Der Freundeskreis im Gespräch mit Nina Weger und Dirk von der Osten

Für diese Ausgabe haben wir uns mit der Kinderbuchautorin und Zirkusleiterin Nina Weger und mit Dirk von der Osten, dem Vorstandsvorsitzenden der AWO Region Hannover, getroffen. Im gemeinsamen Gespräch geben sie Einblicke in ihre Arbeit mit Kindern und Familien, sprechen über gesellschaftliches Engagement, Chancengleichheit und die Bedeutung von Bildung. Beide eint die Überzeugung, dass eine starke, solidarische Stadtgesellschaft bei den Jüngsten beginnt – und dass es Mut, klare Haltung und verlässliche Strukturen braucht, um ihnen gute Zukunftschancen zu ermöglichen.

Wir starten immer mit einer kleinen Vorstellungsrunde.

Nina Weger (NW): Ich schreibe Kinderbücher und leite seit über 20 Jahren den Kinderzirkus Giovanni, der dieses Jahr sein 41. Jubiläum hat. Außerdem habe ich 2018 das Kinderliteraturfestival Salto Wortale gemeinsam mit Julia Kronberg ins Leben gerufen, wo wir uns für die Leseförderung in Hannover stark machen.

Dirk von der Osten (DO): Seit 2022 bin ich Vorstandsvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Region Hannover. Wir haben die unterschiedlichsten Dienstleistungen aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich in der gesamten Region, aber mit deutlichem Schwerpunkt in der Landeshauptstadt Hannover.

Was hat Sie zum Freundeskreis gebracht?

NW: Die Mitgliedschaft habe ich sozusagen geerbt, da der Kinderzirkus schon vorher im Freundeskreis war. Ich bin überzeugte Hannoveranerin und lebe gerne hier. Ich finde, die Stadt ist sehr lebenswert, weil sie eine gut überschaubare Größe mit durchaus noch dörflichen Strukturen, aber zugleich allem, was eine Großstadt braucht, bietet. Vernetzung, zum Beispiel durch den Freundeskreis, funktioniert hier unkompliziert und schnell, was ich sehr schätze, wenn man Projekte ins Leben rufen möchte.

DO: Die AWO Hannover ist relativ neu im Freundeskreis, erst seit diesem Sommer. Als einer der größten Wohlfahrtsverbände, der für soziale Einrichtungen in der Stadtgesellschaft steht, passt er gut in die Förderung kultureller, sozialer und gesellschaftlicher Projekte, die der Freundeskreis unterstützt. Ich bin hier geboren und setze mich als ebenfalls überzeugter Hannoveraner gerne für die Entwicklung der Stadt ein.

NW: Wir haben übrigens noch eine Verbindung. ich habe im Kontext der Leseförderung in einigen Kindertagesstätten der AWO gelesen.

Frau Weger, was treibt Sie an, sich für Kinder stark zu machen?

NW: Kinder sind die Gestalter von morgen. Ich glaube, da kann man noch viele Weichen stellen. Es ist mir wichtig, dass sich Menschen aus ihrer Bubble heraus bewegen, denn nur durch eine wirkliche gute Mischung sind wir dazu in der Lage, über den Tellerrand hinausgucken und ein lebenswertes Miteinander zu gestalten. Im Kinderzirkus lautet die Idee: Jeder kann mitmachen, man muss nichts bezahlen, sondern sich mit seinem Engagement einbringen. Das schafft gerechte Startbedingungen für alle Kinder, was wir in unserer Gesellschaft nicht genügend haben. Auch beim Literaturfestival treibt mich die Sorge an: wir können beobachten, dass die Lesefähigkeit zurückgeht. Und ich glaube, Lesen ist die Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe und somit auch zum Erhalt der Demokratie.

Herr von der Osten, Was bedeutet für Sie gesellschaftliches Engagement?

DO: Wir sind als einer der größten KiTa-Träger in der Stadt und mit über vierzig, in der Region vierundfünfzig Einrichtungen mittlerweile sehr schwer engagiert. Diese Themen – Sprache, Sprachentwicklung, Sprachfähigkeit – sind von zentraler Bedeutung. Deswegen freut es mich zu hören, dass Frau Weger bei uns schon vorgelesen hat. Die AWO ist über 100 Jahre alt und aus der Arbeiterbewegung heraus entstanden. Es geht uns immer noch um die Frage, wo Umverteilungsdebatten entstehen – sei es Geld, aber auch Wissen und Möglichkeit zur Partizipation. Zu schauen, wie wir intern die gleichen Chancen hinbekommen und Ressourcen, Wissen und Möglichkeiten fair verteilt werden können. Dieses Verständnis von Solidarität treibt mich sowohl beruflich als auch privat an.

Frau Weger, Sie sagen, der Grund, warum Menschen ihren Platz nicht finden oder verzweifelt sind, liegt häufig an dem „Drumherum“. Was meinen Sie konkret?

NW: Das ist ein grundsätzliches gesellschaftliches Problem, das wir haben. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Von Chancengleichheit haben wir uns immer weiter entfernt. Wir müssten gigantisch viel Geld in Kindergärten und Schulen pumpen, denn wir sind ein rohstoffarmes Land. Unser Rohstoff sind die Menschen. Dass viel Geld da ist, sehen wir dadurch, wie viel für Rüstung freigemacht werden kann. Das erschüttert mich. Wir müssten uns weniger mit Analysen, mehr mit Lösungen beschäftigen und lauter werden – da ist wahnsinnig viel zu tun.

DO: Ich betrachte Kindertagesstätten als Bildungs-, nicht nur Betreuungseinrichtungen. Aktuell sind die Räumlichkeiten oft noch so, wie vor 70 Jahren, ohne Rückzugs- oder Ruheräume. So wie alte Schulen konstruiert sind, wird heutzutage nicht mehr Pädagogik betrieben. Auch was das Thema Nachhaltigkeit angeht: die Klimaneutralität werden wir nicht erreichen, wenn kein Geld da ist, um zum Beispiel die Kindertagesstätten klimafreundlich auszustatten.

Was ist in Zeiten, in denen die Gesellschaft droht, auseinanderzudriften, der Kitt, der uns zusammenhält? Wo bröckelt es?

DO: Das Bröckeln ist der Versuch unterschiedlicher Interessen eine Spaltung oder eine Zuspitzung in der Gesellschaft zu schaffen. Ich hatte vorhin mal diese Umverteilungsdebatte kurz angesprochen. Ich frage mich, wo Prioritäten bei Investitionen gesetzt werden. Die skandinavischen Länder haben begriffen, dass ihr Rohstoff das Wissen, die Kinder und Jugendlichen sind. Der Kitt sind unseren sozialen Systeme, allerdings macht es der Fachkräftemangel unheimlich schwer, diese nachhaltig zu stärken.

NW: Die Wissenschaft zeigt, dass sich der Vokabelumfang, den man im ersten Lebensjahr erreicht hat, dann nur noch potenzieren kann. Wenn da nichts ist, kann sich nichts potenzieren. Es ist völlig absurd, in achten und neunten Klassen irgendwelche Projekte aufzuziehen, denn an diesem Punkt ist der Drops gelutscht. Wir müssen gut ausgebildete und qualifizierte Leute haben, die sich um die Kinder kümmern. Dann beobachte ich da noch eine Veränderung innerhalb der Gesellschaft hin zu mehr Ichzentrierung. Das merke ich zum Beispiel im Kinderzirkus: viele Eltern melden sich und wollen mitmachen, aber wenn es darum geht, sich verbindlich einzubringen, reduziert sich das Engagement drastisch.

DO: Die wollen nur die Kinder abgeben (lacht).

NW: Das fängt ja schon bei der bedürfnisorientierten Erziehung an. Unser Kitt ist die Gesellschaft, die nicht funktioniert, wenn jeder nur nach seinen eignen Bedürfnissen handelt. Die Kinder müssen doch auch lernen, mit Niederlagen und Dingen umzugehen, die ihnen vielleicht nicht gefallen. Wie sollen sie resilient werden, wenn wir sie das nicht im Kleinen üben lassen? Ich glaube, das alles hat mit der grundsätzlichen Erwartungshaltung an das Leben zu tun, einem Anspruch auf Glück – möglichst sofort.

Spielen die sozialen Medien hier eine Rolle?

NW: Wir sehen Influencer und KI-Models, die immer super aussehen. Diese Filter und der pure Perfektionismus gaukeln den Kindern etwas vor, dem kein normaler Mensch standhalten kann. Das führt zu Frustration. Es geht darum, unseren Kindern ein Verständnis dafür zu vermitteln, wie sie echte von künstlich erzeugten Inhalten unterscheiden können.

Paul, eine Figur in Ihren Büchern, erklärt die lange Existenz der Krokodile durch ihre Fähigkeit, mit Veränderungen umzugehen. Wie kann man die Resilienz von Kindern stärken?

DO: Wir haben vor fünfzehn Jahren mit dem Institut für Sozialwirtschaft und Sozialpädagogik eine Studie in Kindertagesstätten gemacht. Dabei kam heraus, dass die Kinder, die in der frühen Kindheit eine starke Bindung zu einer oder mehreren verlässlichen Personen hatten, später besser mit Krisen umgehen konnten. In unseren Einrichtungen versuchen wir Beziehung herzustellen und die Eltern zu empowern, beispielsweise in Fragen der Medienkompetenz. Kleinkinder merken, wenn wir mit unserer Aufmerksamkeit bei unseren Handys und nicht bei ihnen sind. In der Folge verlieren sie das Vertrauen in uns. Und das begleitet die Heranwachsenden auch später im Leben noch.

NW: Wenn ich an Schulen lese, erlebe ich es oft, dass die Lehrer hinten an ihrem Handy sitzen. Das Entscheidende, was Kinder brauchen, um sie stark zu machen, sind Klarheit und Verlässlichkeit. Meine Erfahrung zeigt mir, dass Kinder mit klaren Regeln super umgehen können. Ein großes Missverständnis ist häufig, dass alles Spaß machen muss und Erziehung Entertainment sein soll. Lesen lernen ist mühselig und hat was mit Üben und Anstrengung zu tun. Was ist also die Lösung? Geld in die Bildung aber auch in die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern, von Lehrerinnen und Lehrern.

Was sind Momente in Ihrem Alltag, die Ihnen Hoffnung geben?

NW: Von den gibt es natürlich auch viele, zum Beispiel wenn ich lese und ein Kind danach sagt „Mir hat noch nie jemand vorgelesen. Aber jetzt lese ich gerne.“ Oder als es ein kleiner Junge, den mir die Lehrer der Oberschule als Analphabeten vorstellten, schaffte, in einer Woche eine 3/4 Seite zu lesen. Das war wirklich harte Arbeit. In der anschließenden Feedbackrunde sagt dieser kleine Junge: „Ich weiß jetzt, warum ich lesen und schreiben lernen muss.“ Ich finde, es gibt ganz viele hoffnungsvolle Momente, in denen Menschen Engagement zeigen, wo wir wahnsinnig viel erreichen können, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Wenn ich nicht daran glauben würde, dass wir etwas ändern können, würde ich nicht seit zwanzig Jahren den Kinderzirkus oder das Literaturfest machen.

DO: Eigentlich bin ich ein optimistischer Mensch. Auf kommunaler Ebene bekommt man immer mal wieder ein schönes Projekt durch und das gibt mir Hoffnung. Pessimistisch bin ich auf Bundesebene, weil dort keine Schwerpunksetzung auf die Themen Kinder, Jugendliche und Bildung erkennbar ist. Man sollte nicht zuerst denken, wir müssen die Pflege einkürzen oder das Bürgergeld abschaffen.

NW: Ich könnte gar nicht in einer Institution arbeiten, ich würde verrückt werden. Dass ich für mich bin und meine Projekte mache, ist ein großer Luxus. Das heißt aber auch, dass sich der Kinderzirkus mit den Eintrittsgeldern selbst trägt. Dadurch haben wir natürlich enorme Freiheiten, schnell zu reagieren und Neues auszuprobieren. Es wäre schön, Möglichkeiten dieser Freiheit auch auf institutioneller Ebene zu haben, um mehr Mut gegenüber Neuem zu generieren.

DO: Und dazu gehört auch, dass man den Institutionen ein Vertrauen gibt. Wir sind in einer Misstrauensgesellschaft angekommen. Von Jahr zu Jahr werden die Anforderungen an Verwendungsnachweise aufwendiger und mühseliger.

NW: Das kann ich bestätigen. Salto Wortale wird mit Fördergeldern finanziert, die wir uns mühselig zusammensuchen müssen. Die Geldbeschaffung, die Anträge und die Abrechnung sind ein solcher Aufwand, der mehr Zeit in Anspruch nimmt als der kreative Moment, sodass das Festival nur noch alle zwei Jahre stattfindet. Schwund und Betrug wird es immer geben. Ich glaube, auch hier fokussieren wir uns zu sehr auf das Negative als auf das Positive und das, was wir verbessern können.

Was wünscht ihr euch für den Freundeskreis und Hannover?

DO: Ich wünsche mir, dass der kulturelle, soziale und gesellschaftliche Bereich deutlich nach vorne kommt und positive Beispiel in die Öffentlichkeit lanciert. Das wäre eine Aufgabe für den Freundeskreis, da wir in unserer Stadtgesellschaft gute Beispiele in all diesen Bereichen haben.

NW: Wir können auf die guten Beispiele stolz sein. Denn am Ende lebt unsere Gesellschaft von jedem und jeder Einzelnen. Und wenn alle irgendwas tun würden, dann wären wir schon ganz weit vorne.


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