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Literarisches: Lebendig – durch alle Verbote hindurch: Kurdische Literatur heute


In diesem Monat widmen wir uns dem kurdischen Leben, genauer gesagt, dem vielfach vergessenen und verdrängten kurdischen Leben. Denn trotz jahrzehntelanger Unterdrückung gibt es kurdische Stimmen, die überlebt haben. „Lebendig – durch alle Verbote hindurch: Kurdische Literatur heute“ ist ein Werk, das dieser Literatur und Kultur gewidmet ist; es verleiht den Stimmen Ausdruck, die trotz allem nicht zum Schweigen gebracht werden konnten. Neben dem in Hannover lebenden Dichter, Übersetzer und Literaturkritiker Tengezar Marînî (Pseudonym) ist Hannovers ehemaliger Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg Mitherausgeber des im Wallstein Verlag in der renommierten Reihe „die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik“ veröffentlichten Sammelbandes. Es ist ein atemberaubender Beitrag von und über systematisch unterdrückte Autor*innen.

Die Aufteilung Kurdistans durch die Westmächte im Jahr 1920 markierte den Beginn einer jahrzehntelangen Repression, die die Freiheit des kurdischen Volkes auf grausame Weise einschränkte. Die kurdische Sprache, Traditionen und Kultur werden seitdem zum Großteil gewaltsam eingeschränkt, verboten sowie strengstens verfolgt. Kurdische Menschen sind ein eigenständiges Volk ohne Staat als Schutz, das bis heute für seine Anerkennung und den Schutz seiner Identität kämpft. „Kurden leben heute im Iran, Irak, Syrien, in der Türkei und in Armenien. Millionen leben überall auf der Welt im Exil, 1,5 Millionen allein in Deutschland. Kurdinnen und Kurden werden in ihren Heimatregionen verfolgt, verhaftet und sind schutzlos“, schildert Schmalstieg. Er fährt fort: „Ihre Sprache wurde verboten, aber durch die Literatur in der eigenen Sprache oder in anderen Sprachen waren die Literaten frei in ihren Gedanken. In Gedichten und Erzählungen spürt man das.“

Im Vorwort betont Schmalstieg die Kraft der Literatur: „Literatur vermag vielleicht nicht viel. Aber sie ist frei wie die Gedanken. Sie kommt nicht an gegen Bomben (…). Aber vielleicht bewirkt sie bei denen, die sie lesen, ein Innehalten, ein Zögern, ein Staunen.“ Der Band „Lebendig – durch alle Verbote hindurch: Kurdische Literatur heute“ nimmt sich diesen unterdrückten Stimmen an und schafft einen Raum für die Repräsentation des herabgewürdigten kurdischen Schaffens. Insgesamt 55 Autor*innen, darunter die beiden Herausgeber, widmen sich in diesem Band der oft zu Unrecht vergessenen kurdischen Literatur. Tengezar Marînî erzählt: „Viele kurdische Autoren nutzen ihre Werke, um die Unterdrückung, Diskriminierung und dass Leiden ihrer Gemeinschaft zu thematisieren. Sie erzählen von den historischen Kämpfen um Autonomie und Anerkennung, von Vertreibung und Exil, von Identitätskonflikten und dem Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit. Die Literatur dient als Sprachrohr für die Stimmen der Unterdrückten und Verfolgten, als Mittel zur Aufklärung und Sensibilisierung (…). Die kurdische Literatur ist somit nicht nur eine künstlerische Ausdrucksform, sondern auch ein wichtiges Instrument des Widerstands und der politischen Mobilisierung.“ Es ist ein Werk voller Besonderheiten, das sich gegen ein menschenrechtsverletzendes Regime richtet. „In vielen Texten kommt die politische und soziale Situation deutlich zum Ausdruck: der Drang nach Freiheit, der Kampf gegen Unterdrückung, aber auch das Leben in den Dörfern, der Zusammenhalt der Familien und das sich ‚Nicht-Unterkriegen-Lassen‘“, erläutert Schmalstieg.

Herbert Schmalstieg, langjähriger Abonnent der deutschen Literaturzeitschrift „die horen“ – gegründet vom in Hannover geborenen Kurt Morawitz – engagiert sich mit großem Einsatz für die finanzielle Unterstützung dieser Zeitschrift. Mittlerweile hat die Landeshauptstadt Hannover die Mittel für das kommende Jahr jedoch gestrichen. „Für mich, als jemanden, der sich zusammen mit meiner Frau Heidi Merk, Landesministerin a. D., seit mehr als 30 Jahren für Kurdinnen und Kurden und Kurdistan engagiert, war es ein besonderes Anliegen, den Wallstein Verlag zu überzeugen, eine Ausgabe zur kurdischen Literatur herauszugeben. Das gelang, wurde aber mit der Frage verbunden, mich an der Herausgabe zu beteiligen. Das habe ich voller Überzeugung getan, zusammen mit Tengezar Marînî, der in Hannover lebt und ein großartiger Schriftsteller und Übersetzer ist. Ohne Tengezar Marînî hätte es dieses Buch nicht gegeben“, erklärt Schmalstieg. Marînî selbst erzählt: „Die kurdische Kultur und Literatur haben eine immense Bedeutung für mich. Sie sind Ausdruck meiner Identität, Quelle der Inspiration und des Stolzes.“

Mit Beiträgen von Zaradachet Hajo, Jan Dost, Helîm Yûsiv, Ilhan Çomak, Bahram Hajou, Suzan Samancı und vielen weiteren außergewöhnlichen Stimmen ist dieser Band ein eindrucksvolles Zeugnis kurdischer Literatur und ein kraftvoller Akt des Widerstands gegen die jahrzehntelange Unterdrückung.

Wallstein Verlag

192 Seiten

14 Euro

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Literarisches: Sibylle Narberhaus


Sylt ist für mich im Laufe der Jahre zu einem Herzensort geworden“, erzählt Sibylle Narberhaus. Und genau das merkt man den Romanen der Krimiautorin auch an. Im Juni dieses Jahres erschien der achte Teil der Anna-Bergmann-Reihe. „Syltgold“ ist spannungsvoll und mitreißend – nicht nur für echte Syltfans. Ein neuer fesselnder Fall für die Sylter Polizei und natürlich auch für Anna.

Auf Sylt werden die letzten Vorbereitungen für das legendäre Motorradtreffen, die Harley-Days, getroffen, als Anna Zeugin eines tödlichen Verkehrsunfalls wird. Im Gegensatz zu der Landschaftsarchitektin geht die Polizei von einem tragischen Unglück aus. Erst als ein weiterer Todesfall zu beklagen ist, nimmt die Polizei die Ermittlungen auf. Besteht zwischen den Todesfällen ein Zusammenhang? Und was führt Frank Gustafsons alten Studienkollegen Jörg Neritz wirklich nach Sylt? Zwischen Immobilienhaien, verirrten Insekten und dubiosen Pflegediensten rätseln die Sylter Polizei und Anna über ihre brisanten Entdeckungen und haben schlussendlich einen furchtbaren Verdacht.

Im Jahr 2017 mit dem ersten Teil „Syltleuchten“ gestartet, wurde aus einem einzigen Kriminalroman schnell ein Reihe. Zwischen dubiosen Einbruchserien, Raubüberfällen oder auch Frauenmördern erschafft Narberhaus authentische Charaktere, bei denen man immer das Gefühl bekommt, gemeinsam auf der Insel zu sein. Damit changiert sie gekonnt zwischen Krimi und Roman. Inspiriert wurde die Autorin für den neuen Fall durch das Harley-Treffen, das alljährlich auf Sylt stattfindet. Sibylle Narberhaus erklärt: „Da ich immer ein für Sylt typisches Thema in meinen Romanen verwende, wollte ich es dieses Mal einbauen. Im vergangenen Jahr war ich gerade auf der Insel, als das Event stattfand. Somit ergab sich die Gelegenheit, ausgiebig zu recherchieren.“ Narberhaus verknüpft verschiedene Handlungsfäden und erschafft damit unerwartete Wendungen und einen mitreißenden Spannungsbogen – eine Gemeinsamkeit der acht Romane der Anna-Bergmann-Reihe. „Ich versuche möglichst authentisch zu schreiben, um den Leserinnen und Lesern den Eindruck zu vermitteln, als wären sie selbst auf der Insel. Gern verwende ich ortsübliche Ereignisse und Traditionen, wie beispielsweise das Ringreiten, den Kitesurf-Cup oder – wie im aktuellen Fall – die Harley-Days,“ berichtet die Autorin.

Narberhaus erzählt gerne über ihren persönlichen Herzensort, den sie, so oft es die Zeit zulässt, besucht. „Die Insel strahlt eine unglaubliche Faszination aus. Als Kind war ich das erste Mal dort und wurde sofort vom ‚Sylt-Virus‘ befallen. Die Dünen, die langen Strände, das Meer – das alles erdet ungemein. Die Insel hat viel mehr zu bieten als Partys und Schickimicki. Ich spreche gern mit Menschen, die dort leben. Sie haben viel Interessantes zu erzählen, was ich teilweise in meine Bücher aufnehmen kann,“ beschreibt die Autorin und ergänzt: „Trotzdem muss man nicht zwingend ein Syltfan sein, um das Buch zu lesen. Ich kenne viele Leute, die noch nie auf Sylt waren und die Reihe mit Begeisterung lesen. Eigentlich kann die Bücher jeder lesen, der es nicht zu blutrünstig mag und spannend unterhalten werden möchte.“

Sibylle Narberhaus, 1968 geboren in Frankfurt am Main, arbeitet bei einem internationalen Versicherungskonzern und seit 2017 auch als Schriftstellerin. Zur Schule gegangen an der IGS Garbsen, absolvierte sie eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin, zur Versicherungskauffrau sowie zur Versicherungsfachwirtin und lebt heute in Hannover. „Ich bin schon als Kind mit Büchern in Berührung gekommen, da in unserer Familie sehr viel gelesen wurde und auch noch wird. In der Schule war Deutsch mein Lieblingsfach, Aufsätze schreiben, Geschichten erfinden mochte ich am liebsten. Mittlerweile blicke ich mit viel Dankbarkeit und auch ein bisschen mit Stolz auf die Reihe Bücher zurück, die mittlerweile im Regal stehen.“ Derzeit arbeitet Narberhaus an dem neunten Fall der Krimi-Reihe, der voraussichtlich 2025 erscheinen wird. „Ich hoffe einfach, dass ich noch viele Bücher schreiben kann. An Ideen mangelt es nicht, lediglich an Zeit. Insgesamt kann ich für mich sagen, dass das Schreiben eine unglaubliche Bereicherung für mein Leben ist und ich sehr dankbar dafür bin,“ erzählt Sibylle Narberhaus.

320 Seiten

14 Euro

Gmeiner Verlag

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Literarisches: Irmin Burdekat


Wie sieht ein Leben aus? Woher stammt es und welche Wege führen nach Rom – oder besser gesagt, nach Hollywood? Irmin Burdekat erzählt in „Jukelnack“ die Geschichte von Karl-Friedrich Jukelnack, Else Bödicker und ihrem Sohn Adam Jukelnack. Ein Zwei-Generationen-Roman, der auf besondere Art eine Familie zeigt, „etwas Zeitgeschichte ohne Geschichtslehrer-Allüren und eine volle Ladung menschliche Eigenarten“, so Burdekat.

„Jukelnack“ ist in zwei Teile gegliedert und erzählt die Geschichte von drei Menschen:Karl-Friedrich Jukelnack, Else Bödicker und Adam Jukelnack. Die Erzählung beginnt mit der Geschichte des emotionslosen und bindungsunfähigen Karl-Friedrich Jukelnack, der 1902 geboren wird und sein Leben mit einer „bloß nicht zu viel Mühe geben“-Mentalität verbringt. Im Wechsel wird auch die Geschichte der unbedarften Außenseiterin Else Bödicker erzählt. Beide wachsen in Deutschland auf und erleben den Zweiten Weltkrieg. Mit 52 Jahren lernt Karl-Friedrich schließlich Else kennen. Sie verloben sich und bekommen ein Kind: Adam Jukelnack. Hier endet der erste Teil des Buches – und auch die vorherige Erzählmelodie. Adam ist nicht nur erwachsen geworden, sondern einer der größten Rockstars des Universums. Der kettenrauchende Macho Adam Jukelnack wird von der gnadenlos bohrenden Journalistin Susanne Schlafholz gezwungen, Einblicke in seine Kindheit und Jugend zu gewähren. Es soll eine Biografie mit Fokus auf den deutschen Wurzeln des Superstars werden. Doch das gestaltet sich als komplizierter als erwartet.

„Jukelnack“ ist ein Zwei-Generationen-Roman, der auf besondere Weise die deutsche Geschichte beschreibt und gleichzeitig die spezifischen Rockstar-Allüren aufzeigt. Irmin Burdekat erklärt: „Der Spruch ‚Von sowas kommt sowas‘ zieht sich durch mein Leben. Ich bin gerne den Zusammenhängen von Reiz und Reaktion – besonders im menschlichen Miteinander – nachgegangen. Jukelnack – Vater und Sohn – zu zeichnen, und dabei Erklärungen zu konstruieren, warum der Sohn bei dem Vater so wird, wie er zu sein scheint, war eine Freude. Und der Sohn ist nunmal Rockstar.“ Adam Jukelnack ist ein Weltstar, der größtenteils ohne Fürsorge aufwächst und dieses Gefühl sein Leben lang mit sich trägt. Es ist eine Geschichte, die verdeutlicht, was uns alle beeinflusst, wie sehr die Erziehung der Eltern die eigenen Kinder prägen können und wie schwierig es ist, dieser Schleife zu entfliehen. Adam geht schnell seinen eigenen Weg hin zum Weltruhm. Es ist eine kleine Zeitreise in das Leben einer Familie, die zeigt, wie viele verschiedene Wege dort irgendwo lauern. „Jukelnack“ ist „für alle, die auch Lesen lernen mussten und nun einen Roman brauchen, der sie unterhält, ab und zu etwas Kichern lässt, und mit Figuren vertraut macht, die man liebt oder hasst. Im Vorbei-Lesen erleben die Lesenden dann noch etwas Zeitgeschichte ohne Geschichtslehrer-Allüren und eine volle Ladung menschliche Eigenarten, mit denen man nur lesend etwas zu tun haben will“, so der Autor.

Nach dem Abitur verschlug es Irmin Burdekat in die Gastronomie. Zum Glück für viele, denn er ist ein tiefsinniger, humorvoller und engagierter Gastgeber – und Geschichtenerzähler. „In der ersten Klasse wollte die Lehrerin, dass ich aus Buchstaben Wörter zusammenfügen sollte. So begann ich gezwungenermaßen zu schreiben und die im Kopf herum kreisenden Ideen mit Hilfe von Buchstaben zu Worten, Sätzen und dann zu Geschichten zusammen zu kleben, sodass Spannung entsteht“, erklärt Burdekat. 2006 wurden dann erstmalig aus den erzählten Geschichten richtige Bücher. Bücher mit rasanter Sprache sowie einem Mix aus Humor und Spannung. Mittlerweile lebt Irmin Burdekat mit seiner kanadischen Frau in Norddeutschland, schreibt aber ausschließlich in einer Blockhütte am Georgian Bay, Ontario. Auch „Jukelnack“ entstand dort. Burdekat beschreibt: „Keine anderen Menschen um mich herum, keine Medien, keine Gastronomie in Reichweite, kein Kuchen, leider, volles Eintauchen in die Produktion von Wörtern aus den Buchstaben der Tastatur.“ Bekannt ist er unter anderem als Gründer der Kneipenkette Alex und Cafe&Bar Celona und für sein Buch „Tisch 17 is‘n Arsch! – Geständnisse eines Gastwirts“.

276 Seiten
tpk-Verlag 2023
20 Euro

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Literarisches: Annette Hagemann


Annette Hagemanns Schreiben gerät ins Fließen. Wörter tropfen, Silben wachsen, Buchstabengefüge blühen hinein in das eigene Denken und durchbrechen menschengemachte Binaritäten. Der im Januar 2024 erschienene „Katalog der Kiefermäuler. Notate und Gedichte“ ist eine Jonglage über wuchernde Fragen des Alltäglichen, die doch so nie gestellt werden. Hagemann vereint träumerische Lyrik und prosaische Gedichte naturnah und weltergreifend.

„Ich habe einmal in den Herrenhäuser Gärten Gärten Messiaens ,Catalogue d’oiseaux‘ (‚Katalog derVögel‘) gehört. Und dann bin ich auf den biologischen Begriff der Kiefermäuler gestoßen“, erzählt Annette Hagemann. Im Erdaltertum entwickelt, gehören Kiefermäuler zu den Wirbeltieren, die sich durch einen besonders bezahnten Kiefer auszeichnen, was wiederum eine besondere Art der Nahrungsaufnahme ermöglicht: Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel, Säugetiere – und auch der Mensch reiht sich hier ein. „Katalog der Kiefermäuler“ ist ein Tanz um und durch das Wesen der eigenen Zeit sowie das eigene Sterbenmüssen. Die Lyrikerin erklärt: „Im Buch widmet sich ein Kapitel den Vögeln, eines den Wasserwesen – und überall spielen Menschen eine Rolle: wie sie sich gegenüber den Tieren und Pflanzen und auch untereinander verhalten. Ich finde es einigermaßen absurd, dass wir Menschen uns als etwas von der ‚anderen Natur‘ Separates verstehen, und ich glaube, dass von dieser Abspaltung und von all diesen binären Kategorien viele unserer heutigen Probleme herrühren. Last but not least sind wir aber doch einfach nur Kiefermäuler, die sich diesen Planeten teilen.”

Der „Katalog der Kiefermäuler“ beginnt in der italienischen Lagunenstadt im Jahr 2022. Wir hören und sehen raubende Möwen in der Mittagshitze, sirrende Mücken und Nachbar*innen, vorbeiwandernden Wolken sowie unser eigenes Treiben. „Viele meiner Gedichte entstehen unterwegs, auf Reisen“, erzählt Annette Hagemann und fährt fort „das Unterwegssein öffnet massiv die Poren: Allein der Ortswechsel, das Sich-nicht-Auskennen bringt ja schon die Sinne und die Wahrnehmung auf Trab. Zwei der fünf Kapitel der ‚Kiefermäuler‘ sind daher auch in Venedig und auf der dortigen Biennale entstanden.“ Magisch real lyrikt Hagemann über die Natur und den Menschen: „Und löchrig wie ein Einkaufsnetz ist nachts mein Schlaf, durch den die Hitze dreißig Grad heiß und auch die Mücken und die Geräusche des fensterklappernden Hinterhofs mit Leichtigkeit zu mir hereindringen. Doch manches Mal bleiben auch von innen ein paar Fische aus meinen Träumen darin hängen, ein zappelndes Schillern, das mir guttut, mich erhebt wie eine Welle aus selbstgesponnenem Regen.“ Hagemann berichtet: „Ein Motiv, das mich sehr – und schon länger und auch weiterhin – beschäftigt, ist Natur und das Verhältnis der Menschen zu ihr. Also auch das Verhältnis der Menschen zueinander. Und dann taucht – wie im Kapitel zur Biennale – auch immer wieder die Kunst als Motiv und Motivgeber auf. Kunst regt einfach zu einem unkonventionellen Blick an und bringt damit neue Kunst in Gang.“

Annette Hagemanns neuer Gedichtband ist prosaische Lyrik über Kiefermäuler, ihr Zusammenleben und ihre Herausforderungen als Individuen und miteinander. Ihre mäandernden Texte erzählen von nie Geborenem, Unsichtbarkeiten und der fließenden Gegenwart. Anders als in früheren Bänden von Hagemann sind die „Kiefermäuler“-Gedichte jedoch weniger verdichtet, so die Autorin selbst: „Ich glaube, sie sind etwas prosaischer, erzählerischer geworden, etwas leichter zu verstehen, wobei man bei Lyrik auch nicht jeden Satz verstehen muss – es wäre gut zu versuchen, ein Gedicht einfach wie Musik zu genießen.”

Annette Hagemann, geboren 1967 in Münster, lebt seit 1997 in Hannover und arbeitet für das Kulturbüro Hannover. Seit 2003 veröffentlicht sie Gedichte in Lyrikzeitschriften, Anthologien, im Hörfunk und im Internet. Im September erscheint zudem ein weiterer Gedichtband von Annette Hagemann mit dem Titel „Die fünfte Jahreszeit“ in der Lyrikedition Hannover (Wehrhahn Verlag) – zu erleben am 27. September im Literaturhaus Hannover.

108 Seiten

19,80 Euro

Band 101 der edition offenes feld

Herausgegeben von Jürgen Brôcan

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Literarisches: Heiner Gudehus


Einer für den zweiten Blick“ – so sieht sich der ehemalige Versicherungsvorstand und Autor Heiner Gudehus selbst, der sein literarisches Hobby in Pandemiezeiten zum Beruf gemacht hat. Doch was steckt hinter der Aussage? Eine literarische Analyse…

Sein Genre reicht von seriöser Fachliteratur, fiktiven Geschichten bis hin zu humorvollen Gedichten: „Ich arbeite immer an unterschiedlichen Sachen gleichzeitig.“ Aber wie kommt man als Versicherungsvorstand auf Gedichte? Tatsächlich spielten Bücher schon früh eine Rolle in Heiner Gudehus‘ Leben. Angefangen mit Micky Maus Heften, die Tante Erna regelmäßig mitgebracht hat, wandte sich der Geschmack in Richtung klassische Belletristik: Karl Mays „Winnetou“, Dostojewskis „Schuld und Sühne“ oder Arthur Conan Doyles „Sherlock Holmes“. Auch der Weg nach dem Abitur führte Heiner Gudehus in die Welt der Bücher. Vor seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften machte der gebürtige Mellendorfer eine Ausbildung zum Verlagsbuchhändler in einem Schulbuchverlag. Doch waren die Jobs damals knapp und so folgten nach dem Studium verschiedene berufliche Funktionen in der Schaden- und Unfallversicherung.

Der Versicherungsbranche zumindest verdankt Heiner Gudehus jede Menge fachlichen Input, die ihn zu Fachbüchern wie „Heute schon agil gewesen?“ inspirierten. In diesem Werk untersucht der Hobbyautor unter seinem Passnamen Heinrich Gudehus Methoden des Projektmanagements – an dieser Stelle mit einem Augenzwinkern. Seinen Humor stellt er aber insbesondere unter dem Künstlernamen Ernst. C. Drole in seinen fiktiven Geschichten und Gedichten unter Beweis, in denen er praktische Anwendungen witzig verpackt. Seine Werke drehen sich alle rund um Innovation und Kreativität sowie Humor und Witz – wobei diese Dinge für Heiner Gudehus zusammenhängen: „Innovation und Witz erfordern ein Um-die-Ecke oder wie die Kreativen sagen, ein Out-of-the-Box-Denken.“ Und so bediente sich der ehemalige Versicherungsvorstand dieser Methoden selbst und nutzte sein Ausscheiden aus dem Berufsleben 2019 und die bald folgenden Lockdowns schlichtweg zum Schreiben. Inzwischen verzeichnet Heiner Gudehus zwei Veröffentlichungen zu Strategiefragen im Versicherungsbereich und drei weitere Fachbücher zum Thema Innovation. Unter Ernst C. Drole sind 14 Werke erschienen, die das Tierreich, seltsame Begebenheiten und Jahresrückblicke beinhalten. Selbst ist der Mann: Der Wahlschriftsteller ist in jeder Hinsicht sein eigener Boss und veröffentlicht seine Werke in Eigenregie mit Kindle Direct Publishing. Geneigten Lesenden empfiehlt der Autor nach „Zukunft braucht Innovation“ (Heinrich Gudehus) oder „Seltsame Begebenheiten – Band I“ (Ernst C. Drole) in der Suchmaske des Internetriesen zu suchen.

Überhaupt steht die Zeit unter einem kreativen Stern, denn seine schriftlichen Ergüsse untermalt Heiner Gudehus zusätzlich mit eigenen Illustrationen. Auch das Malen begleitet ihn von Kindesbeinen an: „Für die Bücher brauchte ich an der einen oder anderen Stelle ein paar Zeichnungen, die hab ich dann eben selbst gezeichnet. Ich würde das eher als gehobene Kritzelei bezeichnen.“ In seiner Freizeit spielt der auf einem Bauernhof in der Wedemark Aufgewachsene Saxophon, fährt viel nach Frankreich und trifft sich mit französischen Freuden im In- und Ausland. Das Berufliche ist mittlerweile im Nebel der Vergessenheit verschwunden: „Ich beschäftige mich jetzt mit dem, was mich immer mehr interessiert hat; ich konnte es mir vorher schlicht nicht leisten. Ansonsten bin ich mittlerweile schon altersbedingt jemand, mit dem man gut auskommt.“ Klingt danach!

Von: Anna Pakosch & Silvia Witte

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Literarisches April: Renate Folkers


Mit der stark autobiografisch geprägten Erzählung „Briefe an Ella“ räumt Renate Folkers literarisch ihr Leben auf. Es ist eine Geschichte über tragische Schicksalsschläge, Trauerbewältigung, Depressionen und die Aufarbeitung fehlgeleiteter Gefühle. Die Autorin erzählt wie es ihr gelang, alte Verhaltensweisen zu ändern, um ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln und davon, in dem sehr belasteten Mutter-Tochter-Verhältnis eine Begegnung auf Augenhöhe hinzubekommen. Heute ist Renate Folkers‘ Devise die Buddhistische Weisheit: Tu was du willst, aber nicht, weil du musst!

„Briefe an Ella“ erzählt die Geschichte einer Frau, die als Kind ihre Schwester und als junge Frau ihre Eltern verliert. Verluste, welche viel zu lange nicht aufgearbeitet wurden und die die Erzählerin ihr ganzes Leben hindurch begleiteten. „Kein Mensch sprach damals von Trauerarbeit. Da war es ein guter Plan, in Briefen den Gefühlen von Verlust, Wut und auch der Trauer Raum zu geben. Insofern habe ich die Texte von damals überarbeitet und verwendet“, erzählt Renate Folkers. Von der Einsamkeit in der Kindheit bis hin zu immer wiederkehrenden Träumen von der längst verstorbenen und unerreichbar scheinenden Mutter Ella bringen die Autorin auf ihren Weg. „Das schreckliche Ereignis hatte sich tief in meine Seele eingebrannt, mich traumatisiert und lange anhaltenden psychischen Schaden angerichtet“, so heißt es im Buch. Es brauchte viel disziplinierte Arbeit, um aus den Fängen der Depressionen und der Angst einen Ausweg zu finden. Folkers beschreitet und beschreibt diesen Weg in ihrem Roman und schafft letztendlich „den Absprung von einem Zug (…), der in voller Fahrt auf ein Desaster zurollte.“

Das Schreiben der Erzählerin gestattete ihr eine andere Art von Nähe zu ihrer verstorbenen Mutter aufzubauen und sie dadurch am Leben nach deren Tod teilhaben zu lassen. „Ausschlaggebend, dieses Thema aufzugreifen, war ein Workshop mit dem Titel ‚Briefe an meine Mutter‘, den ich leiten durfte. Die Erkenntnisse und Schilderungen der Teilnehmenden (Frauen über 70) weckten in mir das Bedürfnis, mich mit dem Thema intensiver zu beschäftigen“, berichtet Folkers. Sie schafft sich ihre eigene Art, um mit der Konfrontation von Trauer und Tod umzugehen und mit Achtsamkeit den Überforderungen Einhalt zu gebieten sowie die eigenen Grenzen zu erkennen. Die Autorin erklärt: „Das Buch zu schreiben war in der Tat eine Befreiung. Die Trauer hat einen festen Platz bekommen und endlich ihre Macht verloren. Der Depression konnte ich erst nach und nach zu Leibe rücken. Es war ein steiniger Weg, der sich gelohnt hat und in jeder Hinsicht eine Bereicherung war. Über das Schreiben habe ich zu meiner Mutter einen ganz anderen Zugang bekommen. Ich bin mit ihr in einem einvernehmlichen Miteinander, keine Vorwürfe, keine Schuldgefühle. Alles ist gesagt und gut“, so Folkers. Dank diverser Reha-Maßnahmen und Therapie-Aufenthalte findet die Ich-Erzählerin Anlaufstellen, die ihr helfen, geistig zu genesen, der Depressionen den Rücken zu kehren. Es ist die berührende Geschichte einer erwachsenen Frau, die viel Schmerz aushalten musste und schlussendlich lernt zu hinterfragen und ihre eigene Meinung zu haben … und am Ende das Gefühl hat: „so wie ich bin, bin ich genug“.

Für die 1950 in Nordfriesland geborene Renate Folkers ist das kreative Schreiben zu einem intensiven und wichtigen Teil des Lebens geworden. Sie lebte über 50 Jahre in Husum, wo auch ein Großteil der Erzählung spielt. Seit ihrem Berufsausstieg 2009 schreibt sie Kriminalromane, Kurzgeschichten und Gedichte auf Hoch- und Plattdeutsch und lebt seit acht Jahren in Hannover.

152 Seiten

13 Euro

dco-Verlag

renatefolkers.de

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