Tag Archive | "2021-11"

Ein letztes Wort im November

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Ein letztes Wort im November


Herr Weil, als wir vor einigen Monaten über die SPD und Olaf Scholz gesprochen haben, waren Sie ausgesprochen optimistisch – und ich habe sehr gezweifelt. Und mich gefragt, woher Sie bloß diesen Optimismus nehmen. Jetzt ist Olaf Scholz schon beinahe Bundeskanzler. Verraten Sie mir Ihren Trick? Wo haben Sie die Glaskugel versteckt?
Ein Trick war´s nicht und Prophet bin ich auch nicht. Eines war mir allerdings klar: Je näher die Wahl kommt, desto mehr werden die Wählerinnen und Wähler realisieren, dass die Ära Merkel im Kanzleramt endet. Und dass dann entscheidend sein wird, wem die Bürgerinnen und Bürger dieses wichtige Amt zutrauen und dass Olaf Scholz dafür die richtige Kragenweite hat. Damit lag ich offensichtlich nicht ganz falsch.

Sie haben von Anfang an Olaf Scholz für die genau richtige Wahl gehalten und die SPD nie abgeschrieben. Ich hatte – ehrlich gesagt – schon einen Haken dran gemacht und nach der Nominierung von Olaf Scholz erst recht. Was ist da passiert in den vergangenen Monaten?
Nun, die SPD hatte den richtigen Kandidaten und den hat sie auch geschlossen unterstützt. Am Ende des Tages muss man aber ehrlicherweise auch sagen: Die Fehler der politischen Mitbewerberinnen und Mitbewerber haben sicherlich ebenfalls ihren Teil zum Wahlerfolg der SPD und vor allem von Olaf Scholz beigetragen.

Die Grünen und die CDU haben stellenweise ziemlich mies performt …
Das stimmt und hat mich echt überrascht. Dass die CDU einmal die früheren Fehler der SPD locker überbieten wird, hätte wohl keiner für möglich gehalten. Zerstritten, keine inhaltliche Profilierung und offensichtlich der falsche Kandidat. Bei den Grünen waren es wohl am Ende auch zu viele Stolperfehler. Aber nur durch die Fehler der anderen gewinnt man keine Wahlen. Olaf Scholz und die SPD haben deutlich besser geschafft, Vertrauen in sehr instabilen Zeiten zu vermitteln.

Die CDU hat auf der Zielgeraden heftig verloren. Hat sich damit die Parteienlandschaft in Deutschland nun nachhaltig verändert?
Wir wissen schon seit langem, dass die Parteibindungen nicht mehr so stark sind und es immer mehr Wählerinnen und Wähler gibt, die sich kurzfristig entscheiden, bei wem sie ihr Kreuz machen. Beim Lied auf das Ende der Volksparteien stimme ich allerdings nicht laut mit ein – die SPD jedenfalls hat den Anspruch, möglichst viele Interessen des Volkes zu vereinen und zu vertreten. Das gilt sicher auch für die CDU. Und wir haben parallel zur Bundestagswahl in Mecklenburg-Vorpommern gesehen, dass die SPD mit Manuela Schwesig fast 40 Prozent der Stimmen erreicht hat. Für eine stabile Demokratie ist es meines Erachtens auch sehr wichtig, dass es Parteien gibt, die nicht nur auf die Interessen einzelner Bevölkerungsgruppen oder auf einzelne Themenbereiche ausgerichtet sind.

Was geht Ihnen so durch den Kopf, wenn Sie sehen, was in der CDU/CSU momentan passiert.
Als Sozialdemokrat kenne ich aus leidvoller Erfahrung in den vergangenen Jahren, was in der Union derzeit passiert. Deshalb glaube ich auch, dass die internen Kämpfe in der Union noch länger dauern werden. Mit einer neuen Parteiführung ist das nicht getan.

Kommen wir mal zu dem, was jetzt ansteht. Aus meiner Sicht haben wir es in Deutschland ja insgesamt mit einem Nimb-Problem zu tun – Not in my backyard. Oder sagen wir Sankt-Florian-Prinzip. Die Leute wollen z.B. Klimaschutz, das alles soll aber möglichst nichts kosten und auch nicht zu anstrengend sein. Und wer das Wort „Verzicht“ in den Mund nimmt, hat schon verloren. Nach der Regierungsbildung ist es höchste Zeit für ein paar unangenehme Wahrheiten, oder?
Die Karten liegen doch schon länger auf dem Tisch. Wir wollen den Atomausstieg, wir wollen den Kohleausstieg, aber irgendwo muss der Strom herkommen – und damit meine ich nicht importierten Atomstrom aus Frankreich. Für die Energiewende brauchen wir mehr Windräder und mehr Leitungen. Wir kommen derzeit nur sehr langsam voran, weil buchstäblich jedes Vorhaben auf Protest und Ablehnung stößt. Wir müssen wesentlich schneller und unkomplizierter werden.

Momentan, Mitte Oktober, laufen die schwierigen Verhandlungen in Berlin. Und Stand heute ist eine Ampel sehr wahrscheinlich. Gibt es Punkte, die Ihnen besonders wichtig sind?
Es gibt vor allem eine gewaltige zentrale Herausforderung für die neue Bundesregierung: Sie muss den Wandel hin zu einer klimafreundlichen Industrieproduktion, zu einer emissionsarmen Mobilität etc. gestalten und steuern – ohne dass dabei große soziale und wirtschaftliche Schieflagen entstehen. Das ist eine Mammutaufgabe.

Gibt es für Sie persönlich rote Linien Richtung FDP?
Grundsätzlich ist niemand gut beraten, bei Verhandlungen viele rote Linien zu ziehen – einige schwierige Punkte sind ja bereits im Rahmen der Sondierung ausgeräumt worden, wie beispielsweise die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro. Aber insgesamt liegt noch viel Arbeit an, bis die neue Regierung steht.

Ein ganz zentrales Thema ist die Energiewende. Dass Sie ein Drehbuch vermissen, einen klugen Masterplan, das sagen Sie schon seit einigen Jahren. Haben Sie Hoffnung, dass dieser Wurf jetzt endlich gelingen kann?
Er muss gelingen, alles andere wäre fatal. Ich bin allerdings auch optimistisch, denn SPD, Grüne und FDP sind jeweils für einen Aufbruch angetreten. Wenn es gelingt, die Idee von einer Gesellschaft mit sozialer Gerechtigkeit, wirtschaftlichem Erfolg und ökologischer Verantwortung in konkreten Vorhaben zu übersetzen, wird es ein sehr interessantes Programm zur Modernisierung Deutschlands insgesamt werden.

Können Sie mit ein paar Sätzen umreißen, was aus Ihrer Sicht passieren muss in Sachen Energiewende?
Das kann ich in einem Satz auf den Punkt bringen: Wir brauchen vor allem sehr viel mehr Erneuerbare Energie und das sehr, sehr schnell.

Werden Sie in Berlin mitreden bei diesem Thema? Und werden Sie auch bei anderen Themen mitreden?
Niedersachsen sitzt sicherlich mit am Tisch. Als Windenergieland Nr.1 mit starker Industrie und Landwirtschaft sehen wir große Herausforderungen, aber vor allem auch große Chancen für die Entwicklung unseres Landes. Und dafür werden wir uns sehr engagieren.

                      ● Interview: Lars Kompa

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Funtasiemobil – Kinderevents im Bauwagen mit Spaßfaktor

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Funtasiemobil – Kinderevents im Bauwagen mit Spaßfaktor


Wenn das Funtasiemobil von Sandy Jäger vor der Tür steht, dann ist Spaß garantiert: Aus einem Bauwagen hat sie eine bunte, mobile Werkstatt zum Basteln, Tüfteln und Experimentieren geschaffen, die zu jedem Ort, zu Events oder individuell nach Hause kommt. Das großartige Erlebnis, mit den eigenen Händen etwas zu erschaffen, begeistert nicht nur Kinder, sondern inzwischen auch Senior*innen. Das Konzept von Sandy Jäger hat auch die Jury beim diesjährigen Startup-Impuls Wettbewerb überzeugt. Das Funtasiemobil der erfahrenen Veranstaltungskauffrau hat den zweiten Preis in der Rubrik „Solo-Start“ gewonnen.

Sandy Jäger führt aus, was das Besondere an ihrer Idee ist: „Bei Events oder Privatveranstaltungen, die tagsüber stattfinden, wollen Kinder Spannendes erleben. Und genau da setzt das Funtasiemobil an. Wie bei einem Kindergeburtstag wird jede Veranstaltung individuell geplant, von der Idee bis zur Durchführung. Ganz wichtig ist mir, dass Kinder Spaß im Umgang mit Werkzeug bekommen. Ich habe zum Beispiel festgestellt, dass viele Kinder noch nie einen Hammer in der Hand hatten. Das wollen wir ändern. Und wer weiß – vielleicht fördern wir so bereits die Begeisterung fürs Handwerk?! Inzwischen sind wir nicht nur bei Veranstaltungen und Kindergeburtstagen mit dem Bauwagen unterwegs. Wir bieten jetzt auch Bau-Sets für Senior*innen in Heimen an und organisieren Handwerkworkshops für Menschen, die einfache Tipps für den eigenen Haushalt brauchen.“
Die Idee entstand, als Sandy noch Abteilungsleiterin in einer Eventagentur und viel unterwegs war, wenig Schlaf bekam und viel Arbeit hatte. Als ihr zweites Kind kam, wollte sie dann Beruf und Familie besser vereinbaren können und hat das Konzept Funtasiemobil in die Tat umgesetzt, erinnert sie sich: „Das wollte ich eigentlich erst sehr viel später machen. Jetzt arbeite ich zusammen mit meinem Lebenspartner an meinen Ideen und Umsetzungen, und unsere Kinder sind die besten Berater. Vor allem bei den Bau-Sets, die ja schließlich den Kindern Spaß machen sollen.“
Corona hat die Entwicklung dabei nur auf der einen Seite beeinträchtigt, wie sie erzählt: „Ich habe 2020 mit dem Funtasiemobil angefangen und konnte durch Corona nur sehr wenige Veranstaltungen umsetzen. Ich habe aber die Zeit genutzt, um viele neue Ideen zu entwickeln. So ist die Funtasietüte mit kleinen Bastel- und Werkaktionen entstanden, die inzwischen auch in Senioreneinrichtungen eingesetzt wird. Die Produkte gibt es in unserem Onlineshop, so dass ich nicht mehr nur auf die Region beschränkt bin. Die ersten Pakete wurden bereits ins Ausland geliefert. Außerdem habe ich während des Lockdowns in meinem Ort viele kostenfreie Events angeboten, um den Familien und insbesondere den Kindern eine Abwechslung im Corona-Alltag zu bieten. Es gab eine Ackergalerie mit Kreidekunst, eine Plüschtiersafari, eine Tüfteltour und die Malaktion Huhnwalk. Damit habe ich zwar kein Geld verdient, konnte aber meiner Kreativität freien Lauf lassen und habe gleichzeitig für etwas Abwechslung im Ort gesorgt, was dankbar und mit viel Zuspruch angenommen wurde.“
Zuspruch für andere Gründer*innen hat Sandy auch parat: „Nicht aufgeben und sich nicht von Krisen unterkriegen lassen. Schaut über den Tellerrand, seid weitsichtig und hartnäckig. Manchmal auch gegen euch selbst. Seid kreativ und denkt nicht nur ans Geld. Und springt über euren Schatten, wenn ihr Hilfe braucht. Denkt an Dinge, die euch selber glücklich machen. Meine kostenfreien Corona-Aktionen haben mir ganz viel gegeben: eine erfüllende Aufgabe, tolle Kontakte und nicht zuletzt konnte ich mein Unternehmen präsentieren. Ich habe an Gründungsberatungen für Frauen teilgenommen, war beim Beratungstag dabei und bin dadurch auf den Wettbewerb ‚Startup-Impuls‘ aufmerksam gemacht worden. Auch zum Thema Coronahilfe wurde mir hier sehr gut geholfen. Ich habe immer wertvolle Tipps bekommen, für die ich sehr dankbar bin.“

Funtasiemobil – mobile Werkstatt zum
Basteln, Tüfteln und Experimentieren
Sandy Jäger
Steller Str. 96, 30916 Isernhagen
Tel. 0160 94655911
www.funtasiemobil.de

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Tonträger im November

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Tonträger im November


Stick A Bush: Strictly Jub
2019 in Wien gegründet von Musikern, die während des Jazz-Studiums zueinander fanden und gleichzeitig ihre Leidenschaft für jamaikanische Musik ausleben wollten. Die Kombination ergibt Roots-Reggae mit Jazz-Einschlag, der in starken Soli, harmonischem Layout und im improvisatorischen Interplay bei ausgedehnten Dub-Parts seinen Ausdruck findet. Jazz plus Dub macht dann Jub.

 

 

 

 

 

Matthew E. White: K Bay
Das jüngste Werk des US-amerikanischen Sängers und Musikproduzenten und sein „new first record“: elf stilistisch kaum zu erfassende, überschwängliche, überdrehte Songs mit souligen Avancen an die 70er- und 80er-Jahre und einer wohldosierten Portion Drama. Der Titel des Albums ist eine Hommage an Whites Heimstudio Kensington Bay, sein privates Aufnahme-Refugium in Richmond, Virginia.

 

 

 

 

 

Sam Himself: Power Ballads
Das Debütalbum des Basler Wahl-New Yorkers und selbsternannten „Fondue-Western-Baritons“ vereint melancholisch flockigen Indie-Pop um programmierte Drums und Synthesizer mit einem Tupfer Lloyd Cole. Entstanden während des ersten Lockdowns, als er gezwungen war, sich in Basel niederzulassen, sind die Songs geprägt von der Einsamkeit dieser seltsamen Zeit zwischen Exil und Zuhause.

 

 

 

 

 

Parcels: Day/Night
Ziemlich Disco und ansonsten ziemlich schwer einzuordnen sind die australischen Berliner noch immer. Auf ihrem dritten Album, das sich in eine Tag- und eine Nachtseite teilt, haben sie nun viel Platz für Ausbrüche aller Art. Klassisches Songwriting, Pop, cineastische Breite, fünfstimmige Gesangsharmonien, Sonnenuntergangs-Jazz, alles ein bisschen Disco und manches ein bisschen Daft Punk.

 

 

 

 

 

Hippotraktor: Meridian
Die Progressive-Post-Metal-Band aus dem belgischen Mechelen hat sich seit ihrer gefeierten Debüt-EP „P’Eau“ von 2018 entscheidend gewandelt: Mit der Aufnahme der Sänger Stefan De Graef und Sander Rom mutierte das Instrumental-Trio zu einer Band, die nicht nur durch hochkomplexe, krachige Riffs, sondern auch durch die Kombination von harmonisch schönem Gesang und Screaming besticht.

 

 

 

 

 

Molybaron: The Mutiny
Gegründet 2014 in Paris als irisch-französische Kooperation, ist der Band jetzt der Nachfolger ihres Debütalbums von 2017 so fantastisch gelungen, dass Fans von technisch anspruchsvollem, progressiv vertracktem Metal mit krachend eingängigen Hooklines à la SOAD die Ohren spitzen sollten. Nicht stören darf man sich am sehr dezenten gesanglichen Mittelalterrock-Unterton.

 

 

 

 

 

Lucas Uecker: Schöne Dinge
Das zweite Solowerk des Liedfett-Gitarristen ist ein schöner Beweis dafür, dass man nicht mal versuchen muss, das Rad neu zu erfinden, um ein unlangweiliges, auf ganz vielen Ebenen tolles Album zu machen. Sein klug arrangierter Singer-Songwriter-Pop, mal sparsam und auch mal ganz breit orchestriert, erinnert an Selig, vielleicht sogar manchmal ein ganz bisschen an Jan Delay. Und wenn Uecker mit leicht angekratzter Stimme ausruft „Lass es sein, du weißt doch, wo das hinführt“, tröstet das nicht nur über ein, zwei Ausreißer hinweg. Spätestens wenn nach dem Refrain die Trompete einsetzt, ahnt man, dass man es mal wieder nicht sein lassen wird. Oder vielleicht doch, aber es gibt immerhin einen Soundtrack dazu. Melancholisch, dann wieder lustig, Trauer neben Hoffnung, Angst neben Überschwang – der Hamburger ist stets eloquent, ohne sich in prätentiöse Floskeln zu flüchten.

 

 

The Grease Traps: Solid Ground
Das Debüt der 8-köpfigen Deep Funk- und Soul-Band aus Oakland, Kalifornien, huldigt nicht nur auf dem Cover dem analogen Old-School-Sound, es wurde auch auf einem „Tascam 388“ 8-Spur-Tonbandgerät aufgenommen. Ursprünglich als Nebenprojekt von Keyboarder Aaron Julin und Gitarrist Kevin O’Dea geplant, die sich mit weniger bekannten Blue Note-Künstlern wie Grant Green und Lou Donaldson befassen wollten, betrieben sie die Band einige Jahre als Instrumentalquartett, bevor sie ihr Personal um Bläser sowie den Soulbrother The Gata als Lead-Sänger erweiterten. Inzwischen haben sie die Bühne mit Acts wie Shuggie Otis, Durand Jones, Monophonics und Jungle Fire geteilt. Die Traps (wesentlich coolere Kurzform des Namens, den man mit „Die Fettabscheider“ übersetzen dürfte) greifen diverse Einflüsse auf, von psychedelischem bis Lowrider-Soul und rohem, düsteren Funk.                                                                                                            ● Annika Bachem

 

 

 

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Rüpel

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Rüpel


Quasi noch an der Limmerstraße gelegen, dort, wo an der Ecke Kötnerholzweg vorher das Vino y mas lokalisiert war, hat Lennart Röbbel Ende Juni einen Concept Store für schöne Dinge und Lebensmittel aufgemacht. Der 32-Jährige lernte im Sternehaus Ole Deele und bietet in seinem Bistro gutbürgerliche, kreative Gemüseküche an, die Saison- und Produktvielfalt der Region im Stilmix aus Aromen und Texturen abwechslungsreich in Szene setzt. Zum Mitnehmen, Selberkochen oder vor Ort mit Freunden teilen.

Im Oktober steht nur noch ein Stehtisch vor der Tür, auf selbstgezimmerten „Fenster-Bänken“ können ein paar Menschen draußen vor dem Schaufensterplatz sitzen, doch der Terrassenbereich wird ohnehin erst wieder im Frühjahr interessant. Momentan ist es interessanter zu wissen, dass man keineswegs die Öffnungszeiten verpasst hat, wenn man erfolglos an der Klinke rüttelt – hier heißt es Augenkontakt zur Servicekraft suchen, dann steht man auch nicht lange wie ein ungebetener Gast vor der rüpelhaft verschlossenen Tür.
Ab 17 Uhr kann man die eigentlich sehr freundlichen Angestellten dann zum Öffnen herbeizwinkern, damit man im kleinen Bistro schon einmal die Einmachgläser bewundern kann, in denen der Küchenchef Chili, Gemüse oder Knoblauch fermentiert. Röbbel hat eine eigene Essigkultur angelegt, die sich bei jedem Ansatz weiterentwickelt und seine Essige einzigartig macht. Den hauseigenen Apfel-, Birnen- oder Hagebuttenessig, Lauchöl oder Quittensirup, das Dressing vom hauseigenen Miso, was sich auch in einigen Speisen wiederfindet, spritzigen Apfel-Quitten-Schaumwein mit 100% Frucht aus dem Schaumburger Land, Gemüsesuppe oder Zwiebelaufstrich und vieles mehr kann man hier erstehen, je nach Jahreszeit, Zeit und Laune des Herstellers. An fast allen Dingen im Ladenlokal finden sich kleine Klebchen, die auf schöne Geschenkideen hinweisen – eventuell zum Selberaussuchen auf der Weihnachtsfeier, denn Privat- und Firmenfeiern werden vom Rüpel ab 12 Personen ausgerichtet. Je nach Lust und Laune wird Rüpel-Röbbel sein Angebot und seine Karte ergänzen und verändern, einmal im Monat ist ein „Supper-Club“ mit Sieben-Gänge-Menü (für 80 Euro) geplant.
Wer jetzt sofort Hunger hat, wird an der Theke fündig, wo es eine Schüssel schnelles Essen auf die Hand (für 11,90 Euro) gibt, quasi eine Probier-Kombi aus den Tapas des Hauses. Von diesem „Zeug zum Teilen mit Freunden“ braucht es nach eigener Erfahrung zu zweit mindestens sechs Portiönchen, sollte einer der beiden groß sein und einen gesunden Appetit mitbringen. Wir haben uns das Testessen abgeholt und stürzen uns vorfreudig auf die witzigen Kerbelknollen (für 11,50 Euro) – zwergenhütchenhafte Kerbelwurzeln, die von schmackhafter Knoblauch-Miso-Mayo und knusprigen Chips aus der Edelknolle umlagert und mit dem ihr eigenen Küchenkraut und anderen kräftiggrünen Blättern gekrönt sind. Der Echte Kerbel oder Gartenkerbel ähnelt vom Aroma her der Petersilie und dem Anis, der nussige, leicht süßliche Geschmack der Knolle erinnert an Edelkastanien. Das Wintergemüse ist selten, reift nach der Ernte noch bis zu vier Monate nach und ist daher auch recht teuer. Eine inspirierende Neu- bzw. Wiederentdeckung und ein Dankeschön an den Knollen-Flüsterer, der sie so ansprechend vorstellt! Der Knödel aus Sauerteigbrot (für 11 Euro) mit Lauch besticht optisch durch die gelb-orangenen Blüten der Kapuzinerkresse und eine Liegewiese aus giftgrüner Spinat- oder Petersiliencreme (unsere Meinungen gehen hier auseinander, mögen tun wir sie beide), was mitsamt der Kresseblätter auch kulinarisch zu einem delikaten Ergebnis führt. Nur der Kürbis (für 12 Euro) sieht – zumindest nach dem Transport – nach nichts aus und muss im Verbund mit dem umschmeichelnden Apfelmus, zarten Blättchen und einem Zweierlei von gerösteten und fein gemahlenen Kürbiskernen erst den Geschmackstest bravourös bestehen, um uns ebenfalls für sich einzunehmen.
Das Spiel am Tellerrand mit den Texturen, Temperaturen, Aromen und Farben beherrscht der Rüpel an der Straßenecke ziemlich perfekt. Sein Konzept an der Kreuzung aus Sternchen-Bistro und Imbisstheke preist Gemüseküche für jeden an – doch sicherlich nicht für jeden Tag, das muss man bei den Preisen dann doch dazusagen. Wer allerdings die Geschichten über seine Gerichte, die Produkte und deren Erzeuger, Philosophie und Einstellung zur Kulinaristik mit einpreist, wird den Rüpel trotzdem mit zufriedenem Lächeln verlassen, um an einem anderen, nicht so alltäglichen Tag zum nächsten Gemüseschmaus zurückzukehren.
● Anke Wittkopp
Kötnerholzweg 30
30451 Hannover
0172/158 67 52
Öffnungszeiten
Do–Sa, 7–24 Uhr
Küche von 17.30–22 Uhr

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Lisa Kreißler:  Schreie & Flüstern

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Lisa Kreißler: Schreie & Flüstern


Foto: Ute KreißlerRund fünfzehn Umzüge hat die Schriftstellerin Vera in ihrem Leben schon gemacht, doch dieser soll ihr letzter sein: Aus einem alten, renovierungsbedürftigen Bauernhof in der niedersächsischen Provinz wollen sie, ihr Mann Claus, der als Maler ebenfalls künstlerisch tätig ist, und ihr gemeinsamer Sohn Siggi ein Heim ganz nach ihren Vorstellungen gestalten. Was sich zunächst wie ein verrückter, herrlich inspirierender Einfall anfühlt, wird mit fortschreitender Realisierung der Umzugspläne aber immer fragwürdiger … Mit einem meisterhaften Gespür für Dialoge und Details erzählt Lisa Kreißler in ihrem dritten Roman von den Schattenseiten, aber auch dem unendlichen Reiz des Landlebens. Im August ist das Buch beim mairisch-Verlag erschienen.

Die Idee, aus der abwechslungsreichen Großstadt Leipzig in die ruhige Provinz überzusiedeln, kommt Vera und Claus völlig spontan: Als ihr Sohn Siggi während eines Besuchs bei Veras Eltern Fieber bekommt, werden sie auf der Autofahrt zum Krankenhaus in Neustadt am Rübenberge plötzlich von der heftigen Lust überwältigt, „etwas ganz und gar Unüberlegtes“ zu tun. Zu dem Zeitpunkt fühlen sich beide in ihren jeweiligen Metiers ausgelaugt, sind hungrig nach frischen Ideen und unverbrauchten Bildern – warum also nicht einen radikalen Standortwechsel wagen? Es fügt sich, das Claus‘ Vater kurz zuvor beschlossen hat, seine Firma zu verkaufen und seinen Kindern jeweils eine große Summe Geldes zu schenken, es scheint also fast wie ein Wink des Schicksals.
Bald sind die Vorbereitungen für den Umzug in vollem Gange, doch Vera beginnt, an ihrem Entschluss zu zweifeln. Zum einen wird ihr nach und nach bewusst, wie sehr sie die unverbindliche Leichtigkeit und die vielfältigen Zerstreuungsmöglichkeiten in der Großstadt liebt – und ihre Freunde Vladi und Constanze, mit denen sie regelmäßig durch die Kneipen, Bars und Tanzclubs zieht. Zum anderen scheint ihr der Ortswechsel unter schlechten Vorzeichen zu stehen, da ihre zweite Schwangerschaft ausgerechnet bei der Besichtigung des Hofes, den sie kaufen wollen, zu einem abrupten Ende kommt. Doch Vera schweigt sich über ihre Bedenken aus, auch weil diese Gefühle zu plötzlich und irrational aufkommen. Nachdem der Umzug abgeschlossen ist, wird die Empfindung, sich in eine Sackgasse manövriert zu haben, immer stärker. Das Dorf, die Landschaft, Claus – alles scheint sich ihr entgegenzustellen. Doch dann wird Vera wieder schwanger. Nicht nur, dass diesmal tatsächlich ein neuer Mensch in ihrem Inneren heranwächst – je weiter die Schwangerschaft voranschreitet, desto mehr verbindet sie sich mit der Natur. Sie weitet ihre Perspektive auf das Leben und ihre eigene Vergänglichkeit …
Den Zwiespalt, den ihre Protagonistin Vera empfindet, kennt Autorin Lisa Kreißler nur zu gut. Sie selbst lebt nämlich auf einem Hof im niedersächsischen Pohle, wo sie aber mittlerweile nicht mehr weg will – denn hier findet sie die nötige Ruhe, um an ihren Romanen zu arbeiten. 1983 in Bückeburg geboren, studierte sie zunächst Theaterwissenschaften, jobbte als Empfangsdame, Journalistin und Kellnerin in Berlin und Stockholm und fand schließlich 2010 nach Leipzig ans Deutsche Literaturinstitut. 2014 erschien ihr Romandebüt Blitzbirke, 2018 folgte Das vergessene Fest, die beide mit dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichnet wurden. Neben dem Schreiben moderiert und kuratiert sie bei NDR Kultur den Literaturpodcast „Land in Sicht“, bei dem sie mit anderen Redakteur*innen des Senders über „Bücher zum Leben“ redet.
Poetisch feinsinnig und durchwirkt von (schwarz-)humorigen Einsprengseln erzählt Schreie und Flüstern von großen Lebensveränderungen. Gleichzeitig geht es immer wieder darum, dass man seinem eigenen Bauchgefühl ruhig vertrauen sollte. Eben diese Botschaft versucht Vera ihrem Sohn Siggi in einem Brief deutlich zu machen, der ihn viele Jahre später als Erwachsener auf die Welt vorbereiten soll: „Egal, was die anderen sagen: Nichts, was du fühlst, ist banal. Die Welt ist voller Zeichen. Und du hast die Gabe, sie zu lesen.“  Foto: Ute Kreißler 

 ● Anja Dolatta

 

Schreie und Flüstern
von Lisa Kreißler
Mairisch Verlag
224 Seiten
20,00 Euro

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Jüdisches Leben in Hannover – Dr. Franz Rainer Enste, Niedersächsischer Landesbeauftragter gegen Antisemitismus

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Jüdisches Leben in Hannover – Dr. Franz Rainer Enste, Niedersächsischer Landesbeauftragter gegen Antisemitismus


Foto: Hans Jürgen WeißSeit Oktober 2019 gibt es für das Land Niedersachsen einen Antisemitismusbeauftragten, dessen Stelle dem Justizministerium zugeordnet ist. Bekleidet wird der Posten ehrenamtlich von Dr. Franz Rainer Enste. Der ausgebildete Jurist war zuvor als Richter in Lüneburg und Stade tätig, hat lange Jahre die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Niedersächsischen Landtags geleitet und war bis 2013 Sprecher der Landesregierung. Wir haben mit ihm über sein breites Tätigkeitsfeld und aktuelle Projekte gesprochen.

Was für Aufgaben hat ein Antisemitismusbeauftragter?
Die Hauptaufgabe besteht sicherlich darin, einen engen Kontakt zu den beiden Landesverbänden zu pflegen, die wir in Niedersachsen haben – also dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen und dem Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen. Ich stehe aber auch in einem intensiven Kontakt zu den unterschiedlichen jüdischen Gemeinden. Das bedeutet, ich fahre im Land herum, um zu schauen, was die besonderen Anliegen vor Ort sind. Des Weiteren ist es meine Aufgabe, mich um die Sicherheit und den Schutz der jüdischen Gemeinden zu kümmern. Das setzt voraus, dass ich mit den verschiedenen Sicherheitsbehörden spreche, dem Verfassungsschutz, dem Landeskriminalamt, den Polizeibehörden. Schließlich soll ich einmal im Jahr einen Jahresbericht vorlegen und darin die derzeitige Situation der jüdischen Gemeinden darlegen, Verbesserungsvorschläge unterbreiten, was die Arbeit der Landesbehörden angeht, und grundsätzliche Erwägungen aufführen, was das Vorgehen gegen Antisemitismus angeht.

Wie sind Sie zu diesem Amt gekommen?
Während meiner Tätigkeit in der Landtagsverwaltung habe ich mich viel mit Fragen der Erinnerungskultur auseinandergesetzt. So habe ich zum Beispiel die Veranstaltungen, die der Landtag zu Daten wie dem 9. November oder dem 27. Januar ausgerichtet hat, jeweils mitvorbereitet. In diesem Zusammenhang habe ich häufig sehr eng mit Prof. Andor Izsák zusammengearbeitet, der 1991 von Augsburg kommend in Hannover angelandet ist, um ein europäisches Zentrum für jüdische Musik aufzubauen und sakral-synagogale Musikströmungen hier in Hannover zu platzieren. Er war an verschiedenen Gedenkveranstaltungen beteiligt, mit Musikdarbietungen, Erlebnisberichten über die Verfolgungssituation in seiner eigenen Familie, einmal auch mit einer riesengroßen Ausstellung über die Bedeutung der Orgel in der Synagoge. Und bei diesen Gelegenheiten haben wir zusammengearbeitet. Das Gleiche gilt für die großen Konzerte, die er in der Marktkirche organisiert hat und an denen der Landtag beteiligt war. Als dann 2006 die Villa Seligmann erworben und 2012 mit einem starken Konzertprogramm eröffnet worden ist, war ich wiederum das Bindeglied zwischen Landesregierung und den Verantwortlichen der Villa Seligmann. Es gab also immer diese Nähe und diesen Schwerpunkt bei mir, und dann kam 2019 schließlich die Anfrage, ob ich dieses Amt übernehmen möchte.

Sie haben sich aber auch mit historischen Perspektiven des Judentums in Niedersachsen beschäftigt, vor allem im Rahmen des lokalhistorischen Projekts „Wedemark 1930 bis 1950“.
Ja, das ist ein Projekt, das 2014 begonnen hat und jetzt kurz vor dem Abschluss steht. Der dortige Bürgermeister hatte damals die Idee, einen weißen Fleck in der Lokalgeschichte erforschen zu lassen. Es gibt nämlich ein richtig interessantes Phänomen: Es gibt unglaublich gute Dorfchroniken, in denen Lokalhistoriker sehr akribisch alle möglichen Themen aufgearbeitet haben – wie die Dörfer entstanden sind, wie einzelne Straßen und Wege ihre Namen erhalten haben, wie die Wirtschaft zu verschiedenen Zeiten aussah. Das sind ganz akribische, beeindruckende Forschungen – aber sie enden immer irgendwo um das Jahr 1931 oder 1932 und fangen dann erst wieder 1954 an. Was dazwischen war, weiß niemand. Genau das hat dieses Projekt der Erinnerungskultur nun erforschen sollen. Ich selbst bin kein Historiker, aber ich bin damit beauftragt worden, das Ganze als Koordinator zu organisieren, in Zusammenarbeit mit dem Institut für historische Regionalforschung der hiesigen Universität, vor allem mit Prof. Dr. Carl-Hans Hauptmeyer und Martin Stöber, aber auch vielen anderen Akteuren, etwa der Gedenkstätte Ahlem, der Landesbibliothek, der örtlichen historischen Arbeitsgemeinschaft und dem Institut für Regionalgeschichte in Neustadt. Ein wichtiger Projektpartner war außerdem das örtliche Gymnasium, dessen Leistungskurse Geschichte seit 2015 in diversen Projekten an einzelnen Themen gearbeitet haben.

Sie haben vorhin angesprochen, dass Sie sich als Antisemitismusbeauftragter mit der Sicherheit jüdischer Gemeinden beschäftigen. Um was für Maßnahmen geht es da?
Um sehr unterschiedliche. Ein Ausgangspunkt für viele Überlegungen ist auf jeden Fall das schreckliche Ereignis in Halle im Jahr 2019 gewesen. Das hat damals den Behörden aufgezeigt, dass es Lücken im Sicherheitsschutz gibt, und zwar sowohl technischer als auch personeller Art. Meine Berufung war ja unmittelbar nach diesem Ereignis, deswegen waren meine ersten Gespräche mit den Gemeinden auch darauf gerichtet, zu erfahren, welche Schutzmaßnahmen notwendig sind und wo sie fehlen, wo nach- und aufgerüstet werden müsste. Um diese Fragen ging es auch in meinen Gesprächen mit den örtlichen Polizeibehörden, dem Staatsschutz und dem Landeskriminalamt. Und dabei wurde bald klar: Es gibt keine Pauschallösung. Jede Gemeinde hat eine andere Lage – die eine liegt zum Beispiel mitten in einer Fußgängerzone, eine andere in einem Einfamilienhausgebiet. Die Situation und die Bedürfnisse sind da von Fall zu Fall sehr individuell.

Solche Schutzmaßnahmen richten sich gegen die extremste Form von Antisemitismus – gewalttätige Übergriffe. Haben diese in den letzten Jahren zugenommen?
Die Zahlen, die ich von der Staatsanwaltschaft und der Polizei habe, zeigen keinen signifikanten Anstieg. Es gibt aber natürlich immer so Wellen, zum Beispiel im Mai, als sich der Nahostkonflikt verschärfte und es in ganz Deutschland vermehrt zu Vorfällen kam. Auf der anderen Seite gibt es aber auch ein subjektives Sicherheitsempfinden derjenigen, die Synagogen oder andere jüdische Einrichtungen wie Kindergärten oder Schulen besuchen. Und diesem subjektiven Sicherheitsbedürfnis muss man Rechnung tragen – gerade angesichts solcher Taten wie in Halle. Hier sind wir nun auf einem guten Weg, alles, was in baulicher Hinsicht getan werden kann, auch umzusetzen. Aber auch das darf man nicht übertreiben. Es kann ja nicht sein, dass jüdische Gemeinden zu Hochsicherheitstrakten werden, von Panzern umstellt und von Stacheldraht umzäunt. Wir müssen also sehen, wie wir den Spagat zwischen Sicherheit und Sichtbarkeit hinkriegen. Viele jüdische Gemeinden wollen sich der Öffentlichkeit präsentieren. Wollen zeigen: „Wir machen hier keine Geheimniskrämerei! Schaut euch das an: Das ist unsere Synagoge, so feiern wir Pessach, so begehen wir den Sabbat, das ist der Hintergrund für unser Laubhüttenfest … alles ganz normal!“ Genau darum geht es bei dem Thema Sichtbarkeit nämlich: Normalität zu transportieren, dem Jüdischen die Attitüde des „Fremden“ zu nehmen. Denn nur so kann eine Normalisierung in den Beziehungen zwischen den verschiedenen Religionen erwachsen, wenn es gegenseitiges Verständnis gibt, wenn man die unterschiedlichen Ansätze versteht, die man im Christentum, im Judentum, im Islam verfolgt.

Sind nicht-jüdische Menschen in den vergangenen Jahren sensibler dafür geworden, judenfeindliche Äußerungen zu erkennen und zu verurteilen? Oder herrscht da eher Unsicherheit?
Beides. Es gibt durchaus noch Unsicherheit. Der Antisemitismus ist ja nie weg gewesen, er zeigt sich heute aber naturgemäß in anderem Gewand als vor 100 oder vor 50 Jahren. Er ist zum Teil verdeckter geworden. Es gibt viele Formen. Aus diesem Grund führen wir ein Projekt mit RIAS Niedersachsen durch, der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus. Dieses hat den Auftrag, antisemitische – auch strafrechtliche nicht relevante – Vorfälle zahlenmäßig zu erfassen, um diese damit sichtbar zu machen. Das Strafrecht deckt ja nur die Spitze, nur die ganz schweren Fälle ab. Es ist die Antwort des Staates auf das, was er einfach nicht dulden kann, um ein menschliches Zusammenleben zu garantieren. Die Ahndung ist aber nicht ganz einfach. Vor allem Volksverhetzung ist ein schwieriger Tatbestand, zu dem es auch sehr kontroverse Fälle obergerichtlicher Rechtsprechung gibt. Nichtsdestotrotz müssen wir den Antisemitismus bei solchen Ereignissen natürlich erfassen, denn nur so können wir uns ein vernünftiges Bild von der Situation und möglichen Entwicklungen verschaffen.

Welche Rolle spielen dabei Präventions- und Aufklärungsarbeit? Bei einigen Beleidigungen, Sprüchen oder Symbolen ist manchen Menschen nicht einmal bewusst, dass sie aus historischer Sicht eine antisemitische Vorstellung konservieren.
Prävention ist das richtige Stichwort! Ebenso wichtig, wenn nicht gar noch wichtiger als die strafrechtliche Verfolgung ist natürlich die Verhinderung, dass solche Formen des Antisemitismus überhaupt entstehen. Dagegen richten sich die Anstrengungen unter anderem des Landespräventionsrats und des Landes-Demokratiezentrums. Was mich persönlich besonders intensiv beschäftigt, ist die Frage, wie diese Präventionsarbeit in der Bildung geschehen kann. In den nächsten Wochen und Monaten werde ich in Gesprächen mit dem Kultusministerium schauen, was man in der Ausbildung der ErzieherInnen, der GrundschullehrerInnen, der LehrerInnen der Sekundarstufe I und II machen kann, um die Sensibilisierung zu erhöhen, sodass die Verantwortlichen bei antisemitischen Vorfällen – und auch Verdachtsfällen – angemessen reagieren können. Wenn beispielsweise ein Kind zum anderen auf dem Schulhof sagt: „Du Jude!“, dann könnte man denken, das ist dasselbe, wie wenn es gesagt hätte: „Du Deutscher!“, also völlig harmlos. Vielleicht ist es das aber auch nicht, weil es mit einer bestimmten Konnotation gesagt wurde. Es geht dann darum, zu erkennen und beurteilen zu können, ob das betreffende Kind weiß, was es mit seinen Worten auslöst. Die Verantwortung besteht darin, damit pädagogisch angemessen umzugehen. Und das richtig einzuschätzen, ist für viele Lehrerinnen und Lehrer eine Herausforderung – auch nicht überzureagieren, jedoch erst recht nichts unter den Teppich zu kehren.

Ein Aspekt von Sensibilisierung ist auch die Erinnerungsarbeit. Oft passiert diese besonders intensiv um geschichtsträchtige Daten herum – demnächst etwa am 9. November zum Gedenken der Reichspogromnacht. Solche Veranstaltungen haben für viele leider mittlerweile den Anstrich „ritualisierter Betroffenheit“ bekommen, gerade für jüngere Leute, für die sich der Holocaust so weit entfernt fühlt. Wie lässt sich Erinnerungsarbeit gegen solche Abwertungen schützen und wieder relevant machen?
Gleich vorneweg: Von solchen Erinnerungsritualen halte ich überhaupt nichts! Ich halte auch nichts davon, dass man bestimmte Gedenkstätten zu Kranzabwurforten degradiert. Richtig ist, dass wir uns heute selbstverständlich über neue Formen von Erinnerungskultur Gedanken machen müssen. Das hängt auch damit zusammen, dass unsere Zeitzeugen zunehmend sterben. Das zwingt uns, neue Wege zu beschreiten, zum Beispiel bestimmte Zeugenaussagen durch Videoaufnahmen zu konservieren. Das ist unglaublich wichtig. Aber es ist natürlich auch richtig, dass der zunehmende zeitliche Abstand ein Problem ist. Ich habe schon oft gesagt, dass für Jugendliche, die nach 2000 geboren wurden, das Dritte Reich genauso weit weg ist wie der Dreißigjährige Krieg. Für Vertreter meiner Generation klingt das unglaublich, aber das ist so. Zumal die jungen Menschen heute auch mit vielen anderen Problemen zu kämpfen haben, die ihnen durch die Aktualität sehr viel näher gehen. Und die heutigen Probleme sind ja gewaltig, wir haben den Klimawandel, eine Pandemie … In diesem Zusammenhang mögen sich manche denken: Der Zweite Weltkrieg ist Geschichte, und Geschichte ist geschehen. Deshalb kommt es jetzt darauf an, im Zuge neuer Formen von Erinnerungsarbeit zu zeigen, worum es eigentlich geht – nämlich um ein Bewusstwerden und Bewusstmachen, was damals passiert ist. Wie ein Land seine humane Orientierung verlieren konnte, wie es Ralph Giordano ausgedrückt hat. Aber so etwas funktioniert nicht nur durch die bloße Darstellung monströser Zahlen, sondern durch Bezugnahme auf individuelles Leid. Hinzu kommt, was die Fachleute den „Gegenwartstransfer“ nennen. Es bedeutet, dass Erinnerungsarbeit einen Bezug zur heutigen Zeit, für unser heutiges Zusammenleben herstellen soll. Dass aufgezeigt werden soll, wie damals bestimmte schleichende Entwicklungen zu einer Entrechtung einiger Menschengruppen geführt haben, und wie wir heute aufpassen können und müssen, dass das nicht wieder passiert. Natürlich ist die Bundesrepublik nicht Weimar, das Grundgesetz nicht die Weimarer Reichsverfassung. Aber es ist nun einmal so, dass die Bedrohungen der Demokratie – nicht als Staatsorganisationsform, sondern als Idee des pluralen, liberalen Austauschs zwischen Menschen mit einem maximalen Respekt voreinander – immer wieder eintreten kann. Immer wieder neu, immer wieder anders – aber die Befassung mit den Umständen damals ist ein wichtiger Schlüssel, um zu erkennen, wo die Gefahren heute liegen.

Also geht es darum, die Parallelen in den Anfängen sichtbar zu machen?
Ja. Es gibt ja Leute, die sagen oder denken, am 30. Januar 1933 sei ein Schalter umgelegt worden – Demokratie zu Ende, Diktatur beginnt. So war das natürlich ganz und gar nicht, vielmehr ist dieser Wechsel schleichend passiert. Das Gleiche gilt für die Judenverfolgung und den Holocaust. Schon lange vor Kriegsbeginn wurde immer wieder an dem Schutzwall einer humanen Gesellschaft gekratzt, und das mit der Zeit immer stärker, bis die Sache schließlich kippte. Das ist, denke ich, der vielleicht wichtigste Aspekt von Erinnerungskultur – deutlich zu machen, dass das, was mit Auschwitz endete, lange vorher mit Worten begann!
● Anja Dolatta

Foto: Hans Jürgen Weiß

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