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Über Kultur in stürmischen Zeiten – Ein Gespräch mit Friederike Ankele

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Über Kultur in stürmischen Zeiten – Ein Gespräch mit Friederike Ankele


Sie haben seit September 2022 die Leitung des Kulturbüros in Hannover übernommen. Können Sie zum Kennenlernen ihren Werdegang erzählen …
Ich bin in Bonn geboren, in Berlin aufgewachsen, habe dort Abi gemacht und bin dann ein Jahr als Au-pair nach Japan gegangen. Im Anschluss habe ich mich eine Weile orientiert, dieses und jenes angefangen. Letztlich habe ich eine Ausbildung zur Buchhändlerin abgeschlossen. Zurück in Berlin habe ich mich entschieden, Kulturwissenschaften in Frankfurt Oder zu studieren und landete im Nebenjob beim Festivalmanagement. Und darüber kam ich schließlich 2010 zum Morgenland Festival Osnabrück. Ich habe dort bei sechs Ausgaben mitgearbeitet, als organisatorische Leitung im Zusammenspiel mit der künstlerischen Leitung, Michael Dreyer. Ich war vor Ort, aber auch im Irak, in der Türkei, in den Niederlanden, wo wir Gastspiele realisiert haben.

Klingt nach einer intensiven Zeit.
Das war 24/7, immer präsent mit ganz viel Herz. Es war schön, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass es an der Zeit für etwas Neues ist. So kam ich nach Weikersheim zur Jeunesses Musicales, einem Jugendorchesterverband mit langer Tradition und angeschlossener Musikakademie in barockem Ambiente. Ich arbeitete dort zum einen als stellvertretende Leitung der Musikakademie, zum anderen als Referentin eines Förderreferates für internationale Jugendbegegnungen, das ich aufbauen durfte. Bei der Beratungsarbeit war es mir besonders wichtig zu ermöglichen, nicht zu verhindern, da ich das selbst auch durchaus anders erlebt hatte.

Und wann kam dann der Wechsel zum Musikland Niedersachsen?
Der folgte 2018. Ich habe das Musikland Niedersachsen geleitet, das zu dieser Zeit mit der Landesmusikakademie in Wolfenbüttel in eine gGmbH zusammengeführt wurde. Das Musikland Niedersachsen ist 2008 entstanden, vergleichbares gibt es sonst nicht in Deutschland. Zielgruppe ist die professionelle Musikszene in ganz Niedersachsen, die Aufgaben reichen vom Vernetzen über das Qualifizieren und Impulsgeben insbesondere auch auf dem Gebiet der Musikvermittlung.

Und es ging vor allem wieder ums Ermöglichen.
Ganz zentral, ja. Mir macht es großen Spaß, Räume zu schaffen, Begegnungen zu initiieren. Im Grunde sehe ich mich in so einer Art Katalysatorfunktion.

Was gab es bei Ihnen für erste Berührungspunkte mit Kunst und Kultur? Was hat Sie geprägt?
Ich habe gefühlt als Kind alle Musikinstrumente durch, die man sich nur vorstellen kann. Geige ging nicht, Blockflöte schon gar nicht, Cello auch nicht … Ich bin irgendwann bei der Trompete gelandet und die habe ich dann auch 12 Jahre gespielt. Sie war auch mein Einfallstor in die Musikgemeinschaft. Ich spielte in einem Posaunenchor in Bonn und einem Jugendorchester in Berlin Pankow. Das war ein besonderes Orchester, alle haben ein Instrument gespielt, aber alle mussten auch singen. Das war 1994, 1995. Ich war in dem Orchester die einzige aus dem Westen. Und im Nachhinein betrachtet war das für mich vielleicht eine Initialzündung. Man kommt zusammen, ist sich in vielen Punkten sehr fremd, ist anders sozialisiert, hat vielleicht sogar eine andere Kultur, und findet trotzdem zusammen durch die Musik – die Kultur als Mittlerin für menschliche, gesellschaftliche Prozesse.

Die Musik als gemeinsame Sprache …
Ja. Oder man entwickelt dann miteinander eine gemeinsame Sprache. Das ist eine Form, in die Kommunikation zu gehen, die auch gerade im jungen Alter das Miteinander vereinfacht. Bei mir war es definitiv so.

2020 kam Corona und die Auswirkungen sind bis heute im Kulturbetrieb spürbar. Wie haben Sie das damals erlebt? Sie hatten ja zu der Zeit noch die Leitung beim Musikland Niedersachsen inne.
Das war heftig, zu sehen, was da plötzlich in der Szene los war, was das ausgelöst hat. Aber wir haben uns gewissermaßen über dieses Erschrecken retten können, indem wir gesagt haben, okay, wir legen sofort los, wir machen jetzt eine Website, sehen zu, dass wir an sämtliche Informationen kommen. Wir waren tatsächlich eine der ersten Institutionen, die eine Übersicht zu Hilfsprogrammen, aktuellen Entwicklungen und möglichen Alternativen zum Live-Auftritt bereitgestellt und laufend aufbereitet haben. Und wir haben dabei gemerkt, dass politisch viel zu schnell agiert und viel zu nachlässig kommuniziert wurde. Wir haben gesehen, dass wir in Deutschland überhaupt nicht vorbereitet waren auf so etwas und auch überfordert waren, im notwendigen Tempo Dinge umzusetzen und zu agieren. Es gab politisch ein sehr großes Engagement. Man wollte helfen. Aber es wurde in der ersten Zeit kommunikativ auch viel falsch gemacht oder unterlassen, mit der Folge, dass sehr schnell sehr viel Unmut entstand.

Die Angst war groß. …
Es gab in der gesamten Szene eine krasse Existenzangst. Und das berührt ja auch diese Urangst der Kulturschaffenden. Bin ich eigentlich etwas wert? Oder überhaupt relevant? Ich glaube, dass es da noch immer ein riesengroßes Trauma gibt bei den Kulturschaffenden. Aber es war ja so, dass schnell klar war, dass Versammlungen potenziell gefährlich waren, dass die Gefahr bestand, dass viele Menschen sterben können, und darum war es eine vernünftige und solidarische Reaktion der Kulturschaffenden, Vorsicht walten zu lassen. Wir können das alles ja erst jetzt so ganz allmählich verstehen. Aber dieser Verzicht auf Begegnung war natürlich für die Kulturschaffenden extrem. Das berührt letztlich den Kern ihrer Tätigkeit. Wir haben während der Pandemie sehr klar gesehen, dass Kultur nicht ohne Begegnung funktioniert. Und das ist ja eigentlich das, was sie auch systemisch über alles stellt. Es gibt diesen schönen Satz von Martin Buber, dass alles wirkliche Leben Begegnung ist. Diese Begegnung war eine ganze Weile nicht möglich. Das sitzt tief bei den Kulturschaffenden und hat viele Wunden hinterlassen. Und das war unter anderem auch ein Grund für meine Bewerbung hier. Ich sehe eine Aufgabe darin, mitzuhelfen, dieses Trauma zu überwinden. Ich würde gerne unterstützen, diesen Dialog wieder neu zu aktivieren. Aus meiner Sicht wäre es ein Fehler, wenn wir jetzt einfach an diese Zeit der Pandemie sozusagen einen Haken machen, ohne noch einmal zu reflektieren, was da eigentlich passiert ist. Wir neigen ja dazu. Business as usual, einfach wieder weiter wie bisher. Wir lassen solche Erfahrungen gerne einfach hinter uns. Aber das wäre in diesem Fall nicht gut, ich glaube, das funktioniert so nicht. Wir müssen schon überlegen, was wir eigentlich lernen können aus dieser Zeit.

Wo stehen wir denn momentan, wie geht es der Kultur bei uns? Nach Corona und in einer Zeit, in der bei vielen Menschen das Geld knapp ist.
Ich kann ganz bestimmt nicht für die Kulturschaffenden insgesamt sprechen, das wäre vermessen. Was ich aber ganz persönlich sagen kann: Ich ziehe meinen Hut! Mit wie viel Engagement und wie viel Flexibilität die Szene hier in Hannover unterwegs ist, das beeindruckt mich zutiefst. So viel „wir hören nicht auf“ und „wir werden nicht müde, wir machen weiter“, das ist schon bewundernswert. Ich sehe an vielen Stellen natürlich auch den Unmut, wenn es jetzt beispielsweise ums Sparen geht, klar. Das ist wieder mit Ängsten verbunden. Aber ich sehe auch ein unfassbar aktives und vielfältiges Szeneleben. Das ist nach wie vor gegeben in Hannover. Und wenn Veranstaltungen jetzt nicht gut besucht sind, dann wird nicht etwa resigniert, dann wird im Gegenteil gegrübelt, ob man eventuell etwas besser oder anders machen kann, ob es neue Konzepte braucht. Ich finde, dass sich viele bei der Kultur eine dicke Scheibe abschneiden können, was Flexibilität, Agilität und auch Kreativität angeht. Die lassen sich nicht unterkriegen, die lassen sich das nicht nehmen. Man kann das auch ablesen an der Zahl der Anträge, die uns erreichen. Es gibt ganz viele Ideen.

Aber stellenweise fehlt noch das Publikum.
Eine unglückliche Kombination vieler Faktoren. Zu Corona kommen jetzt noch finanzielle Ängste. Die nächste Gasrechnung schwebt als Damoklesschwert über allen Köpfen, die Menschen sparen. Hinzu kommt dann noch eine Flut von Veranstaltungen. Eine Folge von Corona, es gab und gibt unglaublich viele Projekte durch sehr viel Projektförderung. Was im Prinzip toll ist, aber darum haben wir nun natürlich sehr viele Umsetzungen, die im Kalender konkurrieren. Hinzu kommen noch nachgeholte Hochzeiten, Taufen, runde Geburtstage. Wir haben also auf der einen Seite ein riesengroßes Angebot und auf der anderen Seite die finanziellen Sorgen, die Inflation, die gestiegenen Kosten. Und dazu auch noch einen Krieg und den Klimawandel. Schlimmer, hat man das Gefühl, kann es eigentlich nicht werden. Wer denkt sich das alles bloß aus?

Wie war Ihr Start im Kulturbüro in diesen stürmischen Zeiten?
Es war, als hätte mir jemand ein 5000-Teile-Puzzle in den Kopf geschüttet. Und ich suche erstmal die Ecken. Und dann die Randstücke. Inzwischen nähere ich mich aber einem Motiv, das ich so langsam erkennen kann. So fühlt es sich gerade an. Trotzdem habe ich sehr oft noch den Eindruck, ich mache zwei Schritte nach vorne, aber dann schon wieder einen zurück. Ich taste mich mehr und mehr rein. Aber was das Ankommen im Sinne von Willkommen angeht, das war wahnsinnig schön. Die Kolleg*innen hier haben in den vergangenen eineinhalb Jahren wirklich sehr viel stemmen müssen ohne eine Leitung. Und es hätte jetzt auch heißen können, dann nimm mal das Ruder und mach mal. Stattdessen habe ich hier so eine extreme Wärme erfahren, ein ganz herzliches und offenes Willkommen. Ganz viel Unterstützung, ganz viel Angebot, Geduld und Verständnis. Und ich habe natürlich das Glück, dass hier so viele Menschen mit ganz viel Sachverstand sitzen, mit einer wirklich großen Expertise in ihren Bereichen und darüber hinaus. Ich bin ja nicht diejenige mit der Fachlichkeit, ich bin dazu da, den Kolleg*innen Bedingungen zu schaffen, dass sie hier gut und effektiv arbeiten können.

Gab es einen Austausch mit Ihrem Vorgänger Benedikt Poensgen?
Klar, den gab und gibt es. Er hat mir das sofort angeboten, als er gehört hat, dass ich die Leitung übernehme.

Was hat Sie an der Aufgabe im Kulturbüro gereizt?
Zum einen natürlich die Möglichkeit, kulturelle Strukturen anzuschauen und zu überlegen, wie man sie noch verbessern und ausbauen kann. Wie man Netzwerke stärken kann. An welchen Stellen man unterstützend wirken kann. Da ist der Boden sehr gut bereitet in Hannover, es läuft schon unglaublich viel, aber es gab eben auch diese zwei Jahre Corona, und ich glaube, das war wirklich so eine Zäsur. Und gereizt hat mich auch, hier diese Übersetzungsfunktion wahrzunehmen. Also eine Schnittstelle zu sein zwischen Verwaltung und Szene, und wieder zurück. Einfach auch zuzuhören. Was ist problematisch, wie kann man die Strukturen stärken, wie kann man vielleicht auch Kollaborationen befördern. Wo gibt es Synergieeffekte. In stürmischen Zeiten geht es ja um ein Zusammenrücken, um sich nicht wegwehen zu lassen. Ich glaube, diese Metapher trifft die Herausforderung der kommenden Jahre ganz gut. Wir haben eine Zeitenwende, wir werden uns anstrengen müssen. Und ich sehe, dass meine Position hier im Kulturbüro jetzt mit einer sehr großen Verantwortung verbunden ist, die Kultur in Hannover weiter zu fördern und zu erhalten. Es geht darum, Möglichkeitsräume zu schaffen – für alle Kultursparten gleichermaßen.

Haben Sie sich schon an die Verwaltungsabläufe gewöhnt?
Nein, ich habe sie noch nicht mal verstanden (lacht). Zumindest nicht in Gänze. Da öffnet sich einem wirklich eine ganz neue und fremde Welt. Man muss sich das auch mal klarmachen, in Hannover arbeiten über 11.000 Menschen für die Stadt, das muss alles organisiert werden, das ist ein riesengroßer Tanker. Und dann sitzt man da und lernt erstmal die Kürzel für verschiedene Organisationseinheiten. Man lernt jeden Tag dazu. So funktioniert also ein Fachbereich, so ein Dezernat. Wie muss ich Informationen weitergeben und wen muss ich dabei berücksichtigen? Ich glaube, es wird noch eine Weile dauern, bis ich das wirklich alles verstehe. Hinzu kommen ja auch noch die Zusammenarbeit und der Austausch mit der Politik, insbesondere mit dem Kulturausschuss. Das ist alles sehr spannend!

Haben Sie eigentlich bestimmte Schwerpunkte, ein Art Agenda, mit der Sie angetreten sind?
Ich habe keinen Spartenschwerpunkt. Meine Agenda – das klingt jetzt wahrscheinlich ein bisschen abstrakt und ist darum auch schwer zu fassen – ist es, den gesamten Kulturraum Hannover in den Fokus zu nehmen. Die Strukturen noch einmal zu verbessern, die Drähte noch einmal enger miteinander zu verknüpfen. Und auch die Förderstrukturen noch einmal anzuschauen, die Prozessförderung in den Blick zu nehmen, wie es auch im Kulturentwicklungsplan steht. Die reine Projektförderung, das hat Corona gezeigt, ist schwierig. Wir müssen darum sehen, wie wir Strukturen und Prozesse fördern können. Und noch etwas liegt mir am Herzen. Ich möchte, dass noch viel mehr sichtbar wird, was Kultur für ein Stadtleben eigentlich bedeutet. Beziehungsweise was es bedeuten würde, keine Kultur zu haben.

Gibt es Herzensprojekte? Oder Initiativen, die Sie besonders schätzen?
Da gibt es so viel … Ein Beispiel ist vielleicht die Rampe, eine jüngere Initiative, die ich toll finde, weil sie diesen kollektiven Gedanken aufgreift. Auch das Netzwerk „women* in music hannover“ ist immens wertvoll. Hier zeigt sich, wie Kultur gesellschaftliche Transformations-Prozesse aufgreift und wirksam vorantreibt. Was bedeutet Gender equality? Wie befördern wir das in den bestehenden Strukturen? Auch das ist eine Aufgabe von Kultur.

Viele Initiativen klagen ja über zu wenig Publikum. Oft fehlt das jüngere Publikum …
Eine ganz wichtige Herausforderung. Wir müssen uns neuen Formaten stellen und wir müssen herausfinden, wie wir ein neues und jüngeres Publikum gewinnen können, wie wir die jungen Menschen neugierig machen können, wie wir sie ansprechen und erreichen können. Und das berührt ein Thema, das mich insgesamt umtreibt: Nähe. Wir müssen uns ja die Frage stellen, wie sich die Kultur in den nächsten Jahren entwickeln, wie sie es durch die Zeit schaffen wird. Ein wichtiger Punkt wird die Kollaboration sein, das zeitweilige Zusammenrücken und Zusammenarbeiten auch unterschiedlicher Sparten. Das ist ein Trend bei den jüngeren Kulturschaffenden, das interdisziplinäre Denken, das über die Sparten hinwegdenken, gerne auch digital. Ich glaube, dass das noch zunehmen wird, dass das noch fluider wird. Raus aus dem Althergebrachten, raus aus der Sparte, raus aus dem Gewohnten, neue Räume erschließen, anders mit dem Publikum umgehen, anders mit Kunst umgehen, nahbar sein. So ein bisschen diese Heiligkeit von Kunst ablegen. Und darüber Innovationen kreieren, die dann durchaus auch wirtschaftliche Innovationen sein können.

Braucht die Kultur eigentlich unbedingt die großen Leuchttürme?
Die alte Diskussion …

Ich habe immer die Angst, dass diese Konzentration auf die großen Leuchttürme dazu führen kann, dass die vielen kleinen Laternen vergessen werden. Und dann erlischt so ein großer Leuchtturm und in der Fläche ist auch nicht mehr viel Licht übrig. Wie sehen Sie das?
Ich finde tatsächlich, dass eine Stadt auch dadurch bestechen kann, dass sie ganz viele kleinere Lichter hat. Natürlich, man braucht die Leuchttürme, weil sie als Zugpferde fungieren. Das ist auch ein Faktor beim Marketing von Städten. Und man muss ja auch feststellen, Events, die so einen „Wow-Effekt“ haben, die lassen uns alle nicht kalt. Aber ich bin auch einverstanden, wenn gesagt wird, dass wir uns nicht allein auf diese Leuchttürme konzentrieren sollten. Denn ich glaube, die notwendige Flexibilität, die ich eben beschrieben habe, die finden wir tatsächlich bei den kleinen Lichtern. Unsere Vielfältigkeit in der Fläche in Hannover ist ein großes Pfund. Wir haben hier so viele unterschiedliche, wunderschöne Projekte nebeneinander. Wir haben einen Knabenchor und einen Mädchenchor, und dann haben wir ein PLATZprojekt, wir haben ein Graffiti-Festival – wie abgefahren ist das eigentlich? Oder nehmen wir das up-and-coming Film Festival, ein totaler Schatz. Vieles in Hannover ist toll und auch wirklich besonders, wir sind nicht umsonst UNESCO City of Music. Ich denke, wir müssen noch weiter raus aus der Bescheidenheitsnische. Wir können uns ruhig ein bisschen selbstbewusster präsentieren. Das habe ich erst neulich wieder bei der letzten KUBUS-Ausstellung gedacht. Man kann hier zwar nicht mehr Kunst studieren, aber es gibt in Hannover junge Leute, die tolle Kunst machen und präsentieren.

Ich mag ja das Prinzip der Gießkanne. Kleine Mittel können klug eingesetzt große Effekte erzielen. Ich finde zum Beispiel, dass sich unsere Kunstszene nach Einführung der Projektraumförderung sehr positiv entwickelt hat.
Man muss genau hinsehen, ob die Tropfen zur Blüte führen oder auf dem heißen Stein verdunsten. Auch die Gießkanne sollte kein willkürliches, sondern wirksames Prinzip sein. Bei der Atelier- und Projektraumförderung ist das voll aufgegangen. Aber das lässt sich nicht einfach 1 zu 1 auf andere Bereiche übertragen. Das Thema Förderinstrumente ist wie schon gesagt ein zentrales. Und es ist auch ein Wunsch von mir, das mit den Kolleg*innen zusammen stetig anzusehen. Um zu diskutieren und zu evaluieren, was gut läuft und wo wir uns vielleicht neu und zukunftsfähiger aufstellen müssen, wo wir noch einmal besser beraten können, wo wir vielleicht mit Drittmitteln arbeiten können, usw. Und wer fördert eigentlich was in Hannover? Können wir uns vielleicht stellenweise mit anderen Förderern vernetzen? Es gibt ja so einige in Hannover, Niedersachsen und auf Bundesebene. Ich würde gerne den Wissenstransfer noch weiter verbessern, weil das auch die Qualität unserer Beratung steigert. Und die Qualität wird wichtiger werden, gerade weil absehbar die Mittel nicht mehr werden.

Ich habe bei der Frage zu Kürzungen eine sehr klare Haltung, ich lehne das vollständig ab und wünsche mir sogar mehr Geld für die Kultur, gerade auch in Krisenzeiten. Man sollte nicht dort sparen, wo ohnehin schon sehr viel prekär und nur mit größter Selbstausbeutung funktioniert, oder?
Ich würde mir tatsächlich wünschen, dass Kultur eine Pflichtaufgabe wird und keine freiwillige Aufgabe ist. Und dass sich das von der Schule an verankert im Bewusstsein der Menschen, dass Kultur etwas ist, was wir Menschen brauchen, um Menschen zu sein.

Es gibt bei der Diskussion um Kürzungen ja immer die Fraktion, die dann generell den Wert von Kunst und Kultur bezweifelt. Gerne wird zum Beispiel gesagt, dass die Sanierung von Schultoiletten doch viel wichtiger sei. Was halten Sie von solchen Diskussionen und Vergleichen?
Das ist eine totale Falle, solche Dinge ins Verhältnis zu setzen. Ich würde mir generell wünschen, dass man mehr Vertrauen in die Kultur hat. Weil sie als gesellschaftlicher Kitt wirksam sein kann, als Ort für Glück und Unglück, als Raum, über sich selbst hinauszuwachsen. Und erwiesenermaßen hat Kultur natürlich auch eine Wirtschaftskraft. Übrigens auch in dem Sinne, dass eine frühe kulturelle Förderung in den Kindergärten und Schulen ganz sicher eine Zukunftsinvestition ist. Machen wir mal ein Gedankenexperiment. Wir stellen gerade der Bundeswehr 100 Milliarden zur Verfügung. Was würde wohl passieren, wenn wir der Kultur 100 Milliarden zur Verfügung stellen? Ich wäre gespannt, was die Kultur daraus machen würde. Ich staune schon immer, was manche aus 100 Euro machen. Daraus wird im kreativen Prozess oft etwas ganz Fantastisches. Das lässt mich immer wieder staunen, wenn ich Kultur erlebe. Dass das möglich ist, diese unfassbare Wertschöpfung. Darum würde ich mir von den Kulturakteur*innen auch deutlich mehr Selbstbewusstsein wünschen. Ich weiß, dass das schwierig ist, wenn man schon im Studium gesagt bekommt, dass man lieber parallel einen Taxischein machen sollte. Das ist nach Corona auch noch schwieriger geworden. Aber trotzdem dürfen sie alle den Rücken durchdrücken. Sie leisten tolle und wichtige Arbeit.

Was kann Kultur aus Ihrer Sicht bewirken in einer Gesellschaft?
Resilienz und Zusammenhalt. Und die Kultur kann alternative Lebensmodelle aufzeigen. Man kann dann das Eigene daran reflektieren, auch überdenken. Und die Kultur hat natürlich auch diese kathartische Funktion. Der Exzess ist – gerade wenn wir über Jugendkultur reden – total wichtig in unserer Gesellschaft. Auch der stille Exzess. Ich gehe durch mich hindurch, wenn ich Kultur erlebe. In diesem Sinne. Und ich erlebe mich selbst in Reaktion auf die Kultur. Das ordnet mich irgendwie. Das ist oft so ein Moment der Selbsterkenntnis. Man gelangt über die Kunst und Kultur in eine andere Sphäre. Wenn man abschweift, in einem Konzert, in einer Ausstellung. Als würde plötzlich etwas nach einem greifen. Und dieses „ergriffen sein“ führt einen dann wieder zu sich selbst zurück. In dem Sinne, dass sich vielleicht auch die Absurdität des Lebens spiegelt, wenn man so an das eigene Hamsterrad denkt. Das ist dieser Moment im kulturellen Erleben, wenn man innehält und sich darüber klar wird, wer man ist. Oder wie kurz man da ist. Kultur ist, was wir voneinander erben und hinterlassen. In Geschichten, Bildern, Klängen… Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

Interview:
Lars Kompa

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