Über Kultur – Ein Gespräch mit Sonja Anders

Gestartet bist du als Intendantin des Schauspiel Hannover zur Spielzeit 2019/20 – und dann kam Anfang 2020 auch schon Corona und der Ausnahmezustand in Dauerschleife. Die Kultur ist einer der großen Verlierer der Pandemie, oder?
Dazu müssen wir zunächst klären, über welche Kultur wir sprechen. Es gibt ja einige Kulturen, denen geht es ausgesprochen gut. Beispielsweise der digitalen Kultur, der Spielekultur, der Fernsehkultur, der Streaming-Kultur. Ich glaube, auch die Öffentlich-Rechtlichen haben eher zugelegt während der Pandemie. Der Tatort hat gewonnen. Und der Essenskultur zu Hause geht es ebenfalls gut (lacht). Alle Präsenzkulturen haben dagegen sehr hart zu kämpfen. Momentan, jetzt im Februar, sind wir ja noch mittendrin. Aber auch, wenn demnächst wieder mehr möglich ist, wird es noch dauern, bis das Publikum in vollem Umfang zurückkehrt. Es wird im Augenblick schon besser, die Zahlen bei uns erholen sich, aber wir werden Geduld haben müssen. Mit der Zeit vor Corona ist das alles noch überhaupt nicht zu vergleichen.

Ich kann die Entwicklungen innerhalb der Kultur immer ganz direkt an unserem Veranstaltungskalender ablesen. Momentan ist es nur ein Bruchteil dessen, was wir mal hatten in Hannover und Region. Und ich höre von den Kulturschaffenden, dass die Veranstaltungen, die stattfinden, oft noch nicht besonders gut besucht werden.
Es gab dazu neulich eine Untersuchung, die gezeigt hat, dass die Menschen wirklich Angst haben. Das müssen wir akzeptieren und damit umgehen. Aber es gibt natürlich auch einen Teil, der diese Angst so ein bisschen vorschiebt, um das während Corona gelernte Konsumverhalten zu rechtfertigen. Also lieber zu Hause zu bleiben und Netflix zu gucken, statt sich nach draußen zu begeben, um sich mit vielleicht schwierigeren, komplizierteren Kunst- und Kulturformen auseinanderzusetzen. Da sind nun wir gefragt, diese Menschen zurückzuerobern. Was wir ganz sicher schaffen werden, ich bin da sehr optimistisch. Denn der Mensch will ja eigentlich gefordert sein. Ich glaube fest daran, dass wir nicht nur das Einfachste wollen. Aber für das Komplexe, das Vertiefende, Unbequeme, braucht es eine Lebenswelt, die den nötigen Raum bietet. Für viele Menschen hat Corona diese Räume jedoch extrem reduziert, viele sind gestresst, unter Druck, haben Ängste, auch um die Existenz. Da bleibt nicht viel Raum für die Künste. Dabei ist das, was wir gerade wirklich brauchen, Gesellschaft oder ein Miteinander. Um uns auszutauschen, um uns zu besprechen, besser zu verstehen, uns gegenseitig zu versichern. Das ist übrigens das Tolle an den analogen Künsten. Man ist nicht allein. Man genießt die Kultur in Gesellschaft, und im Theater noch einmal anders als im Kino, bei uns ist es noch direkter, noch persönlicher. Und da ist zum Beispiel selbst die Pause ist ein wichtiger Teil der Veranstaltung, ist ein Raum für Austausch. Kultur schafft Orte der Begegnung, Diskussion und Verständigung. Das macht einfach Spaß. Und ich glaube, genau daran müssen wir die Leute erinnern.

Kultur fühlt sich live natürlich völlig anders an als via Stream oder Fernsehen. Ich vergleiche das immer mit Texten, die ich am Computer oder mit der Hand schreibe – es entsteht jeweils etwas völlig anderes. Vielleicht, weil man sich analog der Sache konzentrierter zuwendet. Und wenn man Kultur erlebt, ist es ähnlich, dann bleibt das Handy tatsächlich mal aus, dann widmet man sich im besten Falle ganz und gar der Kultur. Es gibt Untersuchungen, dass Kinder mit einem Buch oder dem Smartphone jeweils völlig anders lernen, und mit einem Buch lernen sie sozusagen nachhaltiger. Ich glaube, das kann man auch auf Kulturerlebnisse anwenden, oder?
Ja, das glaube ich auch, es ist ein anderes und gemeinschaftlicheres Erleben im direkten Kontakt mit Künstlerinnen und Künstlern. Das macht den Reiz aus. Dass man miteinander kommuniziert, zum Beispiel beim Applaus. Und nicht erst beim Schlussapplaus. Das ist mir gerade erst wieder aufgefallen. Wir hatten ja wegen einiger Krankheitsfälle ein paar improvisierte Reinschmeißer, da begeben sich Künstlerinnen und Künstler auf unsicheres Terrain. Bei „Hedwig and the Angry Inch“, ohne den Hauptdarsteller, haben die beiden Dramaturg*innen alle Musiker*innen befragt, aus welcher Richtung sie kommen, die haben Punk und Country erläutert und dann auch die Songs präsentiert. Es gab am Schluss tosenden Applaus, so eine ganz besondere Euphorie. In solchen Momenten wird honoriert, dass da jemand etwas wagt, einen ganz speziellen und einmaligen Live-Moment. Das erzeugen alle gemeinsam, das Publikum und das Ensemble. An diesen Zauber glaube ich sehr. Und dann wirkt Kultur sicher ähnlich nachhaltig wie ein schönes Buch bei Kindern. Diese Form der Kommunikation macht was mit uns, sie erzeugt Gemeinschaft. Aber man muss sich natürlich darauf einlassen. Solche Erlebnisse sind nicht einfach so zu haben, du kannst nicht einfach konsumieren wie zu Hause im Sessel und umschalten, wenn es dir zwischendurch mal nicht gefällt. Du musst dich dem widmen, dich auseinandersetzen. Darum gehe ich zum Beispiel auch so gerne ins Kino. Da kommst du aus der Nummer nicht raus, du guckst den Film vom Anfang bis zum Ende.

Du hast eben gesagt, die Kultur muss die Menschen zurückerobern. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass viele Leute die Kultur während der Pandemie ein bisschen verlernt haben.
Vielleicht ist das so wie beim Sporttreiben. Sport löst ja eine Menge aus im Körper, Glücksgefühle, Adrenalin. Ein Theaterbesuch kann ganz ähnlich wirken. Und wenn man das eine ganze Weile nicht mehr erlebt, dann vergisst man diese Erfahrung. Die Menschen haben vielleicht vergessen, was das Tolle am Theater ist, dass man live dabei ist, sich gemeinsam auf ein Thema einlässt. Und das ist nun die Aufgabe des Theaters, genau daran wieder zu erinnern.

Wir haben eben von den besonderen Live-Momenten gesprochen. Wir erleben ja in der Musik seit Jahren so einen anderen Trend zum Perfekten. Da ist alles durchgeplant und blankgeputzt, selbst die großen Shows auf der Bühne sind bis ins Kleinste durchchoreografiert, da ist jeder Schritt und jede Bewegung festgelegt. Während es die „Kellererlebnisse“ nur noch in Nischen gibt, in Hannover glücklicherweise beispielsweise noch im Jazz Club. Früher gab es mal in fast jeder Kneipe Livemusik. Das ist vorbei, weil irgendwann das Publikum ausgeblieben ist. Vielleicht, weil man sich zu sehr an das Perfekte gewöhnt hat?
Das ist ganz sicher ein Grund. Unsere Gegenwart ist längst durchkommerzialisiert – und in Teilen eben auch die Kultur. Spotify ist die Hölle für die Musikwelt. Songs sind hier nicht Kunst, sondern werden schlicht zu Produkten, zu Klicks. Die Leute hören Musik auf dem Handy, glattpoliert und eingängig. Früher hatten Schallplatten und dann CDs einen nahezu individuellen Wert. Jetzt reicht eine Pauschale und alles ist beliebig verfügbar. Aus meiner Sicht entwertet das zu einem gewissen Grad die Musik. Und bei Filmen empfinde ich es ähnlich. Ich klinge jetzt wahrscheinlich fürchterlich wertekonservativ. Was aber definitiv verlorengeht durch diese Online-Verfügbarkeit, das ist ganz sicher das Risiko der Unwissenheit. Der Auftritt einer Band ist ja ein Experiment, und früher ist man einfach losgezogen, manchmal ohne zu wissen, was einen wohl erwartet. Die Bands auf der Bühne hatten keine Angst vor der Improvisation. Heute, bei größeren Shows, weiß man ganz genau, wie sich das anhören wird. Ich finde das nicht so spannend. Ich mag es, wenn es live ein bisschen kratzt. Wenn nicht alles perfekt ist.

Ist das nicht auch der Reiz des Theaters, das Unperfekte?
Theater besteht nur aus Fehlern.

Und ich finde, genau das macht Spaß. Wenn Fehler passieren, das sind ja die einmaligen Momente. In der Musik ist es ganz ähnlich.
Ja, Perfektion ist langweilig. Und gute Kunst ist selten perfekt, sondern vielmehr zutiefst menschlich. Ich bin überzeugt, dass wir Menschen genau das brauchen. Dieses Nichtperfekte, im Grunde dieses Agieren im Fallen, das wir an uns selbst ununterbrochen wahrnehmen. Ich glaube, da findet dann ein interessanter und spannender Abgleich statt. Während ein Abgleich an einer perfekten Oberfläche einen nicht wirklich weiterbringt, beziehungsweise eher frustriert. Der Mensch ist nicht perfekt, kein Körper, kein Gedanke, kein Zusammenhang. Wir sind alle fehlerhaft. Man könnte es auch religiös ausdrücken: Wir sind alle verloren. Wir sind verlorene Seelen. Und deshalb kämpfen wir so viel mit uns und mit anderen Menschen. Die Kultur kann das spiegeln, ohne Oberflächenpolitur. Das ist dann vielleicht ganz heilsam. Ich jedenfalls bevorzuge das Unperfekte, im Film und im Theater. Es gibt natürlich Inszenierungen, die das Menschliche in schöne Schablonen drücken, aber für mich ist das nicht die Aufgabe eines öffentlich geförderten Theaters.

Wie würdest du denn diesen Auftrag definieren?
Ich finde, unser Auftrag hat sich in den vergangenen zehn Jahren noch einmal stark verändert, zuletzt noch verstärkt durch die Pandemie. Auf der einen Seite sollte die Kunst als Reibungsfeld bestehen bleiben, da ist unser Auftrag zu forschen und zu fördern, neue Blickwinkel, Perspektiven, neue Ansätze zu unterstützen. Hinzu kommt aber verstärkt, das Theater als offenen Ort zu begreifen. Da geht es um Begegnungsformate, Interaktion, Partizipation. Und ich glaube, da müssen wir noch rapide zulegen, wenn wir die Städte beleben und für die Bevölkerung relevant bleiben wollen. Dazu brauchen wir auch eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Politik. Ich beschäftige mich momentan viel mit der Frage, was für ein Ort wir tagsüber sind. Und ob wir unsere Potenziale für die Stadt voll entfaltet haben. Ich habe ja bereits zu Beginn meiner Zeit hier am Schauspiel den Plan gehabt, die Kantine zu öffnen. Und wir haben dafür einen kleinen Umbau vorgenommen. Weil ich überzeugt bin, dass sich die Kulturorte öffnen müssen. Für das Theaterpublikum, aber eben auch für Leute, die einfach nur einen Kaffee trinken wollen. Auch das schafft Berührungspunkte. Und wir müssen darüber hinaus noch viel mehr mit Initiativen der Stadt kooperieren und unser Haus zur Verfügung stellen. Ein schönes Beispiel für diesen Ansatz sind die Universen, die kuratiert bei uns Murat Dikenci, mit zunehmendem Erfolg. Da kommen inzwischen sehr viele zu den Konzerten und Workshops. Dies ist ein Ansatz, die Stadt in ihrer Diversität zu uns einzuladen und unser Zusammenleben zu thematisieren. Ob das dann Theater ist, was entsteht, oder Konzert oder etwas ganz anderes, ist nicht wichtig. Entscheidend ist, dass wir in den Dialog kommen. Es ist essentiell für die Städte, dass die Kultur lebendig und sichtbar ist. Diese sogenannten weichen Standortfaktoren werden immer wichtiger. Wir brauchen viel mehr Räume, die frei von Kommerz sind, wir brauchen Plätze, an denen sich Kultur entfalten kann. Dann wird Hannover für Künstler*innen noch attraktiver. Und die ganze City profitiert davon.

Und manchmal reichen schon kleine Impulse, um die Kultur nachhaltig zu fördern. Ich denke da an die Projektraumförderung, die in der Kunstszene in Hannover für sehr viel frischen Wind gesorgt hat. Ich würde mir solche Förderungen auch für andere Sparten wünschen, beispielsweise für die Musik. Förderung für Auftrittsorte …
Wir haben ja im Ballhof Café, das von jungen Menschen eigenständig betrieben wird, schon länger regelmäßig kleine Konzerte, das geht in diese Richtung. Und wir haben dort das „House of Many“ als Treffpunkt, für Theater und mehr.

Es braucht manchmal gar nicht viel Geld, um die richtigen Impulse zu setzen, oder?
Nein, es braucht vor allem Ideen und den Willen. Und ich glaube, Hannover muss stellenweise ein bisschen größer winken. Ich war gerade in Groningen, da gibt es mitten in der Stadt ein großes Gebäude, das Forum: Bibliothek, Kino, Restaurant, Café und offener Raum in einem. Es hat viele Freiflächen, die zum Arbeiten, Besprechen, Denken, Liegen zugänglich sind – mitten in der Stadt. Die haben dafür einige Millionen angefasst, nicht gleich eine Milliarde wie bei der Elbphilharmonie. Das Forum in Groningen ist aus meiner Sicht ein wunderschöner Leuchtturm, ein anderer Leuchtturm, nämlich einer für die Menschen ganz direkt. So etwas gibt es in Hannover noch nicht. Und ich würde mir sehr wünschen, dass wir uns an solchen Beispielen orientieren.

Erwin Schütterle hat ja mal die Idee ins Spiel gebracht, das Karstadt-Gebäude für die Kultur zu nutzen. Viele in Hannover haben das von vornherein als verrückte Idee abgetan.
So verrückt finde ich diese Idee nicht. Außerdem sind verrückte Ideen doch gut. Und die Stadt investiert ja auch sehr viel in die Wirtschaft, in die Unternehmen. Den Standort kulturell zu stärken, zahlt aus meiner Sicht ganz unmittelbar auf dieses Konto ein. Die Stadt und das Land Niedersachsen könnten das gemeinsam stemmen. Andere Städte machen vor, wie es geht. Ich denke da zum Beispiel an den Umbau des St.Pauli-Bunkers in Hamburg. Unfassbar clever. Aus einem alten Punk-Rock-Bunker in St. Pauli wird ein ökologisches Vorzeigeprojekt, grün und wild und mit der Bürgerschaft gemeinsam entwickelt.

Hamburg hat eine Menge richtig gemacht in den vergangenen Jahren. Da könnte man sich durchaus ein bisschen was abgucken, oder?
Ja, man könnte …

Lass uns noch mal kurz über dieses „für die Menschen“ sprechen. Ich hatte zum Start deiner Spielzeit und auch zum Start der Oper-Spielzeit mit Laura Berman den Eindruck, dass ihr gemeinsam ganz stark die Öffnung eurer Häuser für möglichst viele in den Mittelpunkt stellt. Dann kam Corona dazwischen. Falls diese Zeit jetzt hoffentlich vorbei ist, steht dann wieder die Öffnung ganz oben auf dem Zettel?
Auf jeden Fall. Das stand auch während Corona ganz oben, in digitaler Hinsicht. Und ich glaube, das ist nach Corona sogar noch wichtiger. Wir möchten natürlich alle einladen, uns zu besuchen und mit uns zu interagieren. Und wir möchten darüber hinaus das Theater auch zu den Leuten bringen. Wir haben gerade wieder das Theater-Mobil am Start, fahren in die Stadtteile und die Region, um junge Menschen zu erreichen. Corona hat wirklich viel angerichtet, gerade bei den Jüngeren. Es gibt eine große Verunsicherung, und ein Teil der Jungen ist ängstlich und hat sich stark zurückgezogen. Ein anderer Teil versucht, den aufgestauten Druck auszuleben, und gerät hin und wieder in Konflikt mit den Regeln. Ich würde unsere Jugend nach Corona tatsächlich als beschädigt beschreiben. Und da hat das Theater jetzt eine noch wichtigere Aufgabe als zuvor. Bei den älteren Menschen wird es dagegen nach Corona aus meiner Sicht mehr um Gemeinschaft und Optimismus gehen. Da werden wir im Programm in diese Richtung denken und ein bisschen weniger düster agieren. Da braucht es jetzt ein bisschen Sonne.

Aber bei den Kindern und Jugendlichen braucht es vor allem Aufarbeitung …
Genau, das ist auch das, was wir von den Lehrkräften hören. Manche Kinder sind während Corona regelrecht abgetaucht. Und uns waren sehr lange die Hände gebunden, es gab ja das Gebot, Schulausflüge beispielsweise ins Theater zu vermeiden. Aus meiner Sicht ein fataler Fehler und ein echtes Problem. Denn Lehrkräfte und Schulklassen holen sich bei uns etwas ab, was im normalen Unterricht sonst kaum vorkommt. Wir hatten in der Zeit vor Corona etwa 200 Workshops im Jahr, das heißt, an fast jedem Schultag war bei uns eine Klasse im Haus. Und meistens sind solche Workshops dann mit einem Aufführungsbesuch verbunden. Das alles hat gefehlt während Corona und fehlt noch. Unsere künstlerische Vermittlung ist komplett blockiert – ohne einen echten Grund. Wobei ich denke, dass an den Schulen ohnehin ganz generell nicht umfassend genug unterrichtet wird. Vieles, was wirklich wichtig ist im Leben, kommt in den Schulen arg zu kurz.

Und das Theater kann da helfen?
Ganz sicher. So ein Ausflug allein ist ja schon toll. Und dann setzen sich die Kinder intensiv zwei, drei Stunden mit einem Thema auseinander, das sie hoffentlich irgendwie herausfordert. Das sind wichtige Erfahrungen, das sollte man nicht unterschätzen. Ich war während der gesamten Corona-Zeit sehr skeptisch, was den Umgang mit Kindern und Jugendlichen anging. Ich habe viel nicht verstanden. Bisher haben sich in Theatern keine Schulklassen angesteckt, unsere Regeln sind ja ziemlich streng. Da ist die Politik den Weg des geringsten Widerstands gegangen, weil klar war, dass weder Kinder, Eltern, Lehrkräften noch wir vom Theater dagegen groß protestieren würden. Man will ja nicht wie ein Coronaleugner wirken. Trotzdem, ich stehe zu meiner Kritik. Da war einfach vieles nicht durchdacht. Corona hat uns als Theater insgesamt kalt erwischt, für die Kinder- und Jugendtheater war diese Zeit aber die Hölle.

Das ist ja das Fatale an der gesamten Situation, dass man Kritik gar nicht mehr äußern mag, weil man damit gleich in so eine Ecke gestellt wird. Dabei gäbe es sehr viel zu kritisieren und aufzuarbeiten. Wir könnten eine Menge lernen.
Ich denke auch, dass Corona viele Schwachstellen aufgezeigt hat, in sozialer und politischer Hinsicht. Dazu gehört auch, dass wir uns fragen müssen, welchen Stellenwert eigentlich Kinder in unserer Gesellschaft genießen und wie sehr ihre Interessen von der Politik repräsentiert werden. Uns sind während der Pandemie Kinder im wahrsten Sinnen des Wortes verlorengegangen, wir haben die Defizite bei der Digitalisierung gesehen, wir haben gesehen, dass nicht alle Kinder gleichermaßen mit solchen Krisen umgehen können und dass wir uns darauf einstellen müssen. Ich glaube, wir müssen ganz generell miteinander in einen neuen Diskurs einsteigen, auch weil wir eine Menge Spaltungstendenzen in der Gesellschaft haben. Die Kultur kann da übrigens eine ganz gute Medizin sein.

Findest du, dass wir in Hannover schon ausreichend miteinander im Gespräch sind?
Ehrlich gesagt sind wir aus meiner Sicht von einer wirklich lebendigen Stadtgesellschaft noch sehr weit entfernt. Und das fängt mit den Straßen an. Wir haben viele totkommerzialisierte Straßen, es gibt kaum Orte, wo man einfach nur verweilen kann, es gibt zu wenig Bänke, zu wenig Plätze und Flächen mit solchen Möglichkeiten. Was da ist, wird dann bei gutem Wetter stark frequentiert, wir sehen das ja am Opernplatz – und natürlich setzt man sich dann verbotenermaßen aufs Holocaust-Mahnmal. Darum begrüße ich sehr solche Initiativen wie die des Kulturdreiecks. Ich finde es richtig und wichtig, Orte zu schaffen, die belebt sind, ohne dass Kommerz eine Rolle spielt. Ich hoffe, dass die Idee des Kulturdreiecks jetzt auch konsequent verfolgt wird und es nicht nur bei der Idee bleibt.

Kannst du kurz erläutern, worum es beim Kulturdreieck geht?
Die Idee ist im Zuge des Innenstadtdialogs entstanden, den die Stadt im vergangenen Sommer kurz vor der Wahl initiiert hat. Da wurde unter anderem über Kulturmeilen diskutiert, von denen jetzt einige verwirklicht werden sollen. Und das Kulturdreieck hat da ganz gute Chancen. Die Eckpunkte sind die Oper, das Künstlerhaus und das Schauspielhaus. Es gibt den Plan, den Opernplatz und den Hof hier bei uns zu nutzen und auch die Sophienstraße zu beruhigen. Die Prinzenstraße muss darüber hinaus sowieso angefasst werden. Die ist in einem ganz desaströsen Zustand. Es gibt den Gedanken, dort die Aufenthaltsqualität zu befördern, für eine Begrünung zu sorgen. Ich finde, es ist generell ein guter Ansatz, Gegenwelten zu den reinen Verkehrsstraßen zu schaffen. Wir, also die drei Institutionen an den Eckpunkten, waren im Grunde Initiatorinnen dieser Entwicklung. Wir wollen unsere Häuser noch mehr öffnen. Ich habe ganz konkret vor, unser Foyer ab der nächsten Spielzeit zu öffnen. Zumindest mal temporär. In dem Sinne, dass wir vielleicht drei Tage die Woche öffnen, um den Raum als Ort zum Arbeiten oder Reden oder Chillen, aber auch für Vereine oder Initiative zur Verfügung zu stellen. Ich denke da an „start2dance“ oder den „Andersraum“. Und unser Hof ist ja sowieso ganz wunderbar, den wollen wir gemeinsam beleben. Der gehört ja der Stadt, und nicht dem Theater. Ich hoffe, dass die vielen Ideen nun auch umgesetzt werden.

Das ist etwas, was mich immer sehr zweifeln lässt, die fehlende Umsetzung. Ich habe schon viele Dialoge und Workshops kommen und gehen sehen, viele Einladungen an die Bürgerinnen und Bürger, mitzudenken und mitzumachen. Geredet und diskutiert wurde immer viel, aber passiert ist dann letztlich kaum etwas.
Meistens, weil man Geld in die Hand nehmen müsste.

Aber das weiß man ja schon vorher, oder? Mir waren diese Plattformen zur Beteiligung und Diskussion bisher zu sehr Feigenblatt. Nach dem Motto: Wir machen mal einen Bürger*innendialog – damit alle sehen, dass wir total ambitioniert sind. Sehr viel Show, wenig Zählbares …
Ich kann deine Skepsis sehr gut verstehen. Ich finde wie gesagt auch, dass Hannover viel auslässt. Das Ihme-Zentrum ist für mich ein Beispiel dafür. Das dümpelt seit Jahren vor sich hin. Für die Kultur wäre dieser Ort eine Riesenchance. Aber die ergreift niemand. Weil das natürlich mit Geld verbunden ist. Aber vielleicht auch, weil die Lobby für die Kultur nicht stark genug ist.

Ein Problem, das sich mit der Pandemie noch verstärkt hat.
Ja, das muss man ganz eindeutig so konstatieren. Und das, obwohl alle Städteentwickler feststellen, dass die Städte in Zukunft nicht mehr am Bruttosozialprodukt gemessen werden, sondern an der kulturellen Attraktivität. Da sind sie sich wirklich alle einig. Ob Leute hierherziehen, wird davon abhängen, ob Hannover insgesamt kulturell eine attraktive Stadt ist. Die Eilenriede und Herrenhausen werden nicht ausreichen, die City muss nachziehen. Die Kultur wird momentan als Standortfaktor stark unterschätzt. Und da geht es nicht allein um große Leuchttürme. Da geht es auch um die kleinen Pluspunkte. Gibt es bezahlbare Ateliers? Gibt es bezahlbare Bandprobenräume, gibt es genug Auftrittsmöglichkeiten? Gibt es ausreichend Förderungen für die kleinen Theater?

Neben der Geldfrage ist das alles auch eine Frage des Herzens, oder? Wenn man will, kann man auch mit wenig Budget viel erreichen.
Man muss zunächst mal feststellen, dass man grundsätzlich will. Und dann muss man diese Entscheidung durchhalten, im Zweifel auch gegen Widerstände. Wenn ich hier im Haus nur den Weg des geringsten Widerstandes gehen würde, dann hätte ich beispielsweise die „Universen“ nie hinbekommen. Das kostet zunächst nur Geld. Aber ich finde es eben wichtig, dass wir uns für viele unterschiedliche Communities öffnen.

Wir haben eben darüber gesprochen, dass die Kultur die Städte attraktiver macht. Was würdest du sagen, welche Rolle spielt die Kultur denn insgesamt für unsere Gesellschaft?
Kultur bedeutet Lebensqualität und Gemeinschaft, Offenheit, Vielseitigkeit. Das spiegelt sich auch in unserem Programm. Wir haben uns gesagt, dass nur eine pluralistische Gesellschaft zukünftig die Chance hat demokratisch und lebendig zu bleiben. Das war sozusagen unser Ausgangspunkt. Und dass unsere demokratischen Grundwerte nur in einer pluralistischen Gesellschaft bestehen können. Ausgrenzung, Abschottung führen in keine rosige Zukunft. Wenn sich unsere Gesellschaft auseinanderdividieren lässt, wird es schwierig. Im Theater haben wir die Chance, sehr unterschiedliche Menschen einzuladen. Und das haben wir von Beginn an forciert, im Ensemble und in der Regie. Wichtig war für uns der Dreisatz: Class / Race / Gender. Nicht zu vergessen Ability. Und wenn nun jemand sagt, dass sei sehr programmatisch, dann sage ich, Programmatik kann auch Spaß machen, kann humorvoll sein, kann einladend für alle sein. Und erfolgreich, wie man an der Einladung von „Mann seiner Klasse“, einem Stück über Armut, nach Berlin zum Theatertreffen sieht.

Ich glaube, dass manche Leute ein Problem haben, wenn so eine Programmatik zu pädagogisch, zu belehrend rüberkommt. Da regt sich dann gerne mal vehementer Widerspruch. Das Gendern ist so ein Beispiel, da ist die Diskussion ja sehr heiß geworden. Was ich nicht so wirklich nachvollziehen kann. Ich finde das gar nicht störend oder anstrengend.
Wir benutzen den Glottal-Laut des Genderns, so wie bei Besucher:innen zum Beispiel, in der Sprache eigentlich ständig, ohne dass es uns stört: Be:urteilen, ver:reißen, Spiegel:ei. Ist überall drin. Und kann sogar ganz schön klingen.

Wird aber trotzdem hochgejazzt zum Kulturkampf …
Ja, wir begeben uns mittlerweile alle sehr gerne in regelrechte Empörungsschleifen. Mir hat man gerade erst wieder vorgeworfen, dass ich angeblich „alte weiße Männer“ ausschließe. Ein großer Irrtum, zumal ich mich mein Leben lang sehr mit der Nachkriegsgesellschaft auseinandergesetzt habe, und weiß, dass diese „alten weißen Männer“ großen Anteil daran haben, dass wir den Weg in eine Demokratie gehen konnten. Dies Geschichten achte ich sehr. Mit den „alten weißen Männern“ ist ja auch nicht der einzelne Mensch gemeint, sondern eine Struktur, zu der übrigens auch „alte weiße Frauen“ gehören. Ich, zum Beispiel.

Man steht sehr schnell am Pranger …
Und es entstehen sehr schnell Missverständnis, weil der Diskurs so aufgeheizt ist. Zudem wird manches auch absichtlich missverstanden. Und was wir dann sehen, ist eine Lagerbildung. Man steht sich schließlich unversöhnlich gegenüber. Völlig unnötigerweise, wie ich finde. Teilweise steht man sich auch unversöhnlich gegenüber, obwohl man im Grunde auf der gleichen Seite steht. Da zerstören dann Animositäten und Empfindlichkeiten den Zusammenhalt. Was wiederum den eigentlichen Gegner stärkt. Und wer dieser Gegner ist, das sollte uns allen doch sehr klar sein. Unserer Demokratie droht momentan Gefahr von rechts. Das sehen wir auch in vielen anderen Ländern. Wenn sich hier bei uns die Linken zerlegen und wir uns in der Mitte spalten lassen, dann spielt das den Rechten voll in die Karten. Das heißt aber nicht, dass wir die Diskurse auslassen sollten. Wir sollten sie nur ganz anders führen. Und dafür ist das Theater ein guter Ort. Ich bin überzeugt, dass Kultur unsere Gesellschaft Widerstandsfähiger gegen rechte Tendenzen machen kann. Kultur macht Gesellschaften insgesamt resilienter.

Warum glaubst du, dass die Empörung regelmäßig solche Wellen schlägt?
Ich denke, dass es im Hintergrund meist um etwas ganz anderes geht. Beispielsweise bei der Genderdebatte. Das ist ja nun wirklich kein Thema, bei dem man sich hasserfüllt gegenüberstehen muss. Im Grunde geht es aber wohl um die Furcht, Privilegien zu verlieren. Was dabei aus dem Blick gerät, ist, dass wir unter Umständen viel gewinnen können, wenn wir auf das eine oder andere verzichten. Ich glaube, es muss eine zentrale Frage für das Theater sein, zu klären, was unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt befördert und was uns auf der anderen Seite spaltet, was uns auseinandertreibt. Und dabei ist es wohl zunächst wichtig, zu lernen, Differenzen auszuhalten. Dass man ruhig mal unterschiedlicher Meinung sein kann und trotzdem in Gemeinschaft bleibt. Das sollte unsere Aufgabe als Theater sein, das sollte generell eine Aufgabe der Kultur sein. Zu verbinden, die Leute zusammenzubringen. Mit Stücken und Themen, die durchaus für Kontroversen sorgen. Bei „Volksfeind“ streiten die Leute im Nachgang beispielsweise wahnsinnig.


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