Gabi Stief und Hans-Peter Wiechers sind wahrscheinlich vielen Hannoveraner*innen und insbesondere der Leserschaft der HAZ aufgrund ihrer journalistischen Arbeit bekannt. Wiechers als ehemaliger Gerichtsreporter und Kolumnist und Stief als Politikredakteurin, die aus dem Berliner Büro über Sozial-und Gesundheitspolitik berichtete und für ihre Arbeit unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis und dem Richard-von-Weizsäcker-Journalistenpreis ausgezeichnet wurde. Gemeinsam hat das Ehepaar bereits die Reportage „Der Mordverdacht“ (2018) veröffentlicht. Einen Roman zu schreiben und sich dem Spaß hinzugeben, die Wirklichkeit und Fakten vergessen zu dürfen, war für beide eine neue Erfahrung. Restlos konnten sie ihre Berufung allerdings nicht abstreifen, so haben sie zwar einige Figuren erfunden, jedoch sind die Fakten rund um Hannovers Geschichte wahr und gründlich recherchiert. Die Historie, so Stief, bilde den Bodensatz des Romans, der Rest sei Fiktion. So könne der Roman auch jene für diese Zeit interessieren, die sich nicht mit einem Sachbuch oder einer Biografie anfreunden können.
„Der kleine Zug ins Paradies“ erzählt von Frauenschicksalen in Hannover: Von der auf der Journalistin, Malerin und Autorin Käte Steinitz basierende Helene Salpeter, deren Salon in den 1920er-Jahren einen Mittelpunkt der hannoverschen Kunstszene darstellt, von ihrer Tochter Nora Salpeter, die sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten dem Widerstand gegen Hitler verschreibt und von Noras bester Freundin Greta Kunertz, die gut 20 Jahre später die Traumata des Krieges und ihre eigene Schuld nicht mehr verdrängen kann – und dann ist da noch Kate aus New York, die 80 Jahre später an ihrem 31. Geburtstag erfährt, wer ihr Vater ist, und dadurch unweigerlich in Familiengeschichte der Salpeters verwoben wird. Da ihr Vater, Theodore Salpeter, bereits wenige Monate nach ihrem Kennenlernen verstirbt, muss sie selbst Antworten auf die vielen offenen Fragen finden, die seit der Offenbarung in ihr Leben geworfen wurden. Ihr Vater hinterlässt ihr hierfür neben einem Vermögen, das aufgrund möglicher Miterbinnen in Deutschland zunächst nicht erreichbar ist, und einigen wertvollen Kunstwerken, die seit dem Krieg verschollen sind, Hinweise auf die Geschichte einer Familie, in deren Wohnung in den zwanziger Jahren berühmte Künstler wie Kurt Schwitters und Ringelnatz ein und aus gingen. Eine Familiengeschichte, von der Kate ihr bisheriges Leben lang nicht wusste, dass sie auch ein Teil ihrer eigenen Geschichte ist. Sie reist, dem Wunsch ihres Vaters nachkommend, nach Hannover, um den Wurzeln und Geheimnissen ihrer Familie auf den Grund zu gehen. Doch es gibt Menschen, denen Kates Engagement missfällt, weil ihnen das bisherige (Ver)schweigen ganz gelegen kam..
Die Idee für den Roman kam Gabi Stief bereits vor fünf Jahren, als sie und ihr Mann eine Veranstaltung des Sprengelmuseums besuchten, bei der sie auf den Enkel von Käte Steinitz, Henry Berg, trafen und mit ihm sprachen, um einen Artikel für die HAZ zu schreiben. Käte Steinitz’ Geschichte ließ die Journalistin nicht mehr los und aus der Faszination für diese beeindruckende Frau wuchs die Idee, ein Buch über sie zu schreiben. Stief fing an zu recherchieren und konnte schließlich auch Hans-Peter Wiechers dafür begeistern mitzumachen. Wie ein solches Gemeinschaftsprojekt gelingen kann? „Man darf nicht zu eitel sein“, so Wiechers. Außerdem müsse man Kritik erdulden können und damit leben, wenn Figuren oder Kapitel gestrichen oder gekürzt werden. „Unterm Strich hat’s Spaß gemacht“, resümiert Gabi Stief über die gemeinsame Arbeit. Herausgekommen ist ein Familienroman mit tiefgründigen weiblichen Protagonistinnen über Verrat, Vergebung, das Verschweigen – und gegen das Vergessen –, der an eine schillernde Kunstszene in Hannover erinnert, die es so oder so ähnlich gab. Nele Freitag
Zu Klampen Verlag
328 Seiten
20 Euro
Erscheinungstermin: 05.09.2022
