El Kurdis Kolumne im Juli

El Kurdis Kolumne im Juli

Stell dir einfach vor, wir hätten …

Weiß eigentlich jemand, wann es angefangen hat, dass Deutsche sich zur Begrüßung umarmen und küssen? Als ich ein Teenager war, gab es das auf alle Fälle noch nicht. Wenn wir Pubertanten uns damals begegneten, nickten wir uns cool zu und sagten „Hi“. Bestenfalls machten wir kurz Augenkontakt und hoben vielleicht – möglichst ohne sichtbares emotionales Engagement – ganz leicht die Hand. So als wolle man winken, habe es sich aber kurz nach Beginn der Bewegung anders überlegt. Wie das eben junge Menschen tun, wenn sie noch nicht wissen, ob dieser Körper nun endgültig ihnen gehört, oder ob er ihnen nur versehentlich zugeteilt wurde, und sie ihn morgen wieder zurückgeben müssen. Erwachsene hingegen schüttelten sich zur Begrüßung mit festem Griff die Hände. Das war‘s. Einzige Ausnahme: Man verabschiedete am Bahnhof oder Flughafen einen Blutsverwandten – oder jemanden, mit dem man regelmäßig Körperflüssigkeiten austauschte – zu einer langen Reise. Oder sah ihn nach einer solchen wieder. Dann gab es auch mal kurzen Körperkontakt in der Öffentlichkeit.

Mit Verwunderung nahmen wir die Begrüßungs-Rituale anderer Völker zur Kenntnis: Zwei angedeutete Wangenküsse in Griechenland, Italien und Frankreich (außer in Paris, da gab‘s angeblich vier), drei „Airkisses“ in Belgien; und in der Schweiz je nach Region mal zwei, mal drei. Und dann war da noch der sozialistische Bruderkuss. Ein Begrüßungsritual aus der Arbeiterbewegung, mit dem die Küsser ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Kommunisten signalisierten. In Vollendung von Erich Honecker und Leonid Breschnew 1979 anlässlich der Feier zum 30. Jahrestag der DDR praktiziert: links, rechts, links und dann mit Schmackes auf den Mund. Manche kennen vielleicht das ikonographische Foto dieses Motivs von Régis Bossu.

Jenseits des ZKs der SED aber wurde in Deutschland außerhalb der Familie weder geküsst noch umarmt. Das Land war geprägt von stoffelig-kartoffeliger Stock-im-Arsch-Steifheit und immer einer Armlänge Distanz. Das muss man im Übrigen weder gut noch schlecht finden oder anderweitig bewerten. Es war eben so. Obwohl ich ja Halb-Orientale bin, kam ich damit gut zurecht. Dennoch beugte ich mich dem irgendwann einsetzenden sozialen Druck zur Drückerei. Aber wenn ich in ein Land zöge, in dem man sich zur Begrüßung an die Geschlechtsteile fasste – ohne dass das als Belästigung gelten würde –, gewöhnte ich mich vermutlich auch daran. Ehrlich gesagt kommen mir die heute üblichen „hugs and kisses“ auch oft noch so vor, als griffe mir jemand ungefragt ans Skrotum. Aber man will ja nicht als Sonderling oder Sozial-Schrulle gelten, also lasse ich es geschehen. Oder ließ.

Corona war diesbezüglich ein Segen für Menschen wie mich. Auf einmal war Drück-und Küss-Pause. Und schnell entwöhnte ich mich wieder. Wie in meiner Jugend wurde wieder genickt, gewunken – und bei engen Freunden auch mal die Ghettofaust oder das Ellenbogen-Petting angeboten. Alles gut, alles entspannt. Als ich im Sommer 2021 nach langer Zeit mal wieder meinem Freund Ralf Sotscheck begegnete – der seit Jahrzehnten in Irland lebt und von dort für die TAZ berichtet –, hatte ich außer Freundin und Tochter seit eineinhalb Jahren niemanden mehr umarmt. Und dabei, ehrlich gesagt, nichts vermisst. Nun breitete Ralf seine Arme aus, um mich an sein großes deutsch-irisches Herz zu drücken, und obwohl ich wusste, dass wir beide durchgeimpft waren, blockierte etwas in mir. Zunächst schoss mir das Credo der Hauptfigur aus Herman Melvilles Erzählung „Bartleby der Schreiber“ durch den Kopf: „I would prefer not to!“ Aber das traf es nicht. Ohne zu wissen, was herauskommen würde, öffnete ich den Mund – und stammelte: „Ralf … ich glaub, ich bin noch nicht soweit.“ Ralf – eine Seele von Mensch – schaute mich verwirrt an. Aber nachsichtig wie er ist, vergab er mir diesen Affront. Als ich das am Telefon wiederum meinem Freund Matthias erzählte, der in seiner Funktion als Theater-Dramaturg nochmal in besonderer Form Körperlichkeit ausgesetzt ist, sagte dieser: „Darf ich das auf‘n T-Shirt drucken?“ „Klar“, sagte ich. Und dann entwarfen wir eine komplette Distanz-Kollektion. Neben den Shirts mit „Sorry, ich glaub, ich bin noch nicht soweit!“ designten wir – auf irgendsoeinem Online-Klamotten-Design-Portal – Hemdchen mit: „Nee komm, lass ma!“, „Nicht anfassen!“, „XXX“ und „Stell dir doch einfach vor, wir hätten …“. Ich gehe mal davon aus, dass die Kollektion demnächst im Stadtkind-Merchandise-Shop erhältlich sein wird.

Hartmut El Kurdi


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