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Elisabeth Wilhelm vom  Mentoringprojekt des Andersraum e. V.

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Elisabeth Wilhelm vom Mentoringprojekt des Andersraum e. V.


Dass junge queere Menschen im Berufsleben erheblicher Diskriminierung ausgesetzt sind, ist wissenschaftlich belegt. Queere Jugendliche haben einen besonderen Bedarf an Schutz und Beratung in dieser ohnehin nicht einfachen Lebensphase. Das im Mai gestartete Mentoringprojekt des queeren Jugendzentrums QueerUnity unter dem Dach des Andersraum e.V. möchte hierzu einen Beitrag leisten. Eine der ersten Mentor*innen, die sich dafür zur Verfügung gestellt haben, ist Elisabeth Wilhelm.

Der Andersraum e.V. ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in der Nordstadt Hannovers. Angetrieben von der Vision „Damit du so sein kannst wie du bist“ macht der Andersraum Antidiskriminierungs- und Empowermentarbeit mit Schwerpunkt sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität (LSBT*IQ). Verschiedene queere Gruppen und Projekte sind im Andersraum entstanden oder haben hier ihre Heimat gefunden. So auch QueerUnity, das erste queere Jugendzentrum in Hannover, das sich als „zweites Wohnzimmer“ und Rückzugsort begreift, in dem junge nicht-heterosexuelle Menschen sein können, wie sie sind.
Elisabeth Wilhelm, die selbst häufig Veranstaltungen des Andersraums besucht, wurde bei einer solchen Gelegenheit angesprochen, ob sie sich vorstellen könne, sich als Mentorin für das neue Programm zu engagieren, das sich an Jugendliche von 14 bis 27 Jahren richtet. Die Sozialwissenschaftlerin und Soziologin ist Angestellte der Stadt Hannover im Kulturbereich und arbeitet für den Zusammenschluss von Einrichtungen der Erwachsenenbildung und Migrant*innen-Selbsthilfeorganisationen ALBuM. Die Förderung von Vielfalt, wenn auch vorrangig im interkulturellen Bereich, ist also ihr Job. „Die Projekte des Andersraums finde ich total wichtig und unterstützenswert. Natürlich bin ich dabei“, so Wilhelm, die sich schon im Studium mit Geschlechterforschung beschäftigt hat. Auch in ihrem heutigen Arbeitsfeld kümmert sie sich um den Diversity-Bereich des ALBuM-Netzwerks.
Zum Start des Projekts füllen Mentor*innen und Mentees eine Art Steckbrief aus, anhand dessen optimale „Matches“ gefunden werden. Die Mentor*innen, 21 sind es bisher, kommen aus verschiedenen Branchen. Sie arbeiten zum Beispiel bei der Bundesagentur für Arbeit, Continental, Göing, Hannover 96, TUI, der Uni Hamburg oder eben bei der Landeshauptstadt Hannover.
Im Rahmen einer digitalen Auftaktveranstaltung haben die Mentor*innen sich vorgestellt, es konnten Fragen gestellt werden und sieben Mentoring-Tandems haben sich bereits gefunden. In Eins-zu-eins-Treffen können die Tandems nun über berufliche Optionen, Ideen und Hindernisse sprechen, genauso wie über Probleme beim Outing oder Dinge, die einfach dran sind. „Der Start ins Berufsleben ist ja mit vielen Ängsten verbunden“, so Wilhelm, „das trifft für queere junge Menschen, die vielleicht gerade erst dabei sind, ihre Identität auszubilden, natürlich besonders stark zu. In vielen Unternehmen findet momentan ein kultureller Wandel statt und es gibt gute Ansätze und auch bereits gut implementierte Prozesse, sich mit Diversität nicht nur in religiösen oder ethnischen Belangen, sondern auch hinsichtlich der sexuellen Orientierung zu befassen. Oft gehört das schon zur Strategie der Firmen beim Run auf die klügsten Köpfe. Aber frag mal bei einem Kleinunternehmen nach einem Diversity-Management. Das wird dort nicht der Fokus sein, anders als bei international agierenden Konzernen wie zum Beispiel Volkswagen. Natürlich kann auch in kleinen Unternehmen ein super Klima herrschen für Schwule, Lesben und Trans*Personen. Die Frage ist dann, wie die innerbetrieblichen Prozesse sind, wie oder ob überhaupt darüber gesprochen wird, wenn queeren jungen Menschen dann doch Hürden begegnen.“
Zusätzlich zu den Tandem-Treffen finden nun zweimal im Jahr Socializing-Events mit allen zusammen statt. Viermal jährlich soll es Netzwerk- und Fortbildungsevents für Mentor*innen und Workshops für Mentees geben.

  ● Annika Bachem

Weitere Informationen finden Interessierte auf der Website des
Jugendzentrums unter www.queerunity.de/mentoring

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Zukunft geht anders


Vielleicht werden einige unseren Titel „Planlos …“ als schlichtes CDU-Bashing verurteilen. Okay. Aber wenn man einen Text über die Krise der deutschen Politik schreibt, und zwar in dem Sinne, dass es um Verstocktheit geht und um Visionslosigkeit und Mutlosigkeit, dann kommt man an einem CDU-Bashing gar nicht vorbei. Immerhin ist diese Partei seit vielen Jahren tonangebend hier bei uns in Deutschland. Und hat jede Menge verbockt. Beziehungsweise liegenlassen. Ausgeklammert. Ignoriert.

Die Liste der Baustellen in Deutschland ist inzwischen sehr lang. Bildungs- und Chancengleichheit, soziale Schieflagen, die zunehmende Verarmung von Teilen der Gesellschaft, Digitalisierung, Klimaschutz, Bürokratie … Dringenden Handlungsbedarf gibt es fast überall. Natürlich ist der Text in dieser Ausgabe auch entstanden unter dem Eindruck der Flutkatastrophe vor einigen Tagen. Wir müssen uns wohl daran gewöhnen, dass die Folgen des Klimawandels nun bei uns allmählich unangenehm spürbar werden. Und mir haben einige Äußerungen unseres angehenden Bundeskanzlers angesichts dieser Aussichten überhaupt nicht gefallen. Ich fand nicht so schlimm, dass er gelacht hat. Das kann passieren, vielleicht musste einfach ein bisschen Druck raus. Ich fand viel schlimmer, was er gesagt hat. Nämlich, dass er auch angesichts eines solchen Tages jetzt nicht daran denkt, die Politik zu ändern. Ich glaube, das Wörtchen renitent beschreibt es am besten. Diese Skepsis gegenüber der Idee, endlich eine entschlossene Klimapolitik zu betreiben, die Energiewende tatsächlich umzusetzen und massiv zu investieren, wo das nötig ist, diese Skepsis zieht sich durch die gesamte CDU/CSU und auch durch große Teile der SPD, von manchen anderen Parteien ganz zu schweigen. Man glaubt offensichtlich noch nicht so ganz an den dringenden Handlungsbedarf. Ich kann gut verstehen, dass vor allem jüngeren Menschen, die mit den Folgen des Klimawandels werden leben müssen, angesichts dieser Renitenz allmählich der Kragen platzt. Die Langsamkeit der Politik quält ohnehin zunehmend die Gemüter. Wenn dann auch noch erkennbar wird, dass der Wille fehlt, dann verstehe ich den Ärger.

Diese Langsamkeit hat allerdings nicht allein ihren Ursprung bei den renitenten Politikern. Sie ist inzwischen auch Teil unseres Systems. Die Bürokratie lähmt uns zunehmend. Wir haben uns Strukturen geschaffen, die verhindern und nicht ermöglichen.

Ich hätte mir sehr gewünscht, dass uns Corona zum Umdenken bringt an manchen Stellen. Dass wir uns unserer Verletzlichkeit bewusst werden. Dass wir nicht erst fühlen müssen, bevor wir hören. Dass wir nicht einfach zurückkehren zum Alten, sondern mehr Neues wagen. Dass wir pragmatischer werden. Mutiger. Dass wir wieder solidarischer werden und nachhaltig klüger. Ich befürchte, wir werden bei diesem Plan sehr auf uns allein gestellt sein. Mehr zum Thema ab Seite 54.

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Neu in der Stadt im August


Hannover City University

Im Juli hat die britische Hotelmarke Premier Inn ihr inzwischen 28. Hotel in Deutschland eröffnet – und ihr erstes in Hannover: Gelegen zwischen dem Hauptbahnhof und der Altstadt im Gebäude des ehemaligen Star Inn ist nun das „Hannover City University“ zu finden. 179 Zimmer und 51 Parkplätze stehen den Gästen für ihren Aufenthalt im Hotel zur Verfügung. „Die zentrale Lage ist zum einen ein idealer Startpunkt, um bei einem Städtetrip die zahlreichen Sehenswürdigkeiten zu genießen, vom Sprengel Museum über Welfenschloss, Herrenhäuser Gärten und Ernst-August-Galerie bis zum Maschsee als besondere Attraktion eines Gewässers mitten in der Stadt. Zum anderen ist das Haus durch die hervorragende Verkehrsanbindung ideal für Business-Gäste, vor allem Messe- und Kongress-Besucher“, betont Inge Van Ooteghem, Chief Operating Officer von Premier Inn Deutschland. „Ein modernes und hochwertiges Hotel an einem so gefragten Standort wie der City von Hannover kommt gerade recht für die neue Lust am Reisen“, findet zudem Hotelmanagerin Martina Liepke. Sie hat mit ihrem Team, zu dem sehr viele Beschäftigte des ehemaligen Star Inn gehören, zuletzt über mehrere Monate den eigenen Markenauftritt angepasst und für den Start des 28. Premier Inn in Deutschland vorbereitet. Insgesamt hat sich die Hotelgruppe aus Großbritannien seit 2015 bereits in mehr als 30 Großstädten insgesamt 73 Standorte mit rund 13.000 Zimmern gesichert. Sie steht für preiswerte Übernachtungsmöglichkeiten, die trotzdem allen Erwartungen entsprechen, und richtet sich sowohl an Geschäfts- als auch an Freizeitreisende. Hamburger Allee 65, 30161 Hannover. Kontakt: Tel. (0511) 93 66 54 95. Mehr Infos auf  www.premierinn.de.

 

Hörgeräte und Brillen aus einer Hand
Nachdem KIND 2018 sein Fachgeschäft in der Karmarschstraße in ein kombiniertes Hörakustik- und Augenoptik-Fachgeschäft umgewandelt und als Flagship-Store wiedereröffnet hat, hält das Familienunternehmen aus Großburgwedel nun an einem weiteren Standort in Hannover Hilfsmittel sowohl für die Augen als auch für die Ohren bereit. Im Juli ist der neue Laden im Stadtbezirk Kleefeld eröffnet worden und bietet seinen Kund*innen das komplette Produkt- und Leistungsspektrum zu den Themen Sehen und Hören. Dieses reicht von individuellen Beratungen über die Anpassung von Hörgeräten, Brillen und Kontaktlinsen bis hin zur Ausstattung mit maßgefertigten Hörschutzprodukten, mit denen ein gutes Gehör bewahrt werden kann. Auch kostenlose Hör- und Sehtests können hier gemacht werden, und das in jedem Alter. Aufgrund der aktuell gültigen Abstands- und Hygieneregeln wird allerdings um eine vorherige Terminvereinbarung gebeten. Zum Sortiment gehört auf der einen Seite eine reichhaltige Auswahl an Hörlösungen, die immer häufiger auch mit dem Smartphone verbunden werden können – so etwa das KINDwings, das drahtlose Kommunikation mit smarter Steuerung bietet, oder KINDmySound!, ein System zur Anpassung moderner Hörgeräte. Auf der anderen Seite sind im Bereich Augenoptik unterschiedlichste Sehhilfen in der Auslage zu finden. Neben einer eigenen Brillen-Kollektion und ausgewählten Designerfassungen, zum Beispiel von Ray-Ban, Jaguar oder Emporio Armani, werden außerdem Präzisions-Brillengläser und Kontaktlinsen angeboten. Kirchröder Straße 103, 30625 Hannover. Öffnungszeiten: montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr, samstags von 9 bis 13 Uhr. Terminvereinbarungen per Tel. (0511) 51 56 71 30 oder online auf www.kind.com/termin.

Foto: Oliver Pohl

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Der Eisberg

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Der Eisberg


 Andrea Spallanzani, Pixabayy„Hannes! Endlich! Der Herr sei gepries- … ich meine: Wie gut, dass du so schnell kommen konntest! Bitte, tritt ein!“
Mit hörbarem Widerwillen folgt mein Bruder der Aufforderung meines nervlich angespannten Liebsten und betritt, zum allerersten Mal überhaupt, meine Wohnung. Dem Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses nach zu urteilen legt er seine Jacke ab, sehr langsam und zögerlich.
„Keine Ursache“, sagt er trocken. „Also: Was ist mit Anne? Am Telefon warst du nicht sehr konkret …“
„Das ist, weil ich es selbst nicht so recht weiß! Und ich habe nicht die geringste Idee, was ich tun – wie ich ihr helfen kann! Deshalb habe ich gehofft, dass jemand, der sie länger kennt … und weil wir gerade von dir sprachen, als es anfing …“
„Was anfing?“
Sofort nehme ich mein lärmendes Treiben wieder auf, woraufhin Lachlan ein verzweifeltes Da hörst du’s! stöhnt. Ich erhöhe den Lautpegel noch etwas, damit ich den weiteren Wortwechsel der beiden nicht mit anhören muss; schließlich weiß ich sehr genau, welche Ereignisse zu meiner jetzigen Gefühlslage geführt haben, und zu dem Umstand, dass ich hinter verschlossener Badezimmertür in einem Meer aus Reue und Wehmut sitze. Diese nämlich:
Nachdem Lachlan von seinem zweiwöchigen Brecht-und-Ballett-Bootcamp zurückgekehrt war, wollten wir endlich mal wieder einen Abend zu zweit verbringen und etwas tun, das wir schon sehr lange nicht mehr getan haben: Fernsehen. Wir saßen also gemütlich aneinander gekuschelt auf dem Sofa und starrten – der eine mehr, die andere weniger – gebannt auf den Bildschirm, über den ein ziemlich langatmiger maritimer Streifen flimmerte, als ich nach etwas mehr als drei Stunden (!) einen heißen Tropfen über meine Stirn kullern spürte. Verwundert drehte ich den Kopf zu Lachlan, dessen gerötete, ausgebeulte Augen ich als Ursprung des Gusses ausmachte. In einem Anflug von Peinlichkeit rückte ich ein Stück von ihm ab.
„T-tut mir leid“, stammelte er, „auch wenn ich die Szene bestimmt schon ein dutzend Mal gesehen habe, bringt sie mich doch jedes Mal wieder zum Heulen! Dieser Moment, wenn klar wird, dass er stirbt – der ist so unfassbar traurig und gleichzeitig so romantisch ergreifend und schön …“
„… und dumm“, ergänzte ich seine Auflistung. „Immerhin hätte ein schmaler Bursche wie Jack mit Leichtigkeit Platz auf der Tür gefunden, wenn Rose nur ein wenig zur Seite gerückt wäre. Hätte sie außerdem ihre Rettungsweste ausgezogen und an der Unterseite befestigt, hätte ihr improvisiertes Floß genügend Auftrieb bekommen, um beide Körper aus dem eiskalten Wasser zu heben und die Gefahr des Erfrierungstods zu minimieren. Wenn sie nur etwas mehr nachgedacht hätte und weniger … nun ja …“
Lachlan stutzte. „Du willst sagen: weniger geweint?“
Ich nickte etwas widerwillig und wollte mich schon erheben, um noch eine Tüte Kaiserkrabbenkräcker aus der Küche zu holen, als Lachlan etwas verunsichert fortfuhr: „Eigentlich wollte ich dich das schon länger einmal fragen, Anne. Kann es sein, dass du … nicht sehr oft weinst?“
„Ich sehe nun einmal keinen Sinn darin“, antwortete ich etwas schnippisch und ging nun wirklich los, um mir meine Kalorien zu holen. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, war das Thema jedoch noch nicht gegessen.
„Keinen Sinn? Weinen ist doch keine Frage des Sinns!“, schleuderte er mir entgegen. „Es ist eine körperliche Reaktion, die immer dann eintritt, wenn man von seinen Gefühlen überwältigt wird. Und du, Anne, du hast doch auch, ähm, Gefühle. Außerdem ist Weinen bei aller kulturellen Stigmatisierung doch etwas sehr Nützliches, Reinigendes …“
„Es ist ja nicht so, als ob ich es nie versucht hätte“, unterbrach ich ihn verärgert, da ich diese Konversation überhaupt nicht schätzte. „Als Kind habe ich sogar regelmäßig mit meinem Bruder geübt – leider völlig erfolglos. Was ich auch versuchte, es kam keine einzige Träne heraus, dafür Schweiß, Blut und … andere Flüssigkeiten. Nicht einmal meine Eltern, die mich eigentlich bloß anzusehen brauchten, um selbst in Heulkrämpfe auszubrechen, konnten es mich lehren … Augenblick mal!“
In diesem Moment war mir ein brillanter Einfall gekommen. Ich packte Lachlan bei den Schultern und blickte ihm erwartungsvoll in die immer noch feuchten Augen.
„Du könntest es mir beibringen! Als Schauspieler gehört das Nachäffen von menschlichen Regungen schließlich zu deinem Beruf! Sicher gibt es da einen Trick fürs Weinen, oder?“
„Also, ‚Nachäffen‘ ist nicht gerade der Ausdruck, den ich für meine Kunst verwenden würde“, entgegnete Lachlan spitz. „Allerdings gibt es schon verschiedene Methoden, die unsereins verwendet, um Emotionen authentisch zu spielen. Ich persönlich hänge der Schauspieltheorie von Konstantin Stanislawski, dem Urvater des Method Acting, an, die besagt: ‚Erschaffe eine Als-Ob-Situation, um das für deine Rolle benötigte Gefühl abzurufen.‘ Ich sehe, das Unverständnis ist dir ins Gesicht geschrieben …“
Ich setzte mich wieder auf das Sofa und lauschte in leiser Hoffnung, heute vielleicht endlich einen Durchbruch in Sachen Menschlichkeit zu erleben. Lachlan räusperte sich.
„Wenn in meinem Skript steht, dass meine Rolle vor Kummer in Tränen ausbrechen soll, versetze ich mich an gegebener Stelle geistig zu einem Zeitpunkt in meiner Vergangenheit zurück, da ich ähnlich verzweifelt war – und zwar an den Abend vor meiner Abreise ins Priesterkolleg, als mich die Angst vor der Fremde und die Sorge, aus lauter Pflichtgefühl den Weg in eine einsame, durchregulierte und vor allem theaterfreie Zukunft einzuschlagen, vollkommen niederdrückten … und ich mir zum ersten Mal Titanic ansah. Siehst du: Ich muss nur daran denken, da gehen schon die Schleusen auf!“ Stolz deutete er auf zwei fette Tränen, die sich unter seinen Lidern hervorquetschten, auf den Sofabezug platschten und zwei große dunkle Flecken hinterließen. Ich runzelte die Stirn.
„Aha. Der Film funktioniert aber bei mir nicht, das haben wir nun schon festgestellt. Dann … lassen wir’s halt. Ist eh nicht so wichtig, dass ich’s lerne …“
Damit wollte ich das Thema begraben und einfach nur noch schweigend den Film zu Ende sehen. Doch Lachlan hatte noch was auf dem Herzen.
„Du sagtest vorhin, du hättest mit deinem Bruder trainiert“, sagte er, nachdem er sich lautstark in ein Taschentuch geschnäuzt hatte. „Wie muss ich mir das vorstellen?“
„Wie wohl? Ich habe ihn natürlich zu imitieren versucht, jedes Mal, wenn er geweint hat, was praktischerweise recht oft vorkam. Manchmal habe ich aber auch etwas nachgeholfen, damit ich mehr Übungsmöglichkeiten bekomme – zum Beispiel bin ich des Nachts mit der laufenden Kettensäge in sein Zimmer gestürzt, damit er aus Angst weint. Oder ich habe ein Wandregal manipuliert, damit es ganz knapp an ihm vorbei zu Boden stürzt und er aus Erleichterung weint. Oder ich habe ihm seine geliebte Haselnuss-Limettencreme-Torte gebacken und dann vor seinen Augen aufgegessen, damit er vor Enttäuschung … hat mir aber wenig genützt das Ganze …“
Nachdem ich diese Erklärung abgegeben hatte, blieb es eine Weile still, sodass ich mir in Ruhe den Abspann des Films ansehen konnte. Dann berührte mich Lachlan leicht am Arm, und als ich mich fragend zu ihm umdrehte, blickte mir aus seinem Gesicht das blanke Entsetzen entgegen.
„Du hast ihn absichtlich zum Weinen gebracht? Deinen eigenen Bruder?“
„Ja. Genau das. Warum?“
„Weil … du ihm damit doch sicher wehgetan hast. Und das nur, um dir anschließend seinen Schmerz ansehen zu können. Das war alles andere als christ- … ich meine: das war nicht sehr empathisch von dir.“
Ich blinzelte. Aus dieser Perspektive hatte ich meine unschuldigen Kindheitserinnerungen noch nie betrachtet – also, aus der meines Bruders. Hatte ich ihn damals wirklich … gequält? Erklärte das womöglich, warum unser Verhältnis – bei aller Liebe – stets etwas angekratzt blieb? Es musste so sein. Doch wie hatte ich das nur all die Jahre übersehen können?
Lachlans harte, zutreffende Worte hatten mich so unvorbereitet getroffen wie der gewaltige Eisberg das stolze Luxusschiff. Und als ich an ihnen zerschellte, brachen sich die schmerzlichsten Gefühle Bahn, sie überwältigten mich und führten zu einer körperlichen Reaktion … und ins Badezimmer.
Hier bin ich also nun und tue – wie Hannes zweifelsohne in diesem Moment meinem aufgewühlten Herzblatt auseinandersetzt – das, was ich im Augenblick totaler Emotionsüberflutung immer schon getan habe: Ich putze. Kacheln schrubben, Wanne scheuern, Klo pömpeln. Und das mit Schmackes, damit man schon von Weitem hört, dass hier keine Unterbrechung gewünscht wird.
Wenn ich schon nicht zur Selbstreinigung fähig bin, dann doch wenigstens zur Badreinigung.
  ● Anne Andersch

Foto: Andrea Spallanzani, Pixabay

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… mit Franziska Stünkel

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… mit Franziska Stünkel


Franziska Stünkel mit Lars Eidinger

Für ihren Film „Nahschuss“, der am 12. August in die Kinos kommt, ist Franziska Stünkel beim Filmfest München gleich zweifach ausgezeichnet worden. Sie bekam den Förderpreis Neues Deutsches Kino für das beste Drehbuch und gewann den One Future Award. Die Geschichte über Franz Walter, der sich in der ehemaligen DDR immer mehr in die Machenschaften des Geheimdienstes verstrickt und schließlich selbst zum Opfer wird, ist unfassbar intensiv und dicht erzählt, man findet nur schwer wieder heraus aus diesem Schicksal, es hängt einem noch Tage nach. Wir haben mit Franziska Stünkel über diesen sehr besonderen Film gesprochen …

Wann hattest du die Idee für diesen Film, was war dein Ausgangspunkt?
Das ist ungefähr 10 Jahre her. Ich hatte damals einen Zeitungsartikel gelesen, in dem am Rande die Todesstrafe in der DDR erwähnt wurde. Das hat mich erstaunt und sogar erschrocken. Mir war das vorher nicht präsent. Für mein Gefühl geht es vielen Menschen so. Dieser historische Fakt scheint noch nicht im kollektiven Bewusstsein angekommen zu sein. Die Todesstrafe gab es jedoch in der DDR bis 1987, fest verankert im Strafgesetz, und sie wurde auch vollzogen bis 1981. Ich habe dann angefangen zu recherchieren und ein Foto von Werner Teske gefunden. Das ist der Mensch, der zuletzt durch das oberste Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet worden ist. Dieses Foto zeigte mir einen Menschen mit einem sehr sensiblen Blick – so habe ich es empfunden. Ich habe dann alles über ihn gelesen, was ich an Fakten finden konnte. Beispielweise dass er promoviert hat, an der Humboldt-Universität, und dann in der HVA gearbeitet hat, dem Geheimdienst der DDR. Ich habe immer weiter recherchiert, weil er mich nicht losgelassen hat. Was hat er erlebt, was ist ihm widerfahren?

Das Thema von Nahschuss ist also die Todesstrafe in der DDR?
Das Thema der Todesstrafe ist der Ausgangspunkt, aber ich mache Filme nicht über ein Thema, sondern über Menschen. Und Nahschuss ist ein Film über Franz Walter. Die Geschichte lehnt sich in Teilen an das Leben von Werner Teske an, doch Nahschuss ist ein fiktionalisierter Stoff, ein Spielfilm. Es ist die Geschichte von Franz, die ich ganz bewusst im Drehbuch und auch später in der Inszenierung sehr nah am Menschen erzählen wollte.

Hattest du schon zu Beginn deiner Begegnung mit Werner Teske die Idee, aus dieser Geschichte einen Kinofilm zu machen?
Was konkret aus einer Idee wird, das entwickelt sich bei mir immer im Prozess. Bei Nahschuss stand  da zunächst die Recherche im Mittelpunkt. In der Recherche geht es viel um die äußeren Begleitumstände, um Fakten, im Fall von Nahschuss um Fakten über die Todesstrafe in der DDR, über Werner Teske, über das politische System – das fügt sich mehr und mehr zu einem Bild.
Und daraus entwickelt sich dann die Geschichte?
Diese Recherche hat mich lange begleitet – so eine Drehbucharbeit dauert mitunter Jahre – und sie ist dabei natürlich auch immer eine Spurensuche, danach, was man genau als Geschichte im Film erzählen möchte. Der Fiktionalisierungsprozess ist dann ein künstlerischer Prozess. Was greife ich aus diesem Leben heraus? Man kann nicht ein ganzes Leben in 90 Minuten, bzw. in 115 Minuten erzählen. Man setzt im Drehbuch einen Schwerpunkt. Daraus ergibt sich, an welcher Stelle man Bilder und Handlungen erschaffen muss, um einen psychologischen Prozess stufenweise zu verdeutlichen – wann man sich von Realität lösen muss, um wahrhaftiger und klarer zu sein, in dem künstlerischen Medium Spielfilm. Ich wollte in Nahschuss Fragen aufwerfen, wie beispielsweise: Können wir frei entscheiden? Wodurch können wir darin manipuliert werden? Wie erschafft man sich eine Bewusstwerdung für die Ursachen eigener Entscheidungen, die u.a. durch Gesellschaft, Erziehung und ein politisches System geprägt sind? Die  innere Entwicklung von Franz ist es ja, die das Thema emotional abbildet. Und darum geht es im Kino und besonders auch in einem Film wie Nahschuss, in dessen Mittelpunkt durchweg ein einziger Mensch steht.

Und jetzt ist es ein Kinofilm, eine ganz bittere Geschichte über das Schicksal eines Menschen, weil darin so viel abgründig Menschliches steckt.
Ja, ich fand es wichtig, dieses Stück von Franz‘ Lebensweg zu erzählen. Da ist ein Mensch, der in einem politischen System lebt, groß wird, sich danach orientiert und verankert – und zu fremdeln beginnt, weil er realisiert, dass dieses Unrechtssystem einzelne Menschen missbraucht, das Vertrauen dieser Menschen, auch sein Vertrauen missbraucht. Dies konsequent von innen heraus zu erzählen, aus Franz heraus, das fand ich für einen Kinospielfilm sehr spannend.

Und im Kino wird das sehr intensiv erlebbar.
Das hoffe ich. Das Kino empfinde ich als einen sehr passenden Ort für kompromissloses Einlassen. Man steht nicht zwischendurch auf und geht zum Kühlschrank oder schaut aufs Handy, es ist die totale Hingabe. Kino rüttelt unsere Gefühle und Gedanken wach, wirft Licht auf das, was wir vergessen haben oder noch nie gesehen haben. Man erlebt das Feinstoffliche – nicht nur das, was in Worten gesagt wird, sondern vor allem das, was in einem Menschen geschieht. Das öffnet uns für neue Räume und Themen. Im Idealfall zieht dieses Einfühlen in ein anderes Leben auch eine tiefere Selbstbefragung nach sich. Das finde ich gerade heute sehr wichtig in einer Welt, in der wir mit komplexen Themen und großen Herausforderungen umgehen müssen. Ich liebe die emotionale Wucht von Kino, die mir immer wieder eins zeigt: Uns alle einen universelle Gefühle. So können wir einander nachvollziehen, in welche ferne Welt auch immer das Kino uns holt. Das ist Aufgabe der Regie, die Emotionen authentisch zu zeichnen. Unter den unzähligen Möglichkeiten der dramaturgischen, visuellen und auditiven Mittel auszuwählen und daraus die Gesamtkomposition des Films zu formen. Die ganz eigene künstlerische Handschrift des Films entsteht daraus, sein Wesen. Mehrdimensionalität und Komplexität sind dabei Grundvoraussetzungen. Die Emotionalität entsteht maßgeblich durch das Schauspiel. Es war großartig, mit Luise Heyer, Lars Eidinger und Devid Striesow an historischen Orten zu drehen. Mit ihrer Intensität im Schauspiel haben sie die Ambivalenz und Vielschichtigkeit der Figuren in Nahschuss fulminant ausgelotet. Dem Team bin ich für die hohe Konzentration sehr dankbar. Wir haben beispielsweise morgens um vier Uhr in der Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen gedreht. Mit dem Wissen um das Geschehene an diesen historischen Orten zu drehen, war ein intensiver Prozess. Die Konzentration und Stille aller Beteiligten am Set machte ein gemeinsames Erspüren der Geschichte und der Orte möglich. In dieser Konzentration konnten wir bei den Dreharbeiten Möglichkeiten emotionaler Einlassung erschaffen – gleichsam vor und hinter der Kamera.

An so einem Drehbuch zu schreiben, ist ein eher einsamer Prozess, oder?
Es ist ein einsamer Prozess mit Unterbrechungen. Während der Recherchephasen habe ich sehr viel mit Historikern, Zeitzeugen und Menschen gesprochen, die in der DDR aufgewachsen sind. Während des Schreibens bin ich jedoch allein, monatelang. Gerade am Anfang möchte ich auch zunächst unbedingt herausfinden, was der Kern der Geschichte für mich ist. Wenn ich diesen Kern gefunden habe, beginnt das eigentliche Schreiben, im Fall von Nahschuss über den Zeitraum von sieben Jahren. Drehbuchschreiben ist jedoch kein durchgängig isolierter Prozess. Der berühmte „Blick von Außen“ ist wichtig, der in jahrelangen Prozessen auch nur durch Dritte kommen kann: Das war bei Nahschuss durch die Dramaturgen Norbert Maass und Esther Bernstorff und die Produzentin Bettina Wente gegeben, und natürlich immer wieder auch durch die historischen Berater des Films. Es gibt also einen Austausch und einen Diskurs, das finde ich wertvoll. Aber das Schreiben an sich ist immer wieder ein Prozess, für den man sich ganz zurückzieht und in den man allein geht.

Zu welcher Tageszeit schreibst du am liebsten?
Ich schreibe extrem gerne nachts. Weil nachts das eigene Leben und auch das Leben draußen nahezu still steht. Dunkelheit lässt nicht nur visuell die reale Welt verschwinden. Man begibt sich beim Schreiben ja mehrdimensional in verschiedene Figuren hinein. Dieses Eintauchen in die Haltungen, das bewusste und unbewusste Handeln und die Emotionen der einzelnen Figuren, das erfordert für mich, dass ich dann ein ganzes Stück weit aus meinem eigenen Leben heraustrete.

Denkst du beim Schreiben oder vorher?
Ich denke vorher sehr viel, extrem viel, für jede Drehbuchfassung neu. Und dann gibt es einen Punkt, an dem sind mir die Figuren so nahe, dass es sich aus ihnen herausschreibt. Man lernt mit jeder weiteren Drehbuchfassung seine Figuren mehr und mehr kennen und weiß um deren Bedürfnisse und Motivationen. Man weiß, wo sie scheu sind, wo sie sich selbst nicht anschauen. Man weiß um ihre Sprache, man weiß, wie sie sich physisch ausdrücken. Das ist der Moment, wo die Figuren sich dann beginnen, sich aus sich heraus schreiben zu lassen, ein schöner, fast euphorischer Moment, wenn er erreicht ist. Der ‚Runners High‘ des Schreibens. Wobei natürlich der Rahmen bleibt, ein Film funktioniert ja in bestimmten zeitlichen und dramaturgischen Parametern, man muss die Figuren also quasi immer wieder einfangen. Das ist eh das Spannende und aber auch Anspannende beim Filmemachen: Der Freilauf der Leidenschaft, das Künstlerische, das auf die Ratio der zeitlichen und ökonomische Gegebenheiten trifft und darin seinen Weg der Entfaltung gehen muss.

Kannst du mal die Handlung des Films umreißen. Was geschieht mit Franz Walter?
Franz Walter erleben wir am Anfang, 1980, als glücklichen Menschen. Er hat gerade frisch an der Humboldt-Universität promoviert. Er will zu Forschungszwecken nach Afrika reisen. Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes halten ihn von der Ausreise ab und stellen ihm eine Professur an der Universität in Aussicht, sein Lebenstraum. Allerdings soll Franz dafür zunächst für den Geheimdienst der DDR arbeiten. Franz nimmt dieses Angebot an.

Und damit beginnt das Drama.
Ja. Und je mehr er sich auf diese Arbeit einlässt, umso mehr wird ihm gewahr, dass dies nicht sein Leben ist und dass dies nicht das Leben ist, das er führen möchte. Er sucht fortlaufend nach einem Weg raus – und findet ihn nicht mehr. Er muss sich in diesem Prozess erst einmal seiner Selbst gewahr werden und parallel die Machenschaften um ihn herum verstehen. Es gibt einen Zeitpunkt, an dem er keine Chance mehr hat, sich selbst daraus zu befreien. Ihm wird bewusst, dass er gar nicht rausgelassen werden kann und soll. Es war mein Wunsch, dass die Geschichte auf der einen Seite ein historischer Film ist, der auch auf die Gegenwart und eine potenziell mögliche Zukunft verweist, denn Lebenswege wie der von Franz gehören leider nicht zur Vergangenheit. Es geht in Nahschuss darum aufzuzeigen, wie sich ein Mensch in einem politischen System verhält, in dem er aufgewachsen ist und die Frage: Wie können politische Systeme Menschen manipulieren? Es geht um eine historische Dimension, aber eben auch um eine persönliche, eine physische und psychische Dimension. Franz fängt an zu trinken. Es gibt Leute, die gehen in die Depression, andere in die Aggression. Wenn man das Gefühl hat, keinen Ausweg mehr zu finden, mit dem Rücken zur Wand zu stehen, dann passiert an solchen Stellen sehr viel in uns Menschen, man wird immer schwächer, hört aber parallel oft nicht auf zu kämpfen. Es geht um  Schuld und Unschuld. Diesen Prozess erzähle ich in Nahschuss, bis zu dem Moment, an dem ein an dieser Stelle politisches Unrechtssystem willkürlich über das Leben des Einzelnen entscheidet. Was macht das alles mit einem Menschen? Zu was sind totalitäre Systemen heute fähig? Das zu zeigen, war mir wichtig. Deshalb ist der Film immer ganz nah bei Franz, um dies erfahrbar zu machen. Und damit auch eine Übertragbarkeit zu setzen. Noch heute steht die Todesstrafe im Strafgesetz von über 50 Staaten.

Eine Übertragbarkeit zu dem, was in noch existierenden Systemen mit Menschen geschieht?
Ja. Ich bin in den letzten zehn Jahren sehr viel für meine Fotoserie COEXIST gereist, und ich habe vor Ort in den verschiedenen Ländern natürlich mitunter auch totalitäre gesellschaftliche und politische Lebensformen gesehen – in diesen Systemen findet die Verfolgung Andersdenkender und Oppositioneller statt. Und mit Franz, mit dieser Charakterstudie, versuche ich, dem nah zu kommen.

Der Blick auf Franz ist wirklich kompromisslos nah.
Das war mir überaus wichtig. Mit so einer Kompromisslosigkeit an diesem Menschen dranzubleiben. Das Drehbuch verzichtet darum auch komplett auf Establisher, der Ort der Handlung wird also nicht von außen gezeigt. Keine Landschaften, keine Gebäude. Die Figur wird nie verlassen, man ist immer bei Franz, so als würde man neben ihm stehen und gehen. Ich habe diese Desorientierung im Bezug auf Räume und Orte, die dadurch entstehen kann, im Verlauf des Films auch ganz bewusst eingesetzt. Weil ja auch Franz sich in einer Situation befindet, in der ihm Orientierung schwerfällt. Was ist wahr, was Lüge?

Und nicht alles wird entlarvt …
Nein, ich erzähle in Nahschuss nicht alles zu Ende. Man erfährt zum Beispiel nicht, ob es eine Affäre gab zwischen Dirk, sozusagen Franz‘ Mentor, und Corinna, Franz‘ Frau. Man kann das, genau wie Franz selbst, nur erahnen. Und man kann auch ahnen, unter welchem eigenen oder äußeren Druck die anderen Figuren in diesem Film stehen.

Da läuft auf vielen Ebenen sehr viel Böses …
Ja. Und wir alle kennen das, wir alle stehen in Abhängigkeiten. Und müssen uns fragen, woraus sich unsere Entscheidungen im Leben eigentlich speisen. Im Idealfall geht es um eine Abkehr von Automatismen. Wir sollten uns immer wieder Bewusstsein erschaffen und bewusst entscheiden. Und in Nahschuss geht es zudem sehr viel um Vertrauen. Symbol dafür ist zu Beginn der Kuli-Ring …

Das musst du kurz erklären …
Am Anfang gibt es einen spontanen Heiratsantrag. Weil Franz und Corinna keine Ringe dabeihaben, schlägt sie vor, dass sie sich mit einem Kugelschreiber einen Ring um den Finger malen. Den müsse man täglich erneuern, nach jedem Duschen, und man würde so jeden Tag dieses Versprechen zur Liebe und zum Miteinander bewusst wieder eingehen, so sagt Corinna. Zwischen ihr und Franz gibt es ja diese tiefe Liebesgeschichte, sie will Franz vertrauen. Wenn man liebt, möchte man nicht prüfen, nicht die komplette Wahrheit oder Wahrhaftigkeit infrage stellen, man gewährt einen Vertrauensvorschuss. Aber wenn man liebt, ist man natürlich auch sehr stark manipulierbar …

In der neuen Wohnung fragt sie ihn, wie er die Wohnung bekommen hat. Und er sagt etwas von Beziehungen. Ihr reicht das. Ist das dieser Vertrauensvorschuss?
Ja, und es ist gleichzeitig eine erste Unterlassung, etwas Ungesagtes. Stattdessen legt Franz eine Platte auf …

Der Ton spielt insgesamt eine besondere Rolle, dir waren die Geräusche ganz wichtig.
Ja, es gibt in Nahschuss keinen Filmscore, also keine komponierte Filmmusik, außer im Abspann, komponiert von Karim Sebastian Elias. Er hat sich darauf eingelassen, die ganze Kraft der Musik in den Moment hineinzulegen, nachdem Franz gestorben ist. Der Abspann soll so einen ersten Reflexionsraum anbieten für das Geschehene. Vorher gibt es im Film nur Musik, wenn zum Beispiel eine Schallplatte aufgelegt wird oder wenn auf einer Party Musik läuft. Das schafft sehr viel Platz für eine unmittelbare Nähe zu Franz. Man hört durchgängig das Rascheln seiner Kleidung, seine Schritte, den Raumklang, so wie er ihn wahrnimmt. Franz‘ Atmung begleitet uns – immer wieder anders, mal flach, mal tief und mal setzt seine Atmung aus, am Ende für immer. Als Mensch atmen wir unbewusst und es erzählen sich damit ungefiltert unsere inneren Zustände. So auch bei Franz. Später einmal das Atmen mit Corinna im Arm – bis in den gleichen Rhythmus hinein. Wenn ich Musik im Film verwendet hätte, würde man den Atem zwischendurch verlieren. Aber er war mir sehr wichtig. Das hat in diesen Momenten fast etwas Dokumentarisches. Das funktioniert nur ohne Musik, alles andere wäre ein Schritt weg von der Figur gewesen.

Das ist eine große Stärke des Films.
Das hoffe ich. Es ging mir einfach um die größtmögliche Nähe. Darum gibt es auch sehr lange Einstellungen. Der Film hat die Hälfte der Schnitte eines durchschnittlichen Films. Man schaut den Menschen sehr lange in die Gesichter, das ist, als ob ich jemandem gegenübersitze. Und wenn ich jemanden lange anschaue, sehe ich auch das, was nicht gesprochen wird. Was denkt und fühlt jemand mir gegenüber wirklich? Was geht in ihm vor? Das auszuhalten, und da emotional mitzugehen, finde ich hochspannend – im Leben wie im Film. Und daraus speist sich hoffentlich auch die Spannung von Nahschuss. Nahschuss sollte immer auch ein spannendes Kinoerlebnis sein.

Du hast insgesamt eine sehr eigene Sprache gefunden in diesem Film.
Ich habe überlegt, wie ich die Geschichte über Franz am glaubwürdigsten und wahrhaftigsten erzählen kann. Und daraus haben sich die Mittel ergeben. Ich wollte kein klassisches Historiendrama erzählen. Aus der Entscheidung, den ganzen Film über einem einzigen Menschen ununterbrochen nah zu sein, schreibt sich die Form. Beispielsweise der Gimbal als durchgängig bewegte Kamera, mit der der Kameramann Nikolai von Graevenitz den SchauspielerInnen immer folgt. Für Nahschuss haben wir teils Entscheidungen deutlich jenseits der Norm getroffen. Es ging mir jedoch nie um den reinen Effekt, das erzielt keine echte Wirkung. Mir ist wichtig, wirklich aus dem Inhalt, dem, was uns als Mensch ausmacht, zu kommen. Nur dann kann Kino seine volle Kraft entfalten und bewegt etwas in meinen Gedanken und Gefühlen.  Das ist das, was mich in der Kunst treibt: möglichst emotional authentisch zu erzählen, denn das ergibt erst wirkliches Hinsehen und in der Folge mehr Verständnis und mehr Verstehen. Und das brauchen wir in dieser Welt.
● Interview: LAK

 

Foto: Joshua Neubert

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Tonträger im August

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Tonträger im August


Mndsgn: Rare Pleasure
Man nehme den Song der Familie Barbapapa plus ein hektisches Schlagzeug mit ins Raumschiff, dann landet man auf dem Planeten von Ringgo Ancheta aka Mndsgn. Der in Los Angeles lebende Produzent und Singer-Songwriter ließ sich von Soundtracks, Samba, Exotica und Library-Platten aus den 70er- und 80er-Jahren inspirieren und setzte seine Vision mit zahlreichen GastmusikerInnen um.

 

 

 

Jesse Markin: Noir
Der aus Liberia stammende Finne Jesse Markin rappt mit Falsettstimme und mäandert auf seinem zweiten Albums ideenreich durch Indie-Pop, R’n’B und elektronische Musik. Mit prominenter Unterstützung von Feature-Gästen wie der US-amerikanischen Hip-Hop-Künstlerin Akua Naru fordert der mit diversen finnischen Auszeichnungen dekorierte Kritikerliebling nun seinen Platz auf internationalen Bühnen.

 

 

 

The Marble Man: Louisiana Leaf
Schräg und düster-dramatisch, aber auch immer wieder einfach schön sind die Songs von Josef Wirnshofer aka The Marble Man. Vorgetragen mit kaum verwechselbar schräg schnarrender Stimme, versammelt der süddeutsche Musiker auf seinem vierten Album „Louisiana Leaf“ acht reduziert arrangierte, dunkel schwirrende Space-Pop-Gemälde im Film-Noir-Gewand.

 

 

 

Mieke Miami: Montecarlo Magic
Geboren in Hamburg, gehört die Sängerin, Songwriterin, Saxofonistin und Produzentin zu den Leuten, die schon nicht mehr in Berlin, sondern in Brandenburg leben. Ihr zweites Album ist auf eine angenehm strahlende Weise angejazzter Pop, locker und easy. Durch die zehn Songs zieht sich ein psychedelisch abgehobener Grundton, immer wieder festgenagelt vom eingängigen Groove.

 

 

 

Tuvaband: Growing Pains & Pleasures
Keine Band, sondern ein Soloprojekt: Eine seltsam gebremste, zarte Magie umgibt die Songs der in Berlin lebenden norwegischen Songwriterin Tuva Hellum Marschhäuser. Schwebende, melancholisch-verträumte Melodien, düster unterlegt von schweren, shoegazigen Gitarren schaffen Soundgebilde, die intensiv und fesselnd und dabei gleichzeitig federleicht sind.

 

 

 

John Grant: Boy From Michigan
Das autobiografisch angehauchte fünfte Soloalbum des in Island lebenden ehemaligen Boys aus Michigan, das im Vergleich zum Vorgänger „Love Is Magic“ wieder etwas balladesker geraten ist, ohne dessen schräg-elektronischer Linie untreu zu werden. Die schönsten Momente sind aber die, in denen durch Klarinette oder Saxofon die Kühle der Synthesizer ein wenig durchbrochen wird.

 

 

 

Zwanie Jonson: We Like It
Hier kommt ein Mann aus der zweiten Reihe, der längst einen Platz in der ersten verdient hat. Als Schlagzeuger war er auf Tour mit Bands wie Magic, Sammy’s Saloon, The Sunsets, Disjam, Die Fantastischen Vier, Veranda Music, Fink, Wolf Maahn, Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen, Pascal Finkenauer, Helen Schneider oder Fettes Brot, bevor der Multiinstrumentalist 2007 mit seinem Debüt „It’s Zwanietime“ anfing, eigene Songs herauszubringen. Zu Recht wird ihm nachgesagt, stets Positives, verpackt in ein Easy-Listening-angehauchtes West-Coast-Lebensgefühl zu transportieren, so auch in diesem, seinem vierten Album. Weich und fließend haben die Tracks einen leicht einlullenden Effekt. Man möchte sich zurücklehnen und ein Bier aufmachen, gleich nachdem der Titeltrack und Opener „We Like It“ die Gute-Laune-Skala Dire Straits-mäßig schunkelnd in den grünen Bereich geschoben hat.

 

Too Slow To Disco: Yacht Soul – The Cover Versions
Eine neue Perle aus dem TSTD-Universum, liebevoll zusammengestellt von Marcus Liesenfeld aka DJ Supermarkt, der wieder einmal tief in die sonnendurchtränkte musikalische Vergangenheit der amerikanischen Westküste greift. 16 Funk-und Soulversionen von Yachtpop-Originalen, die meisten davon Ende der 70er- bis Anfang der 80er-Jahre aufgenommen zum Beispiel von Fleetwood Mac, The Doobie Brothers, Hall & Oates, Steely Dan oder den Wings, und damals eher unter dem Radar geflogen, bekommen hier einen hochverdienten Auftritt im Black-Music-Gewand. Es finden sich Versionen wie Millie Jacksons Gospel-ähnliche Wiedergabe von „This Is It“ von Kenny Loggins/Michael McDonald oder Billy Pauls „Black Power“-beeinflusste Version von Paul McCartney/Wings‘ „Let Em In“ und die seltenes Cover von The Beach Boys‘ „God Only Knows“ von Betty Everett.
Annika Bachem

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