Wir starten wie immer mit unserer kleinen Vorstellungsrunde …
SB: Ich bin 50 Jahre alt, verheiratet, habe vier Töchter und wohne in Linden Süd. Und ich arbeite seit mittlerweile 10 Jahren an der Ricarda-Huch-Schule, ein Gymnasium mitten in der List. Leiterin der Schule bin ich jetzt seit einem Jahr. Vorher war ich anderthalb Jahre stellvertretende Schulleiterin und seit 2017 in der Schulleitung als Koordinatorin. Meine Fächer als Lehrerin sind Deutsch und Politik/Wirtschaft. Plus Werte und Normen und Darstellendes Spiel. Aber ich unterrichte momentan nur zwei Stunden Werte und Normen, das ist so ein kleiner Experimentierkurs im Rahmen des Freiräume-Prozesses. Eine elfte Klasse arbeitet im Fach Werte und Normen mit einer siebten Klasse zusammen zum Thema Demokratiebildung. Wir geben uns sehr viel Mühe, die Freiräume zu nutzen, die uns das Programm des Kultusministeriums jetzt bietet. Wir können Stunden etwas anders lagern, andere Themen bedienen. Wir versuchen auch in anderen Zeit-Slots und Räumen zu arbeiten.
KS: Ich bin 55 Jahre alt und habe in Hannover schon einige Unternehmen geleitet und diverse Projekte gestartet, unter anderem im Auftrag von hannoverimpuls das [kre|H|tiv] Netzwerk Hannover e.V. gegründet Und weil mir vor ein paar Jahren die Baustelle Kultur- und Kreativwirtschaft noch nicht groß genug war, habe ich mich entschlossen zu versuchen, ein bisschen was im Bildungsbereich zu bewegen. Wir haben aus der Initiative Digitales Hannover e.V. heraus aufgrund einer Umfrage festgestellt, dass wir vor allem im Bereich der digitalen Bildung noch große Lücken haben. Und als leidender Vater von zwei schulpflichtigen Kindern habe ich mir dann überlegt, dass man die Schulen ganz direkt unterstützen könnte. Das machen wir jetzt mit der NachwuchsKraft GmbH – Die Bildungsoffensive. Wir fokussieren uns auf das, was an den Schulen zu kurz kommt, die Future Skills. Ausschlaggebend war bei uns unter anderem eine Studie vom World Economic Forum. Dort wurde bereits 2016 gesagt, dass 65 Prozent der Jugendlichen, die heute zur Schule kommen, in Berufen arbeiten werden, die es noch gar nicht gibt. Wie soll oder kann Schule darauf vorbereiten? Aus dieser Frage heraus haben wir NachwuchsKraft entwickelt.
Kurz eingeschoben, wir feiern gerade 10 Jahre UNESCO City of Music. Du, Kai, hattest daran ursprünglich einen ziemlich großen Anteil. Wir müssen noch einmal kurz in deinen Lebenslauf einsteigen …
KS: Ich habe nach vielen Jahren als Geschäftsführer von Agenturen die Seiten gewechselt und für hannoverimpuls mit kreHtiv ein Netzwerk für die regionale Kultur- und Kreativwirtschaft aufgebaut. Wir sind damals schnell das größte Netzwerk dieser Art in Deutschland geworden und haben übrigens auch schon erste Bildungsprogramme umgesetzt. Der „Creative Coder“ war ein bundesweit einzigartiges Programm. Wir haben auch viel Start-up-Beratung gemacht und den IDN-Boulevard im Rahmen des Maschseefestes entwickelt. Also schon immer versucht, zukunftsweisende Initiativen und Projekte für den Standort Hannover zu kreieren. Und unter anderem haben wir auch die Bewerbung als UNESCO City of Music initiiert und erfolgreich durchgeführt. Mit viel Unterstützung. Das gehört aber alles zusammen. Es ging mir immer darum, Innovation zu fördern, Zukunft zu fördern und Hannover als Standort sichtbarer und erfolgreicher zu machen. So schließt sich der Kreis. Die Smart-City-Days sind zum Beispiel bundesweit ein einzigartiges Event hier in Hannover. Das nächste Mal feiern wir mit beim ÜSTRA Mobilitätsfest am 21. September auf dem Betriebshof Glocksee.
SB: Bei den Smart-City-Days habe ich uns auch schon mal angemeldet. Die Schülerinnen und Schülern waren alle begeistert. Wir arbeiten auch noch mit „IT macht Schule“ zusammen seit einigen Jahren. Das passt super in die elfte Klasse. Wenn die das Betriebspraktikum machen, haben wir immer mindestens fünf sechs Plätze, bei denen die Schüler und Schülerinnen sehr professionell in die digitale Welt abtauchen können. Und dann gibt es am Ende immer ein großes Forum. Das ist wirklich spannend. Auch, weil diese Schüler und Schülerinnen plötzlich so ganz anders auftreten, als man sie aus dem Unterricht kennt. Die sind total motiviert, und sie wissen vielleicht schon, was sie vielleicht mal machen wollen. Das ist sehr gewinnbringend. Solche Effekte bekommen wir im regulären Unterricht natürlich niemals hin. Wir brauchen darum solche Angebote und Kooperationen. Und wir bauen das gerade aus. Das ist Teil des Freiraumprozesses. Der Auftrag aus dem Ministerium ist sehr klar. Sucht euch Kooperationspartner, damit die Schülerinnen und Schüler den Fuß rauskriegen und die Anbieter den Fuß reinkriegen. Solche Kooperationen fördern die Kreativität und das kritische Denken, das sehen wir schon jetzt. Die Kinder lernen, was wir in der Schule gar nicht leisten können. Auch die Sozialkompetenzen sind dabei ein Thema. Sich anderen vorzustellen, ein Projekt zu präsentieren, mit Erwachsenen ins Gespräch zu kommen, das ist super. Schule braucht mehr solche Kooperationen. Wir müssen uns ganz generell öffnen. Wir haben beispielsweise für unsere Nachmittagsbetreuung seit 2020 auch eine Kooperation mit dem Turn-Klubb. Der TKH kommt dreimal die Woche und sie machen dann ein Sport- und Bewegungsangebot, dazu eine Hausaufgabenbetreuung.
Wenn man das so hört, müssten die Schulen ja Schlange stehen bei euch. Ist das so, Kai?
KS: Das wäre schön. Wir wussten zu Beginn gar nicht, wie die Schulen reagieren und was Lehrende sagen würden. „Wir machen das hier seit 30 Jahren, jetzt kommen da so ein paar Nicht-Pädagogen und wollen uns die neue Welt erklären.“ Das war unsere Befürchtung. Glücklicherweise gibt es aber sehr viele engagierte, mutige und innovative Lehrende an den Schulen, die entsprechend offen reagiert haben. Und so haben wir mittlerweile ein sehr gutes Netzwerk aufgebaut. Es gibt keine Probleme mehr, unsere Projekte zu füllen. Und die Teilnehmenden aus den diversen Jahrgangsstufen sind immer ziemlich begeistert, wir bekommen regelmäßig ein wirklich tolles Feedback. Übrigens auch von den Lehrenden. Wenn die sehen, dass ihre Schülerinnen und Schüler in drei, vier Tagen eine fertige App entwickeln und stolz präsentieren, sind sie natürlich überrascht. Ein Paradebeispiel war eine Gruppe aus dem „Bessermacher:innen-Programm“, die haben die Klima-Bahn der ÜSTRA gestaltet. Die fährt jetzt auf der Schiene. Da gab es eine Anfrage von der ÜSTRA: Könnt ihr euch unter einer Klima-Bahn etwas vorstellen? Und die Jugendlichen haben in wenigen Tagen die „Gutes-Klima-Bahn“ entwickelt, mit Maßnahmen für Innen und Außen, mit einer Gestaltung, mit begleitenden Ideen und Ansätzen. Was gehört alles zu einem guten Klima? Wie muss es sich vielleicht auch zwischenmenschlich ändern in der Bahn etc.? Und plötzlich schafft es so ein Projekt dann auf die Titelseite der Neuen Presse. Das sind natürlich Erfolgsmomente.
Auch für die Schülerinnen und Schüler, die für sich nicht nur eine Menge Skills mitnehmen, sondern auch die Bestätigung, tatsächlich ganz konkret etwas zu verändern.
SB: Und genau das ist natürlich eine ganz wichtige Erfahrung, außerhalb der Schule etwas zu bewegen, sozusagen in der echten Welt. Schule bildet ja aktuell längst nicht mehr die reale Arbeitswelt ab. Das ist auch das, was wir sehr oft von unseren Schülerinnen und Schülern hören. „Wir lernen hier nichts, was wir später gebrauchen können.“ Gut, sie lernen noch immer eine Menge, was sie später gebrauchen können, aber hinsichtlich der Digitalisierung ist Luft nach oben. Weil auch die Lehrenden keine besondere Expertise haben in diesem Bereich. Wir bräuchten darum weitaus mehr Digitalisierungsberatung, um fit zu werden. In Estland haben sie an jeder Schule Digitalexperten, die machen die Lehrenden fit in Sachen Digitalisierung. Wir versuchen das an der Ricarda-Huch ebenfalls, aber mit den vorhandenen Mitteln, die wir entsprechend umverteilen. Was natürlich eine Herausforderung ist, gerade in Zweiten ohnehin ständig wachsender Herausforderungen. Viele Studien zu Ängsten bei Kindern und Jugendlichen zeigen ja eine signifikante Zunahme psychischer Belastungen.
Da hat sich mit und nach Corona sehr viel verändert. Aber auch die gegenwärtigen Krisen spielen eine Rolle. Das ist spürbar an den Schulen, oder?
SB: Ja, da hat sich viel verändert. Und die Studien dazu sind sehr bedenklich. Viele Kinder und Jugendliche entwickeln Schulängste oder Zukunftsängste, und wir müssen überlegen, wie wir damit umgehen. Ich habe auch selbst mal die Ängste in einem Kurs abgefragt und herausgekommen ist, dass sie sich zum Beispiel auch enorme Sorgen um ihre berufliche Perspektive machen. Nach Stand der aktuellen Situation auf dem Arbeitsmarkt völlig unbegründet, denn die Chancen waren ja nie besser. Aber sie zweifeln sehr an ihren Fähigkeiten und Kompetenzen, sie fühlen sich komplett nicht gewollt und gebraucht. Und das finde ich schon dramatisch. Es ist ja normal, zwischendurch zu zweifeln, dass man nicht gut formulieren oder rechnen kann, aber einige haben tatsächlich einen kompletten Zweifel an sich selbst.
Manche sprechen vom Imposter-Syndrom, das auch an den Hochschulen ziemlich verbreitet ist. Man hat trotz offensichtlicher Erfolge Zweifel an den eigenen Leistungen, und Angst, dass man in Wirklichkeit gar nichts kann …
KS: Ich glaube, dass wir da schon auch die Corona-Nachwirkungen sehen in den entsprechenden Jahrgängen. Mal mehr, mal weniger. Wir machen mit den Jugendlichen ganz verschiedene Erfahrungen. Wir hatten gerade erst in einem Projekt zwei Klassen, die waren unfassbar unterschiedlich. Aber insgesamt, was beispielsweise die Konzentrationsfähigkeit angeht oder wie auf die Zukunft geblickt wird, das hat sich schon gewandelt.
Du sprichst von der Konzentrationsfähigkeit. Ich höre oft, dass junge Menschen ein krasses Aufmerksamkeitsdefizit haben, dass man die ungeteilte Aufmerksamkeit nur noch für Sekunden bekommt. Wie ist deine Erfahrung in der Schule?
SB: Die Rückmeldungen aus dem Kollegium sind da ziemlich eindeutig. Die stellen fest, dass die Aufmerksamkeitsspanne seit Jahren geringer wird. Wir können dazu aus der Studienlage ersehen, dass die Kompetenzen beim Lesen und Schreiben und in der Mathematik abgenommen haben. Ich denke, dass das nicht nur mit Corona zu tun hat, sondern vor allem mit der Digitalisierung und der Bildschirmzeit von Kindern, vor allen Dingen auch von sehr kleinen Kindern, die bereits im Alter von anderthalb, zwei Jahren mit dem Smartphone oder dem Tablet in Kontakt kommen. Während die Eltern ebenfalls permanent auf einen Bildschirm starren. Untersuchungen haben bereits erwiesen, dass das etwas mit der Empathie-Fähigkeit bei Kindern macht. Wobei es immer noch eine Chance gibt. Kinder sind eigentlich immer sehr positiv, neugierig und zugewandt. Die kommen dann auch wieder zurück. Darum denke ich auch, dass Schule nicht defizitorientiert arbeiten sollte. Dass wir überlegen, wie wir sie noch kriegen. Vielleicht mit kürzeren Slots. Mal mit einer fünften Klasse rausgehen, sich bewegen und dann wieder in den Unterricht gehen. Wir müssen uns jeweils die Bedarfslage sehr genau ansehen. Was braucht eine Klasse? Und was braucht sie beispielsweise auch an außerschulischen Impulsen. Ich würde mich zum Beispiel sehr freuen, wenn wieder mehr Unternehmen Praktika anbieten.
Müssen wir, was die Smartphones und die Bildschirmzeiten angeht, das Rad stellenweise vielleicht doch anhalten oder sogar zurückdrehen?
KS: Das ist ganz schwierig. Einerseits sind mit den Smartphones und auch jetzt mit KI ja sehr viele Möglichkeiten verbunden. Das wird die Zukunft sein. Und ich denke, es ist wichtig, dass die Kinder dazu die notwendigen Skills lernen. Aber andererseits gibt es eben die Nebenwirkungen. Es wird darum gehen müssen, dass wir Maß und Mitte finden.
SB: Bei uns ist es schon lange ein Teil der Schulordnung, dass im Hauptgebäude die Nutzung der Geräte nicht erlaubt ist. Wenn man erwischt wird, wird das Smartphone eingezogen und am Ende des Tages wieder herausgegeben. Beim dritten Mal gibt es ein Gespräch mit den Eltern. Die stehen größtenteils voll hinter unserer Schulordnung. Wir hören von der Elternseite jetzt auch vermehrt den Wusch, dass wieder weniger auf dem Tablet gearbeitet wird.
KS: Ich glaube, es ist wichtig, dass die Kinder eben nicht nur daddeln, sondern die Technik und die Mechanismen verstehen. Das Schlimme ist ja vor allem die mangelnde Medienkompetenz. Man nennt sie zwar Digital Natives, aber sie können oft nicht viel mehr als nach links oder rechts swipen. Wenn wir in den Workshops sagen, dass sie den Browser öffnen sollen und niemand weiß, was das ist, oder dass sie einen Ordner auf dem Desktop anlegen sollen und man in viele fragende Gesichter blickt, dann ist das ganz bezeichnend. Wie wollen sie Fake News erkennen? Wie sollen sie Quellen checken? Diese Medienkompetenz wird auch bei den Smart-City-Days ein Schwerpunktthema sein.
SB: Wichtig ist auch, dass vor allem die Eltern noch viel mehr für die Problematik sensibilisiert werden. Es ist völlig klar, dass man seinen Kindern keinen Alkohol und kein Nikotin gibt. Bei den Smartphones sieht das ganz anders aus, obwohl das Suchtpotenzial längst nachgewiesen ist. Haptisch ist das ideal für Kleinkinder. Intuitiv nutzbar. Aber eben nachweislich gefährlich. Ich denke, die Kleinsten sollten mit der Hand und dem Stift arbeiten, die sollen Kastanien zählen, Mengen begreifen.
Würdet ihr denn für ein Schulfach Medienkompetenz plädieren?
SB: Ja, aber dann entsprechend das Curriculum entschlacken oder anpassen. Und wir bräuchten dafür ausgebildete Lehrkräfte. Die stehen ja momentan nicht unbedingt Schlange. Ich wäre aber generell eher dafür, Kompetenzen, digitale und soziale, fachübergreifend auszubilden, also diese Kompetenzen mehr zu integrieren und nicht immer mehr aufzufächern.
KS: Ich glaube, dass eine Überprüfung und Überarbeitung des Lehrplans längst überfällig ist. Seit Jahren. Vieles ist da nicht mehr zeitgemäß. Die Zukunftskompetenzen fehlen. Ich plädiere schon seit einiger Zeit dafür, dass Hannover ein Nachwuchskraftwerk bekommt. So, wie wir auch ein Schulbiologiezentrum haben, wo alle Schulklassen mal eine Woche hingehen. Wir brauchen einen Ort, wo sie eine Grundausstattung an Future Skills bekommen, danach begleitende Kurse buchen können, auf freiwilliger Basis, unterjährig und im Idealfall nachmittags. Und wo es auch Angebote für Eltern gibt. Wo dazu eine Begegnung stattfindet zwischen Jugendlichen und Unternehmen. Das ist kurz gesagt meine große Vision.
SB: Das klingt für mich nach einer ziemlich guten Idee.
