Olaf Arndt: Kaisergabel

Kaisergabel – was verbirgt sich hinter diesem Namen? Das Besteck von Wilhelm II.? Nicht wirklich. Gemeint ist vielmehr ein Straßenbauwerk, das der hannoversche Stadtbaumeister Rudolf Hillebrecht in den 1950ern als Teil eines Schnellwegnetzes nach den Vorstellungen der autogerechten Stadt entwickelt hat und das heute die Stadtteile Ricklingen und Linden-Süd miteinander verbindet. Die Bauwerksbezeichnung „Kaisergabel“ geht auf die in unmittelbarer Nähe gelegene Kaiser-Brauerei zurück, die in den 1980er Jahren geschlossen wurde und bis zum Abriss im vorigen Jahr als Fitnesscenter genutzt wurde.

So viel zur Realität. In der Fiktion von Olaf Arndts zweitem Roman ist die Kaisergabel  aber vor allem der Schlüssel zur Befreiung von einer Familie, deren Geschichte von Lügen, Verdrängung und Abstiegsängsten geprägt ist: Die Handlung setzt ein im Jahr 1975. Mike Mandt möchte möglichst schnell weg – wenn es sein muss, auf die erdabgewandte Seite des Mondes. Es ist schon schlimm genug, dass er einen äußerst bescheuerten, alliterierenden Namen tragen muss – „MM, die Schokolinse mit Erdnussfüllung. Eine süße Selbstverarschung auf Stöckerbeinen“ –, doch er lebt mit seiner Familie auch noch den Kleinbürgeralbtraum inklusive mondäner Stadtrandvilla in Ricklingen. Auf diesen gehobenen Status ist seine Mutter Erika jedoch enorm stolz, denn sie stammt aus ärmlichen Verhältnissen, einem Mittelgebirgsdorf an der tschechischen Grenze. Ihr Alltag ist davon beherrscht, potenzielle Abstiegsgefahren im Keim zu ersticken und ihre Familie mit aller gebotenen Strenge vor Ausrutschern zu bewahren. Ihren Mann, der als Maurer mit kommunistischen Tendenzen angefangen hat, konnte sie durch kluge Gängelung auf eine höhere Karriereschiene befördern. Als Ingenieur, verbeamtet auf Lebenszeit, hat er sogar die Kaisergabel erdacht. Schwieriger gestaltet sich die Überwachung ihrer beiden Kinder Mike, der sich in den Kopf gesetzt hat, Dichter zu werden, und Katharina Verena, genannt „Q“, die eine anarchistische Ader zeigt. Doch hierfür hat Erika, die, so mutmaßt Mike, „sicherlich Diktatorin geworden“ wäre, „wenn es zu ihrer Zeit schon freie Berufswahl für Frauen gegeben hätte“, eine subtilere Methodik entwickelt: Die totale Kontrolle durch Einrichtung. Nichts kann im Haus getan werden ohne ihr Wissen, heimliche Unternehmungen müssen mit größtmöglicher Sorgfalt durchgeführt werden. Es ist also reichlich riskant, was die beiden Geschwister planen: Sie wollen die Geschichte ihrer Familie ergründen, ein „Sippenpanorama“ erstellen, das vor allem die totgeschwiegene und verdrängte Vergangenheit der Mutter offenlegt. Hierfür spionieren die Geschwister in Abwesenheit der Eltern im Familiensafe, durchforsten die Konstruktionspläne des Hauses und Kartons voller Dias und halten alle ihre Erkenntnisse auf Kassette oder auf der Schreibmaschine fest. Gemeinsam wollen Sie die Lebenslügen ihrer Familie aufdecken …
Mit „Kaisergabel“ gelingt Olaf Arndt der bemerkenswerte Spagat zwischen „locker erzählt“ und „perfekt durchkomponiert“. Die anspruchsvolle Romankonstruktion mit mehreren Zeitebenen ermöglicht es, vor dem Hintergrund realer topografischer und stadthistorischer Details eine komplexe Familienchronik zu entwerfen, die vom 20. bis zum 21. Jahrhundert reicht und mit skurrilen Elementen angereichert ist. Das wahrscheinlich augenscheinlichste und unergründlichste ist dabei die Schwester Q, bei der man nicht weiß, ob sie überhaupt existiert – ob sie vielleicht doch von der Mutter abgetrieben wurde – und sie von Mike als eine Art Über-Schwester und ideale Partnerin für sein Vorhaben nur imaginiert wird. Auf der anderen Seite sorgt die Einbindung verschiedener Konsumgüter der Zeit, an die sich so manche der heutigen Lesenden als damals begehrte oder besessene Statussymbole erinnern werden, für Nostalgie – und streicht die materielle Seite des Aufstiegskampfs nochmals heraus.
Die „Kaisergabel“ ist Olaf Arndts zweiter Roman nach seinem Debütwerk „Unterdeutschland“, das 2020 erschienen ist und von Ermittlungen zu einer terroristischen Wolkenverschwörung im „tiefen Staat“ handelt. Zuvor hat Arndt aber schon zahlreiche Prosa- und Lyrik-Publikationen in Underground-Literatur-Zeitschriften wie „Minerva“, „floppy myriapoda“, „Gegner“ oder „Abwärts“ veröffentlicht sowie verschiedenste künstlerische Projekte durchgeführt. Er ist außerdem Gründungsmitglied der Künstlergruppe BBM („Beobachter der Bediener von Maschinen“), die sich mit der Zurichtung des Menschen durch technische, ideologische und architektonische Maßnahmen beschäftigt.                 ● Anja Dolatta

Mehr Infos zu Autor und Werk gibt es auf https://olaf.bbm.de.

 

 

 

 

Kaisergabel
von Olaf Arndt
mox & maritz
244 Seiten
19,80 Euro


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