelungen zur Kurzarbeit während der Pandemie oder in der Zukunft Tariflöhne für Beschäftige in der Altenpflege. Auf der Habenseite stehen schon eine Menge Themen.

Zum Schluss noch ganz persönlich, was haben Sie aus den Ereignissen der letzten Wochen und Monate gelernt, hinsichtlich der Pandemie, aber auch hinsichtlich der großen Umweltkatastrophen der letzten Zeit?
Dass wir, unsere Gesellschaft und unsere Umwelt verletzlicher sind, als wir gemeint haben. Dass wir zusammenhalten und uns gegenseitig helfen müssen. Und wie wichtig ein gut funktionierender Staat und eine verantwortungsvoll handelnde Politik sind.

Muss die Politik nicht dringend viel unbürokratischer, entschlossener und pragmatischer werden?
Das stimmt voll und ganz – wir müssen schneller werden. Ganz generell beim Umweltschutz und auch bei der Herstellung von mehr Gerechtigkeit. Aber es gibt nicht nur Grund zur Selbstkritik, sondern auch zum Selbstbewusstsein. Wir sind im Grundsatz schon ganz gut aufgestellt in Deutschland, das zeigt sich im internationalen Vergleich und das hat sich auch in der Corona-Krise gezeigt.
  ● Interview: Lars Kompa


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