Herr Weil, lassen Sie uns noch einmal über Vertrauen sprechen. Das Vertrauen in Parteien und Institutionen ist momentan so niedrig wie lange nicht. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Es wäre schön, wenn es darauf eine einfache Antwort gäbe. Vertrauen bedeutet für mich die Zuversicht, dass eine Person sich so verhalten wird, wie sie es ankündigt und wie ich es von ihr erwarte. Vertrauen bedeutet auch, dass ich eine Person oder eine Institution verlässlich einschätzen kann. Vertrauen braucht also auf der gegenüberliegenden Seite Glaubwürdigkeit als Grundlage. Nur so kann Vertrauen überhaupt entstehen. Wenn man dann gute Erfahrungen macht, wächst das Vertrauen. Vertrauen ist für die Politik in einer Demokratie ganz zentral. Letztlich ist es wahrscheinlich die wichtigste politische Währung.
Es gibt aber scheinbar jede Menge Politikerinnen und Politiker, die das noch nicht verinnerlicht haben, beziehungsweise lieber irgendwelche populistischen Spielchen spielen.
Ja, viele haben es immer noch nicht begriffen. Das ist eine beunruhigende Feststellung, finde ich.
Vertrauen zu sammeln, das ist eine langfristige Angelegenheit. Vertrauen muss wachsen, das haben Sie gerade gesagt. Aber hat die Politik dazu überhaupt noch eine Chance in diesen Zeiten?
Es ist viel schwieriger geworden und das hat Gründe. Wir haben zuerst diese Unübersichtlichkeit der Verhältnisse. Vieles ist inzwischen wahnsinnig kompliziert. Und vieles geht im Politikbetrieb sehr schnell, oft zu schnell. Politikerinnen und Politiker müssen ein Thema ja zunächst einmal verstehen, um mögliche Schlussfolgerungen ziehen zu können. Ein gewisses Durchdringen ist notwendig, um wirklich bewerten zu können, wie sinnvoll und vertrauenswürdig das ist, was mir als Lösung angeboten wird. Gleichzeitig haben wir eine veränderte Medienlandschaft. Es zählen Klicks, die eher mit schlechten Nachrichten generiert werden. Sich unter solchen Umständen zu orientieren, ist schwer.
Welchen Anteil hatten die sogenannte Flüchtlingskrise und die Pandemie am Vertrauensverlust?
Ich bin mir da gar nicht so sicher. Es wird ja immer so pauschal gesagt, dass das wesentliche Punkte seien, aber stimmt das eigentlich? In der ersten Phase der Pandemie war das Vertrauen in die Politik so hoch wie kaum jemals zuvor. Vertrauen entsteht ja auch durch entschlossenes Handeln. Die Maßnahmen waren drakonisch, aber es gab viele Menschen, die sie als notwendig akzeptiert haben und wenige qualifizierte Einwände. Ein gewisser Vertrauensverlust kam gegen Ende der Pandemie. Und die sogenannte Flüchtlingskrise hat zunächst ebenfalls keinen Vertrauensverlust ausgelöst. Wir hatten eine große Willkommenskultur. Allerdings sind dann einige Fehler gemacht worden. Ich habe immer verstanden, warum Deutschland bereit war, die syrischen Menschen von den Autobahnen in Ungarn zu holen. Das fand ich ausdrücklich richtig. Aber gleichzeitig war sehr schnell klar, dass Deutschland nicht allein in der Lage sein würde, dieses gesamteuropäische Problem zu einem erheblichen Teil allein zu lösen. Es sind sehr viele Menschen in sehr kurzer Zeit zu uns gekommen. Damit haben wir uns Probleme geschaffen, die nicht schnell zu lösen waren und die bis heute nachwirken. Das hat Vertrauen gekostet.
Viele Bürgerinnen und Bürger haben ja das Gefühl, dass die Politik die Probleme nur „verschleppt“. Hat das einen realen Nährboden oder verstehen diese Menschen nicht, wie Politik funktioniert?
Sigmar Gabriel hat mal gesagt, dass man Politikerinnen und Politikern alles zutraut, und dass man ihnen gleichzeitig nichts zutraut. Das bringt es gut auf den Punkt, gerade in so einer verwirrenden und auch teilweise beunruhigenden Phase, wie wir sie derzeit erleben. Es richten sich ganz viele Erwartungen und Hoffnungen auf die Politik. Und umso größer ist dann die Enttäuschung, wenn die Politik nicht liefert. Genau dann wird schnell gesagt, dass die Politik gar nichts kann. Und dieser Eindruck wird von den Populisten noch befeuert. Das ist aber falsch. Die Politik kann eine Menge. Die Probleme, mit denen wir derzeit konfrontiert sind, haben allerdings ein beträchtliches Ausmaß. Wenn Sie die 2010er- und die 2020er-Jahre vergleichen, erkennen Sie sofort riesige Unterschiede. Das wird bei der Bewertung von Politik oft vergessen.
Die aktuelle Regierung bildet nun ständig irgendwelche Kommissionen. Was halten Sie davon?
Wenn du nicht mehr weiterweißt, gründe einen Arbeitskreis – das ist so ein gängiger Spruch. Aber es gibt etliche Beispiele dafür, dass gerade bei kontroversen Themen eine Kommission Vorschläge entwickelt hat, mit denen dann ein gordischer Knoten aufgelöst werden konnte. Denken Sie an das Thema Endlagerung. Ich bin deshalb nicht so skeptisch im Hinblick auf die Arbeit in Kommissionen. Ein solches Vorgehen hat den Vorteil, dass man ein Thema aus der ersten Reihe herausnimmt. Und dass sich dann Leute mit einem Thema befassen, die viel davon verstehen, die vielleicht etwas mehr Distanz zu den Medien haben und sich nicht ununterbrochen erklären und rechtfertigen müssen. Wenn schließlich ein Konsens gelingt, kann das eine enorm befriedende Wirkung haben. So ein Konsens ist dann oft auch akzeptabel für die Politikerinnen und Politiker in der ersten Reihe. Und die Lösungen sind mitunter tragfähiger als ein Kompromiss, der in irgendeiner nächtlichen Koalitionsausschusssitzung zurechtgezimmert wird.
Nachtsitzungen sind nie gut, darüber haben wir auch schon öfter gesprochen.
Nachtsitzungen sind eine Erfindung des Teufels (lacht).
Wir haben mal über die Vorschläge zum Bürokratieabbau gesprochen, die Thomas de Maizière, Peer Steinbrück, Andreas Voßkuhle und Julia Jäkel erarbeitet haben. Das ist alles schon wieder Schnee von gestern, oder?
Nein, das ist falsch. Diese Initiative hatte sogar einen sehr frühen ersten Erfolg: Es ist ein ganzes Ministerium zur Umsetzung errichtet worden, das Ministerium für Digitales und Staatsmodernisierung. Nach der Koalitionsvereinbarung soll dieses Ministerium gewissermaßen das organisierende Zentrum sein. Noch haben wir allerdings nicht viel von diesem Ministerium gehört, und ich würde vermuten, dass der Name des zuständigen Bundesministers nur wenigen einfallen wird. Aber das wird hoffentlich bald anders werden – ich jedenfalls wünsche Karsten Wildberger und seinem Team viel Erfolg!
Bestätigt das nicht das Gefühl vieler Bürgerinnen und Bürger, dass die Politik nicht liefert oder viel zu langsam liefert?
Das wäre zu leicht. Es gibt aus meiner Sicht nicht den einen, revolutionären Schnitt, der die Probleme mit unserer Bürokratie löst. Das ist eher harte Arbeit in den Tiefen von Verwaltung und Gesetzen. Und man muss sich – sonst kann‘s nicht funktionieren – darüber im Klaren sein, dass es ohne einen ausgeprägten politischen Willen an der Spitze und eine entsprechend intensive Unterstützung der politisch Verantwortlichen nicht geht. Das ist jedenfalls eine Erfahrung, die ich sehr oft gemacht habe. Man muss mitunter enorme Beharrungskräfte überwinden. Aber wir haben inzwischen natürlich auch Verwaltungsverfahren und Prozesse, die an Irrsinn grenzen.
In manchen Wäldern werden jetzt die Bänke abgebaut, weil jemandem ein Ast auf den Kopf fallen könnte …
An genau solchen Punkten sind wir eindeutig falsch abgebogen, finde ich. Es kann ja nicht sein, dass wir uns eine Bürokratie aufbauen, die jedes nur erdenkliche Risiko beseitigt. Wir versuchen, unser System zu perfektionieren und übertreiben dabei mitunter hemmungslos. An der Überwindung dieser Denke muss jetzt mit Nachdruck gearbeitet werden. Es braucht aus meiner Sicht auch eine deutliche Veränderung der Fehlerkultur in unserer Verwaltung. Und wir brauchen mehr Mut an der Spitze der Häuser. Leitungspersonen dürfen die eigenen Leute nicht im Regen stehen lassen, wenn mal etwas schiefgeht.
Ich bleibe im Fernsehen hin und wieder bei der „tageschau vor 20 Jahren“ hängen. Und sehe, dass die Themen erschreckend ähnlich sind. Rente, Umwelt, Energie, Zuwanderung und der Streit um die Vermögenssteuer tobt ebenfalls schon seit Jahrzehnten. Ich kann den Eindruck sehr gut nachvollziehen, dass wir seit vielen Jahren irgendwie auf der Stelle treten.
Ich könnte Ihnen jetzt natürlich einige Themen aufzählen, bei denen wir durchaus Fortschritte gemacht haben. Aber es gibt auch Bereiche, da haben wir uns lange selbst im Wege gestanden. Nehmen Sie die Energiepolitik. Da gab es vor 25 Jahren mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz einen richtig guten Einstieg in einen langsam, aber kontinuierlichen Wandel hin zu immer mehr Erneuerbaren. Das ist aber ein paar Jahre später gestoppt worden und dann folgte ein wildes Hin und Her. Geblieben ist nach all dem leider eine spürbare Unsicherheit, wie es jetzt weitergehen soll. Gerade bei solchen Themen braucht man einfach einen langen Atem und ein dickes Fell.

