Herr Weil, wir haben zuletzt über dieses mulmige Gefühl gesprochen, das die Smartphones etwas anrichten in unserer Gesellschaft und davon, dass insbesondere junge Menschen betroffen sind. Ich habe die Befürchtung – und inzwischen gibt es dazu valide Untersuchungen –, dass es eine Folge des neuen Medienkonsums ist, dass es in unserer Gesellschaft mehr und mehr empathielos zugeht. Haben Sie einen ähnlichen Eindruck?
Ganz sicher. Ich selbst gehöre nun wahrlich nicht zu den Digital Natives, aber ich verbringe definitiv ebenfalls zu viel Lebenszeit vor irgendwelchen Bildschirmen. Und das hat bestimmt Auswirkungen. Vielleicht nicht mehr so sehr in meiner Generation. Aber bei Kindern und Jugendlichen mehren sich die Hinweise, dass die Folgen in vielerlei Hinsicht problematisch sind. Ich habe eine Studie in Erinnerung, dass männliche Jugendliche sechs bis acht Stunden täglich online unterwegs sind. Wenn wir jetzt noch ein paar Stunden Schlaf dazurechnen, was bleibt dann vom Tag übrig? Gibt es überhaupt noch Zeit, analoge, reale Beziehungen zu pflegen? Ich bin mir sicher, dass mit zu intensivem digitalen Konsum eine gewisse Abstumpfung einhergeht. Und dass damit über kurz oder lang auch ein Stück weit die Empathie auf der Strecke bleibt. Wir können das stellenweise in unserer Gesellschaft bereits sehr deutlich sehen. Leider.
Wie würden Sie persönlich Empathie definieren?
Für mich ist das die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und es ist auch die grundsätzliche Bereitschaft, sich überhaupt für andere zu interessieren. Empathie braucht es nicht nur, wenn etwas ganz Schlimmes passiert. Wir brauchen sie tagtäglich in unserem Alltag. Sie macht uns zu sozialen Wesen.
Für Kant, Nietzsche, Schopenhauer und noch einige mehr war Empathie eine der wichtigsten menschlichen Charaktereigenschaften. Empathie befähigt Menschen zu sozialen Beziehungen, zur Kontaktaufnahme und zur Kooperation. Und sie ist auch Grundlage moralischen Handelns. Ohne Empathie sterben Fairness und Gerechtigkeit, oder?
Ich mag mir eine Gesellschaft ohne Empathie gar nicht vorstellen. So eine Gesellschaft würde sich selbst zerfleischen. Wir können übrigens momentan leider sehen, was passiert, wenn Empathie abhandenkommt. Donald Trump lässt jetzt Washington ‚säubern‘ – so drückt er das aus. Er lässt die Zelte von Obdachlosen beseitigen. Jeder emphatische Mensch stellt sich sofort die Frage, wo diese Leute eigentlich hinsollen. Das tut Donald Trump nicht. Diese Menschen sind ihm vollkommen egal. Ich meine mich zu erinnern, dass es Psychiater gibt, die das Fehlen von Empathie als Krankheit bewerten. Ich denke, da ist etwas dran. Menschen, denen Empathie fehlt, sind nicht in der Lage nachzuvollziehen, was Menschlichkeit eigentlich bedeutet. Dramatisch wird es, wenn so jemand dann amerikanischer Präsident wird.
Wenn Kinder und Jugendliche tagtäglich in den Neuen Medien konsumieren, was beispielsweise im Fernsehen noch immer streng verboten ist, dann wundert es mich nicht, dass eine gewisse Abstumpfung eintritt.
Das ist definitiv eine Gefahr, die wir noch nicht gebannt haben.
Es gibt ja inzwischen zahlreiche Studien, die zeigen, dass Menschen mit zunehmendem Medienkonsum immer weniger sozial interagieren, dass sie sich abschotten, sich mit sich selbst beschäftigen, sich als Einzelkämpfer fühlen. Eine Folge ist Einsamkeit. Eine andere Folge ist der Verlust der Empathiefähigkeit. Soziale Kontakte trainieren ja diese Fähigkeit.
Social Media ist in diesem Sinne eine Mogelpackung. Als ich begonnen habe, mich damit zu beschäftigen, bin ich über den Begriff der Freundschaft gestolpert. Man befreundet sich digital, man nimmt Freundschaftsangebote an. Das fand ich befremdlich, denn was ist das eigentlich für ein Freundschaftsbegriff? Befreundet möchte ich sein, wenn ich ein Gefühl dazu habe, wer und wie der andere für ein Mensch ist, ob es eine gemeinsame Wellenlänge gibt, ob man sich mag. Innerhalb solcher Plattformen ist man sozusagen auf einen reinen Nutzwert reduziert. Freundschaften sind eine Währung. Aber fühlt sich irgendjemand dadurch nun wirklich besser? Steigert eine hohe Zahl digitaler ‚Freunde’ das Selbstwertgefühl? Oder gaukelt man sich nur etwas vor, was man in der Realität vermisst? Ich bin sehr skeptisch. Ich weiß, dass man die Digitalisierung nicht aufhalten kann, aber solche Phänomene machen mich besorgt. Social Media hat das Potenzial, unsere Gesellschaft sehr grundlegend zu verändern und zwar nicht zum Positiven. Und wir stecken schon mittendrin in diesem Prozess. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, in einer Gemeinschaft zu leben. Aber wenn uns wirkliche Begegnungen abhandenkommen, wird das nicht mehr funktionieren.
Finden Sie, dass die Politik das Problem momentan noch unterschätzt.
Ja, leider. Zumal die Entwicklung rasant weitergeht. Und wir wissen nicht, was noch kommt. TikTok war vor wenigen Jahren noch kein Thema und hat innerhalb kürzester Zeit eine unfassbare Bedeutung für das Verhalten von jungen Leuten bekommen. Auf dieser Plattform werden hochproblematische Vorbilder und Schönheitsideale geprägt. Und wir haben darauf gesellschaftlich noch keine Antwort. Sehr akut steht an, dass wir die Themen Erziehung und digitale Bildung besser zusammenbringen müssen. Das gelingt in vielen Familien nicht mehr. Und wir könnten nun lange darüber sprechen, dass das nicht gut ist. Aber die Realität ist, wie sie ist. Und darum muss in dieser Situation der Staat ran. Wir brauchen zum Beispiel kluge Regeln zur Handynutzung in Schulen und eine gute Medienbildung.
Noch einmal zur Empathie. Wir erleben ja unter anderem auch eine zunehmende Verrohung im Umgangston, besonders in den sozialen Medien. Die sogenannten Gutmenschen werden dort beschimpft und lächerlich gemacht. Mir scheint, wir werden gerade mehr und mehr zu einer Ellenbogen-Gesellschaft. Jeder ist sich selbst der Nächste.
„Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“ – von wegen. Eine solche Haltung geht ganz sicher in die falsche Richtung und mündet im Recht des Stärkeren.
Elon Musk hat gesagt: „Die fundamentale Schwäche der westlichen Zivilisation ist die Empathie.“ Damit ist der neue Ton gesetzt. Empathie wird gleichgesetzt mit Schwäche.
Wobei nach allem, was ich über Elon Musk gelesen habe, er selbst Probleme mit der Empathie hat. Es gibt viele Menschen, die an dem sog. Asperger-Syndrom leiden, einer Form von Autismus. Menschen. Sie haben Schwierigkeiten, emotionale Signale wahrzunehmen. Solche Menschen tun mir sehr leid, aber sie dürfen auf gar keinen Fall Macht bekommen, dann wird‘s gemeingefährlich.
Musk sagt, Empathie sei eine Waffe der Mittelmäßigen und Schwachen gegen die Starken, die Exzellenten. Und Peter Thiel denkt in eine ganz ähnliche Richtung. Demokraten sind beide nicht.
Nein, dahinter steht eine Idee von der Bestenauslese, die dann entscheiden soll. Das ist das glatte Gegenteil von Demokratie. Heute muss man vielleicht eher Plutokratie sagen, denn Geld ist in diesem Denken der Maßstab für Erfolg und Stärke. Und wie gefährlich so ein Denken ist, sieht man zum Beispiel am Umgang mit dem Klimawandel. Wenn sich weiter ungehemmter Egoismus durchsetzt, wenn weiter weltweit ohne schlechtes Gewissen Ressourcen verpulvert werden, für den kurzfristigen Wohlstand vergleichsweise weniger Menschen, dann ist das für Trump und Co. eine gute Nachricht, für alle anderen aber eine Katastrophe. Würde es bei jenen Menschen, die in den USA momentan sehr mächtig sind, mehr Empathie geben, wäre die Welt eine andere.
Elon Musk träumt ja sogar öffentlich von einer neue, besseren Zivilisation auf dem Mars.
Mit lauter kleinen Elons, exklusive Empathie. Dann möchte ich bitte auf der Erde bleiben. Aber Spaß beiseite, was wir in den USA sehen, ist wirklich sehr ernst. Dort nehmen wenige, sehr reiche Menschen, großen Einfluss in eine hoch problematische Richtung. Man kann tatsächlich von einer Plutokratie sprechen, die sich zur Autokratie weiterentwickelt. Ich war neulich bei einem Vortrag über die Entwicklung des Rechtsstaats in den USA. Der Referent hat seit zwanzig Jahren immer wieder Aufsätze über das Rechtswesen dort geschrieben. Und er wurde am Ende seines Vortrags gefragt, wie hoch er die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass der amerikanische Rechtsstaat unter den aktuellen Bedingungen Bestand haben wird. Seine Antwort war 20 zu 80. Das ist wirklich erschreckend.
Und man sagt ja, mit zehnjähriger Verzögerung schwappt alles aus den USA zu uns herüber. Müssen wir uns auf diese Entwicklung gefasst machen?
Wenn uns vor zehn Jahren jemand gefragt hätte, ob die AfD irgendwann die zweitstärkste Partei in Deutschland sein könnte, hätten wir beide mit dem Kopf geschüttelt. Darum bin ich mit optimistischen Prognosen inzwischen vorsichtig. Wir müssen das alles ungeheuer ernst nehmen.
