Ein letztes Wort im April

Wir müssen sprechen – und das hätte ich nie für möglich gehalten – über einen Krieg mitten in Europa. Gehen wir mal an den Anfang: Über welchen Weg haben Sie die ersten Nachrichten über den russischen Einmarsch erreicht?
Das war ja an einem Donnerstag. Ich habe, wie immer nach dem Aufstehen, mein Tablet aufgeschlagen und nach meinen E-Mails gesehen, und da gab es eine mit dem Betreff „Russischer Einmarsch in die Ukraine“. Das hat natürlich alles über den Haufen geworfen. Das war eine Zäsur. Ein Einschnitt, der in seinen Auswirkungen wahrscheinlich noch weitaus stärker sein wird als 9/11. Wir reden jetzt Mitte März, die Konsequenzen kann wohl noch niemand ganz ermessen.

Ich habe es zuerst gar nicht wahrhaben wollen …
Ich habe in den Wochen zuvor eigentlich immer die Hoffnung gehabt und auch daran geglaubt, dass dieser Einmarsch am Ende nicht kommen würde. Weil ich in der russischen Politik immer noch einen Rest Rationalität gesehen oder vielleicht zumindest erhofft hatte. Inzwischen ist sie hochgradig irrational, verheerend für die Menschen in der Ukraine, aber nach meiner Überzeugung auch sehr, sehr selbstschädigend.

Ich hatte die Befürchtung, dass Russland in die Ukraine einmarschiert, seit ich einige historische Vorträge von Putin gehört hatte …
Ja, das ist Ausdruck dieser Irrationalität und unverhohlenes völkisches Denken. Da haben wir früher nicht genau genug hingehört.

Wenn wir jetzt mal zum Stand heute springen, zu einer Ukraine, die sich wehrt, zu einem Schulterschluss des Westens – hat Putin sich verschätzt?
Wahrscheinlich hat er mindestens die Tapferkeit der Ukraine unterschätzt, die hohe Bereitschaft, Widerstand zu leisten. Er hat zudem das Leistungsvermögen seiner eigenen Armee überschätzt. Und er hat wiederum die Härte der Konsequenzen unterschätzt, die der Westen nun sehr geschlossen umgesetzt hat. Es sind zu Recht sehr harte Maßnahmen, die tiefe Spuren in der russischen Wirtschaft hinterlassen werden. Und so habe ich, Stand heute, den Eindruck, es läuft insgesamt sehr anders als man sich das im Kreml vorgestellt hat.

Deutschland hat da zuerst nicht unbedingt eine gute Figur gemacht. Man gehörte anfangs eher zu denen, die zögerlich waren mit wirklich harten Sanktionen …
Ich habe eher den Eindruck, dass es im Vorfeld eine sehr intensive Abstimmung des Westens gegeben und die Bundesregierung genau in diesem Rahmen gehandelt hat. Man kann sagen, dass die Regierungserklärung von Olaf Scholz am Sonntag nach dem Einmarsch historisch war. Die Konsequenz, mit der Deutschland im Anschluss seine Politik geändert hat, finde ich beeindruckend.

In der Rückschau war man wahrscheinlich lange nicht konsequent genug …
Ja, im Nachhinein müssen wir uns einfach eingestehen, dass wir nicht wahrhaben wollten, dass die russische Politik nun wirklich endgültig in die Irrationalität abgedriftet ist. Das ist jetzt Imperialismus pur. Dieser Imperialismus stößt allerdings auf eine immense und geschlossene Gegenwehr, in der Ukraine und international. Ich fand es zum Beispiel gut zu sehen, dass in der Vollversammlung der Vereinten Nationen gerade mal vier Staaten an Russlands Seite gestanden haben. Außer Russland selbst waren das Nordkorea, Syrien, Eritrea und Belarus. 141 Staaten haben Russland aufgefordert, den Angriffskrieg sofort zu beenden. Ein ganz starkes Signal. Weil man nicht zulassen darf, dass die Regeln so eklatant gebrochen werden. Wobei ich mir insbesondere von China eine noch viel klarere Haltung wünschen würde.

Die Haltung von China, sich zu enthalten, wurde ja von manchen schon als positiv gewertet.
Ja, aber das ist nicht genug. Wir hatten jetzt 50 Jahre lang ein System von kollektiver Sicherheit – mit Beginn der Ostpolitik, mit Helsinki, wo die Unverletzlichkeit der jeweiligen Grenzen anerkannt wurde, mit vielen weiteren internationalen Abkommen, mit dem Fall der Mauer, mit dem Ende des Kalten Krieges Ende der 80er Jahre. Putin hat nun sehr brutal die Schwachstelle dieses Systems aufgezeigt. Das System setzt nämlich voraus, dass sich alle an die gegenseitigen Zusicherungen halten. Es muss jetzt das klare Signal geben, dass man gut daran tut, sich künftig wieder daran zu halten.

Ein komplettes Embargo von russischem Öl und Gas lehnt Deutschland weiter ab. Wobei die Bevölkerung das durchaus mittragen würde. Wenn ich die Begründungen aus der Politik dazu höre, wird von den wirtschaftlichen Schäden und vom kommenden Winter gesprochen. Aber muss es nicht genau jetzt darum gehen, Russland maximal die Grenzen aufzuzeigen?
Das muss sehr genau bedacht sein. Wir haben genug Reserven für diese Heizperiode, aber eben nicht genug für die nächste. Und wenn Deutschland sich einem solchen Embargo anschließen würde, obwohl wir überdurchschnittlich auf russisches Gas angewiesen sind, dann wäre die Folge wahrscheinlich eine wirklich harte Wirtschaftskrise. Viele energieintensive Unternehmen, die vor allem von Erdgas abhängig sind, würden massiv unter Druck geraten, viele müssten aufgeben. Diese Firmen würden dann auch nicht mehr wiederkommen. Ich denke da beispielsweise an die Stahlindustrie – am Ende würden dabei auch neue Abhängigkeiten u.a. zu China entstehen. Diese Gefahren muss eine verantwortungsbewusste Politik mit einkalkulieren. Ich verstehe durchaus den Impuls, dass man an allen Stellen versucht, Russland jetzt die rote Karte zu zeigen, aber wir müssen immer auch auf die Folgen im eigenen Land achten, und die wären in diesem Fall, so fürchte ich, dramatisch.

Das ist ja jetzt insgesamt die Gretchenfrage. Wandel durch Handel ist offensichtlich gescheitert, insofern muss jetzt ohnehin ziemlich hart umgesteuert werden.
Wir werden diese Abhängigkeit von russischem Erdgas sehr schnell und sehr konsequent reduzieren müssen. Darum sehen wir nun zum Beispiel auch fast über Nacht den Kurswechsel bei Robert Habeck, der jetzt für LNG-Importe plädiert. Die Konsequenz ist grundsätzlich klar: Deutschland muss raus aus dieser abhängigen Position. Wenn man das jetzt aber sehr hart und schnell mit einem Embargo machte, dann hätte man es voraussichtlich mit sehr großen und nicht wieder zu reparierenden Schäden zu tun. Da geht es also nicht nur darum, ob wir mal ein paar Wochen frieren, sondern da geht es um deutlich mehr.

Wenn Sie zurückblicken auf die vergangenen Jahre, auf die Idee eines Wandels durch Handel, auch immer wieder befördert durch die SPD, dann muss man heute von einem Fehler sprechen, oder?
Ich denke, der Fehler war eher, dass wir insbesondere die Erneuerbaren nicht genug ausgebaut haben. Der Ausbau ist in den letzten Jahren ja fast zum Erliegen gekommen, und das war in der Tat ein krasser Fehler. Das war für den Klimaschutz schlecht, und es war schlecht für die Energieunabhängigkeit. Uns hat ein längerfristiger, strategischer Kompass in der deutschen Energiepolitik gefehlt. Das muss man kritisieren, das kann niemand mehr bestreiten.

Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, das weiß ich aus vielen Gesprächen, hätten wir bereits seit Jahren ein Drehbuch.
Ja, ein sehr konkretes Drehbuch, mit dem wir heute bereits einen wesentlichen Schritt weiter wären.

Müssen wir uns auch im Handel insgesamt ganz neu aufstellen? Muss man jetzt sagen, wenn bestimmte Grundrechte in einem Land nicht eingehalten werden, dann gibt es keinen Handel?
Das ist ganz schwer. Wenn ich es richtig sehe, dann lebt nur eine ziemlich kleine Minderheit der Menschen weltweit unter den gleichen demokratischen Bedingungen wie wir hier in Deutschland – was die persönlichen Freiheitsrechte anbelangt, etc. Alle anderen haben, gemessen an unserem Standard, diverse Abstriche hinzunehmen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir auf solche eklatanten Völkerrechtsverstöße, wie wir sie jetzt in der Ukraine erleben, hart reagieren müssen. Aber ob wir generell unsere Maßstäbe auf die inneren Verhältnisse in den Ländern anwenden können, da mache ich ein Fragezeichen. Und erinnere an Nelson Mandela, der sich nach dem Ende der Apartheid in Südafrika ausdrücklich bei den westlichen Unternehmen bedankt hat, die dageblieben sind. Das sei für viele Menschen ein Zeichen der Hoffnung gewesen. Ich bin relativ sicher, dass ein Boykott die Situation dort für die Opfer der Apartheid eher verschlechtert hätte. Es bleibt eine extrem schwierige Frage und die perfekte Antwort haben wir wohl alle nicht.
● Interview: Lars Kompa

 


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