Lutz Flörke: Nebelmeer #7

 Foto Bernd HELLWAGEManche Menschen haben das Gefühl, nur eine Nebenfigur in ihrem Leben zu sein. Doch was sie selbst für nichtig halten, ist in den Augen eines anderen mitunter viel wert, womöglich gar einen geistigen Diebstahl. Biographienraub – genau das passiert HP, dem Protagonisten und Erzähler in Lutz Flörkes Roman „Nebelmeer #7“, der Juli letzten Jahres bei duotincta erschienen ist. In dieser vor intertextuellen Anspielungen strotzenden Textcollage nimmt der in Hamburg ansässige Literaturdozent auch seinen eigenen Berufsstand aufs Korn – unter anderem, denn er schüttet auf seine Leser*innen ein Füllhorn an schrulligen Einfällen aus.

„Wir wehren uns gegen alle selbstgestellten ebenso wie medial propagierten Forderungen nach einem frohgemuten Sich-Einlassen auf den Abbau eigener Glücks- und Reflexionsmöglichkeiten. […] Wir wollen nicht dem Erfolg hinterherhetzen wie ihr! Kein Burnout, keine Frühvergreisung des Geistes, keine Gesellschaft mit beschränktem Horizont!“ Mit diesen Worten beginnt das Manifest, das HP zusammen mit seinem Kumpel Maximilian bei ihrer Abiturfeier vorgetragen hat. Damals waren sich die beiden sicher, was sie für ihre Zukunft wollen: den Misserfolg. Und an diese Losung hat sich zumindest HP immer gehalten. So hat er zwar studiert und eine Weile den Eindruck erweckt, als belesener Denker eine glänzende Karriere vor sich zu haben, doch dieses Schicksal hat er (nach seinen Maßstäben: erfolgreich) abgewendet. Nun arbeitet er als Aufseher in der Hamburger Kunsthalle, in die er sich „aus Gründen der Melancholie“ zurückgezogen hat und nun Caspar David Friedrichs weltberühmtes Gemälde „Wanderer über dem Nebelmeer“ von 1817 bewacht – für viele das Sinnbild der Romantik schlechthin, und für Lutz Flörke eine wichtige Inspiration, von der er sogar den Titel für seinen Roman entliehen hat.
Doch zurück zu HP: Während er in der Kunsthalle dem ideellen Misserfolg frönt, hat Maximilian sein ganz weltliches Glück gemacht, gut geerbt, klug investiert, mehrere lukrative Art-Hotels eröffnet und ist in einer festen Beziehung mit Dorothée gelandet, einer ehemaligen Kommilitonin von HP. Vor einigen Jahren, als sie kurz davorstand, nach Göttingen zu ziehen, um eine bürgerliche Existenz als Universitätsdozentin anzutreten, hatte sie mit HP eine Nacht verbracht, um sich mit ihm, einem Meister des „eiferlosen Vor-sich-hin-Lebens“, ein letztes Mal den großen, revolutionären Ideen ihres Studiums hinzugeben. Nun braucht Dorothée noch einmal seine Hilfe: Maximilian hat ihr ein kryptisches Abschiedsvideo geschickt, in dem er das Manifest ihrer Jugend zitiert. HP soll ihn finden – und in Manier eines Privatdetektivs ermitteln, was Maximilian plant.
Widerwillig verlässt der überzeugte Melancholiker die Kunsthalle und geht zu Maximilians Wohnung in der „Endetage“ eines noblen Wohnhauses. Dort begutachtet er den protzigen Mainstream-Reichtum, der sich in teuren Kunstgegenständen und Weinen äußert, und findet schließlich einen versteckten USB-Stick. Rotwein trinkend schmökert er in einem Textdokument, das angeblich die Memoiren seines Freundes enthält. Doch je weiter er liest, desto mehr Details kommen ihm bekannt vor – und schließlich fällt es HP wie Schuppen von den Augen: Das ist seine Lebensgeschichte, die Maximilian da als seine eigene ausgibt! Ein skandalöser Diebstahl, den sein (ehemaliger) Kumpel sogar an einer Stelle rechtfertigt: „Es gibt so viele Menschen, die es niemals schaffen, zur Hauptperson ihres Lebens zu werden. Weshalb soll ich nicht deren Biographie literarisch nutzen?“ Das kann HP nicht auf sich sitzen lassen; sofort macht er sich auf die Suche nach Maximilian. Es beginnt eine Irrfahrt, die ihn an Orte seiner Jugend und zu längst vergessen geglaubten Erinnerungen führt …
Lutz Flörke studierte deutsche Literaturwissenschaft und promovierte zum Dr. phil. Seitdem arbeitet er als Autor, Performer und Dozent überall dort, wo er mit seinen Vorstellungen von Literatur Geld verdienen kann. Er lebt in Hamburg und erhielt Förderpreise des Landes Niedersachsen und der Stadt Hamburg. In „Nebelmeer #7“ hat er ein Thema aufgegriffen, von dem schon sein Debütroman handelt. Denn auch in „Das Ilona-Projekt“ (2018) geht es um einen Mann, der sich zum Protagonisten der eigenen Geschichte machen will und aus diesem Grund vorgezeichnete Wege verlässt. Im Gegensatz dazu darf HP entdecken, wie lesenswert sein bisheriges Leben bereits ist – und er erlebt nebenbei einen verrückten Roadtrip voller überraschender Wendungen. Nahtlos eingeflochten in die Story sind Zitate und Diskurse über das Schreiben, Text- und Erzählformanalysen sowie philosophische Überlegungen zur Gesellschaft, Kunst und Lebensentwürfen. Das Ergebnis ist ein erstaunlich kurzweiliger, schillernder Text, der mal verwirrt, mal erstaunt – und auch immer wieder herzhaftes Lachen auslöst!

● Anja Dolatta                                                                                                                                                                             Foto Bernd Hellwage

 

 

 

Nebelmeer #7
von Lutz Flörke
Verlag duotincta
268 Seiten
17 Euro


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