Tag Archive | "Hartmut El Kurdi"

El Kurdis Kolumne im September

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El Kurdis Kolumne im September


Ein beispielhaft irrelevanter Boomer-Rant

Ich habe kürzlich beschlossen, nicht wie andere Männer meiner Generation politisch komplett abzudriften – indem ich mich etwa demagogisch übers Gendern ereifere, den Veganismus als sektenhafte Para-Religion darstelle oder paranoid eine „Woke-Diktatur“ herbeiphantasiere. Oder was manche meiner Mitboomer eben so machen, wenn die Prostata zwackt, das Haupthaar sich verabschiedet und sie langsam aber sicher auf eine Gleitsichtbrille umsteigen müssen. Man staunt wirklich, was Menschen, die man mal für halbwegs liberal, vielleicht sogar für links, zumindest aber für rational denkende Wesen gehalten hat, inzwischen so von sich geben: Da wird Leuten, die sich über Alltagsrassimus beschweren, unterstellt, sie seien einfach nur zu empfindlich, die Ampel wird für die Wahlerfolge der AfD verantwortlich gemacht, die Grünen werden nur noch „die Verbotspartei“ genannt, Greta Thunberg wird zur Anführerin der klimapolitischen Roten Garden und die „Letzte Generation“ zur neuen SA erklärt …

Von meinen Alters- und Geschlechtsgenossen, aus denen so etwas heraussuppt, möchte ich mich hiermit aufs heftigste distanzieren. Ich habe mir stattdessen fest vorgenommen, politisch vernünftig zu bleiben und meine vermutlich unvermeidlichen reaktionären Reflexe in eine andere Richtung zu lenken. Wenn überhaupt, werde ich mich, was junge Menschen betrifft, nur über ganz und gar unwichtige Dinge aufregen. Über Äußerlichkeiten, inhaltsfreie Petitessen und banale Kinkerlitzchen. Zum Beispiel über eklige Seventies-Schnurrbärte bei jungen Männern. Oder die Angewohnheit mancher jungen Frauen, wenn sie etwas referieren, jedem dritten Satz ein – die eigene Aussage bestätigendes – „Genau!“ anzuhängen. Oder in der anderen Variante, das „Genau…“ langgezogen nachdenklich halblaut in sich hinein zu sprechen. Während sie überlegen, was sie als nächstes sagen. Quasi als moderne „Äh“-Variante.

Oder über Hipster-Eisläden, die neben den Geschmacksnoten „Lavendel“, „Matscha“, „Ziegenmilch-Ricotta-Rhabarbermarmelade“, „Basilikum“ und „Moscow Mule“ neuerdings auch den Klassiker „Spaghetti-Eis“ anbieten. Aber dabei 1. die traditionelle, ästhetisch geradezu vollkommene, 1969 vom Eisdielenbesitzer-Sohn Dario Fontanella in Mannheim erfundene Darreichungsform dieses einzigartigen Eis-Gerichts ignorieren, indem sie es lieblos in ein Weck-Glas (!) schlunzen. Und in denen, also in den Hipster-Eisläden, sich 2. Dialoge wie dieser ereignen. Ich: „Ein Spaghetti-Eis, bitte.“ Hipster-Eis-Dieler: „Da sind zwei Kugeln Eis drin. Welche Sorten möchtest du?“ Ich: „Äh … es ist’n Spaghetti-Eis! Also Vanille.“ Hipster-Eis-Dieler: „Du kannst auch andere Sorten nehmen.“ Ich: „Nochmal: Es ist ein Spaghetti-Eis. Ich möchte bitte zwei Kugeln Vanille da rein! So wie es sich gehört.“ Hipster-Eis-Dieler: „Beliebt sind zum Beispiel Salted Caramel, Cookie Dough oder…“ Ich: „Vanille!!!!!“ Hipster-Eis-Dieler: „Ja, is ja schon gut …“

Selbstverständlich weiß ich, dass auch in italienischen Eis-Dielen inzwischen Spaghetti-Eis-Varianten mit anderen Eis-Sorten und Soßen angeboten werden. Die heißen dann: „Spaghetti-Carbonara“, „Spaghetti-Bonito“, „Schoko-Spaghetti“, „Spaghetti-Joghurt“ oder – man mag es kaum hinschreiben – „Spaghetti-Müsli“ …

Wenn man aber in einer old-school-italienischen Rialto-Venezia-San-Marco-Eisdiele einfach nur „ein Spaghetti-Eis“ bestellt, bekommt man nach wie vor: Sahne, Vanille-Eis, Erdbeersoße, weiße Raspel-Schokolade und eine eingesteckte Rundwaffel. Punkt. Ohne Nachfrage. Ohne Diskussion. Hübsch angerichtet auf einem geschmacklosen Buntglasteller, der wiederum auf einem kleinen ovalen Metalltablett steht. Und zwischen Teller und Tablett klemmt die klassische, quasi komplett-imprägnierte, wasserfeste, null saugfähige und somit durch und durch sinnlose Papierserviette. So und nicht anders muss das sein! Diese Papierservietten habe ich übrigens noch nie in anderen Lokalitäten gesehen. Vermutlich werden sie in einer unterirdischen Papierserviettenfabrik in den Dolomiten – im berühmten Eismacher-Tal „Val di Zoldo“ – ausschließlich für italienische Eisdielen in Deutschland hergestellt.

Fairerweise muss ich aber zugeben, dass alle Hipster-Eise im Weck-Glas, die mir bisher serviert wurden, geschmacklich nicht zu beanstanden waren. Trotz der zweifelhaften Optik. Sogar die vegane Variante ohne Sahnekern, die ich kürzlich im Prenzlauer Berg aß. Obwohl diese, ich möchte das nochmal betonen, wirklich extrem scheiße aussah!
Soviel grumpy Boomertum muss auch mir erlaubt sein.

 

Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im August

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El Kurdis Kolumne im August


Meine zahlenmystische Jubiläumskolumne

Bei Lesungen stelle ich mich manchmal folgendermaßen vor: „Hallo, mein Name ist Hartmut El Kurdi und ich lebe in Hannover. An meinem Nachnamen ‚El Kurdi‘ erkennt man aber, dass ich kein richtiger Niedersachse bin … sondern Hesse.“ Ist das Publikum mir wohlgesonnen, lacht es dann freundlich. Sicher, ich weiß, dass das ein etwas einfach gebauter Scherz ist. Vielleicht aber auch nicht. Denn wie bei so vielen Witzen ist nicht ganz klar, warum man lacht. Rein technisch? Also nur, weil man von der Pointe überrascht ist? Oder weil man sich selbst in einem gewissen stereotypen Denken ertappt fühlt? Vielleicht auch über die Vorstellung, dass ausgerechnet ‚El Kurdi‘ ein prototypischer hessischer Name sein könnte?

Egal, Tatsache ist: Ich bin zwar nicht in Hessen geboren, sondern in Jordanien, aber ich bin zu großen Teilen im „Mittelsten“ aller Bundesländer, zwischen Fulda, Rhön und Odenwald aufgewachsen; meine Mutter ist eine Urhessin aus dem Vogelsberg und sprach zu Hause nur Dialekt – den sie konsequenterweise als Muttersprache an mich weitergab. Und tatsächlich fühle ich mich dem Hessischen kulturell immer noch verbunden: Ich schaue erschütternd oft das dritte Programm des Hessischen Rundfunks und treibe mich immer wieder auf peinlich-nostalgischen Kassel-Facebook-Seiten herum. Manchmal kaufe ich mir sogar in der Markthalle hessische Spezialitäten … Das Absurde ist allerdings, dass ich nur knapp 18 Jahre in Hessen gelebt habe. Und inzwischen 36 Jahre, also genau doppelt so lange, in Niedersachsen wohne. Das allein wäre schon Grund für eine kleine Gedenkfeier. Aber es kommt noch gedenkwürdiger. Am 1. August 2009, also vor genau 14 Jahren, bin ich nach Hannover gezogen – nachdem ich zuvor exakt 14 Jahre in Braunschweig gewohnt hatte. Wenn Sie diese Kolumne lesen, habe ich also genauso lange in Hannover gelebt wie in Braunschweig! Die restlichen acht Jahre Niedersachsen verbrachte ich übrigens in Hildesheim. Ganz am Anfang. Als Irgendwas-mit-Kultur-Bummelstudent.

Doch zurück zu meinem 14/14-Jubiläum: Keine Angst, ich gehe jetzt nicht auf diesen Braunschweig/Hannover/Eintracht/96-Quatsch ein. Wobei ich das Gefühl habe, dass dieser künstliche Konflikt in Braunschweig eine größere Rolle spielt als hier. Dort erzähle ich deswegen gerne mal die Anekdote des von mir verehrten Übersetzers und Kolumnisten Harry Rowohlt über Hamburg und Bremen: Rowohlts Vater Ernst, Gründer des Rowohlt Verlages, war gebürtiger Bremer, lebte aber schon seit Jahrzehnten in Hamburg. Irgendwann wurde er zu einem offiziellen Essen in Bremen eingeladen und saß dort mit bremischen Honoratioren an einem Tisch. Die lästerten die ganze Zeit in seiner Anwesenheit über Hamburg. Schließlich beugte sich Rowohlt zu den Lästerern hinüber und sagte in naiv gespieltem Ton: „Ich weiß gar nicht, warum Sie so schlecht über Hamburg reden. Wir in Hamburg reden gar nicht über Bremen.“

Neulich dachte ich darüber nach, ob es jetzt – nach 14 Jahren Braunschweig und 14 Jahren Hannover – nicht mal wieder Zeit für einen Umzug wäre. Aber tatsächlich fiel mir kein Ort ein, wo ich zurzeit lieber lebte als hier. Ohne dass ich in albernes lokalpatriotisches Gejohle verfiele, und auch wenn Hannover sicher nicht die schönste oder aufregendste Stadt Deutschlands ist: Ich mag es hier. Ich fühle mich hier wohl. Punkt. Obwohl mir in Leser*innenbriefen oder Social-Media-Kommentaren immer mal wieder nahegelegt wird – wie es so vielen in der Öffentlichkeit stehenden Menschen mit ausländischen Wurzeln in ganz Deutschland regelmäßig passiert –, ich solle doch gefälligst dorthin gehen, wo ich herkomme. Und damit ist meist nicht Kassel, Hessen oder Braunschweig gemeint.

Ich gestehe, ich habe als Mensch mit diversen Herkünften und zwei Pässen, der als Kind zeitweise zwischen drei Ländern und zwei Kontinenten hin und her pendelte, wenn auch kein Bedürfnis nach „Heimat“ (weil das ein zu oft missbrauchtes Wort ist), so aber doch den Wunsch nach einem Zuhause. Nach meinem Wegzug aus Braunschweig hatte ich – „aus Gründen“ – eigentlich aufgegeben, ein solches zu finden. Auch jetzt bin ich mir nicht sicher. Aber erst mal bin ich hier. Und gehe so schnell auch nicht mehr weg. Und das fühlt sich gut an.

PS: Ich feiere übrigens 2023 noch ein weiteres, in diesem Fall sogar halbwegs rundes Jubiläum. Da ich schon ein Jahr vor meinem Umzug nach Hannover anfing, für das Stadtkind zu schreiben, existiert diese Kolumne nun tatsächlich bereits seit 15 Jahren. Darauf einen Äppelwoi!

Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im Juli

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El Kurdis Kolumne im Juli


Der schmatzende Schlund der Hölle

Dass Eltern ihren Kindern im Teenageralter auf den Sack – oder andere vergleichbare metaphorische Körperteile – gehen, gilt in unserer Gesellschaft als völlig normal und wird als übliche Nebenwirkung der Pubertät angesehen. Bei mir fing das allerdings viel früher an. Schon als Sieben- oder Achtjähriger fand ich meine Mutter eklig und abstoßend. Mehrmals am Tag. Allerdings jeweils nur für zwanzig bis dreißig Minuten. Sonst mochte ich sie eigentlich ganz gerne.

Die Ekelattacken überfielen mich stets während der Mahlzeiten. Mir kam es nämlich so vor, also ob meine Mutter beim Essen Geräusche von sich gäbe wie eine Herde Schweine am Fütterungstrog. Gleichzeitig schämte ich mich dafür, so zu empfinden. Schließlich wusste ich als christlich-fundamentalistisch erzogenes Kind, dass man Vater und Mutter ehren sollte: 2. Buch Mose, Kapitel 20, Vers 12. Das vierte der zehn Gebote. Einen Vater gab es in unserem Haushalt nicht, also musste ich das Mütterlein doppelt ehren. Aber wie sollte ich das tun, wenn ich doch das Gefühl hatte, einem schlürfenden, schmatzenden, ohrenbetäubend laut schluckenden dämonischen Gier-Schlund ohne jegliche Tischmanieren gegenüber zu sitzen?

Der Umstand, dass wir in einem Zwei-Personen-Haushalt lebten und ich die Mahlzeiten fast nie mit weiteren Menschen einnahm – auch Restaurantbesuche waren bei uns unüblich – beförderte meine Selbsteinschätzung, ein undankbares, seine Mutter abgrundtief hassendes Balg zu sein.

Das Einzige, was mich beruhigte, war, dass der Hass nach den Mahlzeiten immer wieder schnell abklang und ich keinerlei Familien-Massaker plante. Das wäre bei der Intensität meiner Empfindungen durchaus verständlich gewesen. Aber war das Essen vorbei und das – wie ich es empfand – Grunzen verhallt, war alles wieder gut. Ich lebte also mit einem gelegentlich – zwei, drei Mal am Tag – aufblitzenden schlechten Gewissen: Sicher, ich war ein miserabler Sohn, aber eben nur temporär begrenzt.

Bis zu dem Moment, einige Jahre später, als mir klar wurde: Ich fand nicht nur meine Mutter widerlich, sondern auch meine Freunde. Und deren Eltern. Eigentlich alle Menschen. Geahnt hatte ich das schon länger. Und dann kam dieser Tag respektive Abend, an dem es zur Gewissheit wurde. Ich saß am Abendbrottisch meiner Jugendliebe: Vater, Mutter, Oma, Bruder meiner Freundin und sie selbst – alle schmatzten und schluckten so aufdringlich laut, dass mir die Essgeräusche meiner Mutter im Vergleich dazu plötzlich vorkamen wie eine in der Ferne erklingende Querflöten-Etüde….

So ging es dann weiter. Die Jahre zogen dahin, zwischen den Mahlzeiten war mein Leben ganz okay und mein Verhältnis zur Restbevölkerung größtenteils entspannt. Aber während des Essens dachte ich wirklich immer wieder, ich könne Menschen grundsätzlich nicht ertragen. Ich dachte: Hartmut, du bist ein Misanthrop. Du solltest als Eremit in einer Höhle wohnen! Und die Höhle sollte am besten auf einer einsamen Insel liegen. Und die Insel inmitten eines Ozeans …

Vor einiger Zeit aber lieferte mir jemand, dem ich meinen Menschenhass zu später Stunde, in dezent angeschickertem Zustand voller Scham enthüllte, die naheliegende, aber von mir – aus Unkenntnis – nie in Erwägung gezogene Erklärung: Ich leide unter „Misophonie“, einer wohl gar nicht so seltenen psychischen Störung. Dr. Wikipedia beschreibt meine Schacke so: Misophonie (von griechisch μῖσος misos ‚Hass‘ und φωνή phonḗ ‚Geräusch‘), ist eine Form der verminderten Toleranz gegenüber bestimmten Geräuschen (…) Ein häufig verwendetes Synonym ist „Selektives Geräuschempfindlichkeits-Syndrom“ (…) Stimuli, die die beschriebenen Reaktionen hervorrufen, werden als Trigger bzw. Triggergeräusche bezeichnet.“

Ich muss also mein Selbstbild revidieren: Ich habe gar nichts gegen Menschen! Weder hasse ich, noch verachte ich sie. Es macht mich nur wahnsinnig, ihnen beim Essen zuhören zu müssen. Ganz normale menschliche Nahrungsaufnahmegeräusche foltern mich. Nicht mehr, nicht weniger. Seit dieser Erkenntnis bin ich auf der Suche nach einer Selbsthilfegruppe. Neulich hatte ich einen Albtraum: Endlich war ich fündig geworden. Nach der ersten Sitzung der „Anonymen Misophoniker“ – was im Übrigen auch ein hübscher Name für eine Punkband wäre – standen wir noch plaudern beieinander. Plötzlich holte jemand eine Tüte aus einem Leinenbeutel, öffnete sie raschelnd, steckte sich eine Handvoll des Inhalts in den Mund und fragte kauend, uns anderen die Tüte vor die Nase haltend: „Auch Chips?“

Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im Juni

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El Kurdis Kolumne im Juni


Enthemmte Pop-Liberale

Viele akademische Mittelschichtler nörgeln zurzeit geschmäcklerisch an der „Letzten Generation“ herum, weil die Aktivist*innen sich angeblich wie eine „Sekte“ benehmen würden. Überhaupt sei der ganze Gestus irgendwie „para-religiös“.
Ich verstehe, was damit gemeint ist.
Und ja, dieses Verhalten finde ich auch hin und wieder unangenehm. Aber meine Güte, ich finde sehr viele Dinge unangenehm, ohne sie gleich komplett ablehnen oder mich darüber erheben zu müssen.
Zum Beispiel kann ich die Partei-Loyalität vieler Politiker*innen kaum ertragen – also die Praxis, dass eigentlich kluge und vernünftige Leute jeden dummen Partei- oder Regierungsbeschluss verteidigen oder sogar versuchen, ihn als Fortschritt zu verkaufen. Wo doch jeder sehen kann, dass er Mist ist.
Die Wahrheit ist meistens: Sie konnten sich einfach nicht durchsetzen oder wurden mal wieder vom Koalitionspartner über den Tisch gezogen. Trotzdem stellen sie sich hin und sagen: Das ist ein guter Kompromiss! Nee, ist es nicht. Aber mehr war halt nicht drin. Warum kann man das nicht zugeben? Und obwohl mir das auf den Senkel geht, gehe ich wählen. Immer wieder. Weil ich manche dieser Politiker*innen trotzdem kompetent finde und glaube, dass sie wirklich Gutes bewirken wollen. Ähnlich geht es mir mit der „Letzten Generation“. Mir gefällt nicht alles an ihnen, aber sorry: Sie haben einfach recht. Es muss was passieren. Und zwar jetzt. Zudem habe ich nichts gegen radikale Aktionen, wobei ich Straßenblockaden und das Verspritzen von ein bisschen Farbe, ehrlich gesagt, nur mäßig radikal finde.

Das Gejammer vieler Autofahrer*innen empfinde ich hingegen als extrem albern: Selbst im unblockierten Alltag kommen die Automobilisten mit ihren Karren oft nicht voran, weil der Verkehr sich selbst zum Erliegen bringt. Rollen sie dann doch mal, cruisen sie im Anschluss stundenlang auf Parkplatzsuche durch‘s Wohnviertel. Werden also quasi von ihren Mitparkern blockiert. Was soll also die Aufregung um ein paar Leute, die den üblichen Verkehrs-Wahnsinn nur geringfügig wahnsinniger machen? Dazu kommt: Ich habe beschlossen, die „Letzte Generation“ mindestens so lange zu verteidigen, wie die Kampagnen-Maschine im Axel-Springer-Haus gegen sie raucht und rattert.

Aktivisten von der Fahrbahn loszureißen & wegzutragen ist eindeutig zulässig, auch wenn das wegen des Klebers zu erheblichen Handverletzungen führen sollte“. Das twitterte kürzlich Ulf Poschardt, die Strafrechts-Professorin Elisa Hoven zitierend. Dem Zitat stellte der WeltN24-Chefredakteur allerdings einen eigenen Satz voran: „notwehr ist keine selbstjustiz“. Im bekannten modisch-hippen Poschi-Kleinschreib. Wodurch er klarmachte: Das ist seine Meinung, seine Schlussfolgerung aus den Äußerungen Hovens.

Nochmal deutlich: In einer Situation, in der immer mehr amoklaufende Autofahrer*innen glauben, sie hätten das Recht, gewaltlose Demonstranten*innen zu treten, zu schlagen, an den Füßen über den Asphalt zu schleifen oder anzufahren, findet Poschardt es offensichtlich legitim, wenn Blockierende „erheblich“ verletzt werden. Notwehr eben. Nur nebenbei: Von den angegriffenen Demonstrant*innen hat sich bis jetzt keine*r ge(not)wehrt, niemand hat zurückgeschlagen oder -getreten. Was ich sehr bewundernswert finde. Zurück zu Poschi und seinem Arbeitsgeber:

Ich glaube, dass Springer damals (…) oft journalistische Standards verletzt hat. Und sicherlich auch ein gesellschaftliches Klima erzeugt hat, in dem Aggressionen in bestimmten Schichten der Bevölkerung gegen (…) diese Bewegung verstärkt wurden.“ So gab Poschardts Chef, der milliardenschwere Springer-Mogul Mathias Döpfner vor einiger Zeit herum-eiernd zu, dass Springer an den Schüssen auf den APO-Aktivisten Rudi Dutschke im Jahr 1968 eine Mitschuld trägt.

Aber der Springer-Verlag von heute sei nicht mehr der Springer-Verlag von damals, betont Döpfner. Stimmt. Im Gegensatz zu damals heizen keine grau beanzugten Reaktionäre mit Kriegshintergrund die Stimmung gegen die Demonstranten an. Die heutigen Aggressionsverstärker sind enthemmte Pop-Liberale, die vor allem beleidigt sind, dass es Menschen gibt, die sie und ihre Statussymbole einfach nur albern finden. Nochmal @ulfposh: „bürgerkinder als neid-brigaden – weil es bequemer ist zu randalieren und vom elfenbeinturm bejubelt zu werden, als hart zu arbeiten um sich prada, rolex oder louis vuitton zu gönnen.“ Poschardt beweist jeden Tag aufs Neue, dass es möglich ist, mehr FDP-Klischee zu sein als Christian Lindner himself. Respekt!

Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im Mai

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El Kurdis Kolumne im Mai


Meine nominelle Arisierung

Für viele Deutsche ist es eine Herausforderung, jemandem mit einem nahöstlichen, asiatischen oder afrikanischen Namen zu begegnen.
Sie fangen an zu stammeln, machen hilflose Artikulationsversuche und sprechen den Namen dann halt irgendwie aus.
So wurde ein Mitschüler meiner Tochter von den Lehrer*innen konsequent „Aamett“ genannt, obwohl er selbstverständlich Ahmed hieß, und es ja nun wirklich nicht so schwer sein sollte, sich zu merken, dass ein solches „h“ in der Mitte tendenziell eher wie ein „ch“ gesprochen wird.
Aus diesem Grund habe ich meinen arabischen Vornamen schon 1971, kurz nach meiner Einschulung, selbständig gegen meinen urdeutschen Mittelnamen getauscht. Eigentlich heiße ich ganz vorne nämlich „Samer“, was hübscherweise soviel bedeutet wie „Jemand, der seine Freunde des Nachts mit Plaudereien unterhält“. Leider aber bekamen die Kinder in meiner Klasse diesen Namen einfach nicht über die Lippen. Obwohl „Samer“ ja keinerlei schwer auszusprechende Konsonantenanhäufungen, übermäßig viele Ypsilons oder andere komplizierte Buchstabkombinationen enthält.
Selbst meine Lehrerin konnte „Samer“ bei der Anwesenheitskontrolle nicht ohne Stocken aus dem Klassenbuch ablesen.
Damals hieß man als Junge in Deutschland üblicherweise Matthias, Andreas, Michael. Die mit exzentrischen Eltern hießen Oliver oder Pascal. Da ich in einem robusten Viertel in Kassel aufwuchs, nannten mich meine Mitschüler wahlweise „Samen“ „Besamer“ oder irgendwas anderes mit Sperma. Ein Junge nannte mich, warum auch immer, „Senftopf“.
Ich dachte mir: Dann doch lieber „Hartmut“. Das klang für mich eindeutig, unverfänglich und deutsch. Diesen Zweitnamen hatte mir meine deutsche, sommersprossige Mutter verpasst, weil sie, als ich ihr in Amman nach der Geburt in die Arme gelegt wurde, vermutlich dachte: Okay, es ist also, wie erwartet, ein kleiner Schwarzkopf geworden. Der kriegt jetzt mal zum Ausgleich einen germanisch-blonden SS-Mittelnamen. Quasi als Look-Name-Balance. Und als eine Art nominelle Arisierung.

Meine Umbenennung war allerdings nur so mittel erfolgreich: Mein Nachname „El Kurdi“ verwirrt manche Deutsche so, dass sie gar nicht anders können, als meinen Vornamen schriftlich zu „Hartmoud“ zu orientalisieren. Analog zum arabischen „Mahmoud“, was übrigens der Vorname meines Vaters ist. Der von Deutschen allerdings oft „Mammut“ ausgesprochen wird. Siehe: Aamett.
Auch schön: In verschiedenen Zeitungen – von TAZ bis ZEIT – erschienen schon Texte von mir unter meinem unfreiwilligen Pseudonym „HELMUT El Kurdi“. Daran gefällt mir, dass die Verantwortlichen hier gar nicht dazu kommen, meinen arabischen Nachnamen zu verhunzen, sondern sich vorher schon im deutschen Vornamengestrüpp verheddern: Hartmut, Helmut, Helmfried, Friedhelm – was soll’s? Alles eine Suppe! Lustigerweise nennt mich auch meine Freundin Mely Kiyak  – im Gegensatz zu mir halbkurdischem Hessen vollkurdische Niedersächsin – konsequent Helmut. Zumindest in unserer erschütternd albernen Digital-Korrespondenz. Beim ersten Mal war es wohl ein Versehen. Wir kannten uns noch nicht gut. Seitdem macht sie es aus Daffke. Ich nenne sie folgerichtig und durchgehend seit Jahren Melanie. Melanie ist, neben Claudia beziehungsweise „Claudi“, mein deutscher Lieblings-Frauen-Seventies-Name.  Obwohl: „Dagmar“ respektive „Daggi“ und „Petra“ finde ich auch nicht schlecht…

Abschweifung: Hätten meine Freundin und ich unsere Tochter „Petra“ genannt, dann wäre Petra kürzlich in Petra gewesen. Was mir sehr gefallen hätte. Die junge Frau war nämlich kürzlich zum ersten Mal in meinem Geburtsland und besuchte dort unter anderem die alte nabatäische Felsenstadt „Petra“. So war aber nur Salima in Petra. So heißt meine Tochter nämlich wirklich. In Jordanien war sie mit einer französischen Freundin, die den schönen, leicht ähnlich klingenden hebräischen Namen „Salomé“ trägt  – und die prompt bei der Einreise am Flughafen in Amman von den jordanischen Grenzbeamten gefragt wurde, ob sie Jüdin sei. Als meine Tochter mir davon berichtete, dachte ich: Die lassen aber auch kein Klischee aus. Vor allem: Was wäre passiert, wenn sie tatsächlich Jüdin gewesen wäre und mit „ja“ geantwortet hätte?  Abschweifung beendet.

Meine Tochter Salima wird in Deutschland übrigens mal Samira, mal Selina, mal Shalimar genannt. Selbst wenn die Leute ihren Namen vor sich auf einem Formular oder ihrem Ausweisdokument stehen haben. Manchmal glaube ich, dieses Land braucht dringend eine Alphabetisierungskampagne.

Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im April

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El Kurdis Kolumne im April


Die U-Bahn in unseren Köpfen

Hin und wieder besuche ich meine Quasi-Heimatstadt Kassel – und betreibe dort semi-sentimentale kulturwissenschaftliche Studien.
Neulich stand ich auf dem Platz vor dem alten Kasseler Hauptbahnhof und trauerte um die Kasseler U-Bahn. Die es selbstverständlich nie gab. Dazu ist die „Stadt der Künste und Kongresse“ – so eine frühere Eigenwerbung – bei aller Liebe mit ihren 200.000 Einwohnern dann doch zu klein.
Was es aber gab, war eine einzelne, solitäre U-Bahn-Station. Eben dort: Unter dem Vorplatz des Hauptbahnhofes. Mit allem Drum und Dran: U-Bahn-Schildern, Rolltreppen und einer schicken Ladenzeile auf einer „B-Ebene“.

Welche Drogen man damals – Mitte der 1960er – in der „nordhessischen Metropole“ genommen haben muss, um auf die Idee zu kommen, eine stinknormale Straßenbahn vor dem Bahnhof mal kurz unter die Erde tauchen und sie direkt dahinter wieder aus dem Hades herausfahren zu lassen, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren.

Vermutlich wollte man genauso modern sein wie der ewige hessische Konkurrent Frankfurt, der zeitgleich eine richtige U-Bahn baute. Wobei Frankfurt für Kassel eine ziemlich größenwahnsinnige Referenz war: Die Stadt am Main zählte schon damals drei bis vier Mal so viele Einwohner und war der Standort eines riesigen Flughafens und vieler internationaler Banken. Einzig beim direkten Geschmacksvergleich der lokalen Spezialitäten „Handkäs mit Musik“ (faktisch: Harzer Käse in einer Zwiebelmarinade) und „Ahle Wurscht“ (so eine Art Eichsfelder Stracke, bloß in lecker) hat Kassel bis heute die Nase und Zunge vorn.
Ansonsten lebten wir in Kassel nun mal im Zonenrandgebiet, in der Provinz, in der Hauptstadt von Hessisch-Sibirien, und freuten uns, bei Sturm nicht von der Erdscheibe herunter zu kullern …

Allerdings genossen wir es, dass wir mit DDR 1 und 2 immerhin zwei TV-Sender mehr als die Frankfurter empfangen konnten. Das war‘s dann aber auch schon.

Andererseits: Es funktionierte. Ich erinnere mich, dass wir als Jugendliche, nachdem wir uns im Kino zunächst durch das Anschauen von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ über die Drogenkonsumgewohnheiten von echten Großstadt-Teenagern informiert hatten, in die Kasseler U-Bahn-Station pilgerten – um dort dann zwar keine Opiate, aber doch immerhin leichte Cannabis-Produkte zu uns zu nehmen. Das fühlte sich fast authentisch an …

Einige Jahre später zog ich dann zum Studieren nach Hildesheim. Dort stellte ich fest, dass man für eine Fake-U-Bahn-Station noch nicht mal eine Straßenbahn braucht. Wer schon mal in Hildesheim war, weiß: Die Fußgängerzone wird von einer großen Straße, der Kaiserstraße, zerschnitten, die man heute oberirdisch an einer Fußgängerampel überquert. Früher aber existierte an dieser Stelle eine berolltreppte Unterführung. Soweit so üblich. Aber anders als andernorts, stattete man in Hildesheim diese Unterführung mit Läden aus (Popcorn, Billig-Klamotten, einen griechischen Imbiss, Ledergürtel), ließ das Ganze dann über die Jahre gezielt verranzen und verrotten und pinselte so dort für ca. 30 Meter einen charmant urban-urinigen Heroin-Chic unter die Erdoberfläche.
Wenn es mir in Hildesheim gelegentlich etwas zu idyllisch und eng wurde, stellte ich mich manchmal für fünf Minuten in diesen „U-Bahn“-Tunnel. Einfach so. Und atmete ein. Und durch.

Als ich Ende der 80er das erste Mal Hannover besuchte, beeindruckte mich hier natürlich die richtige U-Bahn. Ich dachte: Das muss tatsächlich eine Großstadt sein! Noch beeindruckender aber fand ich, dass man hier auch noch Teile der Fußgängerzone tiefergelegt hatte. Und den Autoverkehr an einigen Stellen nach oben. So als wollte man sagen: Hier ist soviel los, wir müssen auf mehreren Ebenen arbeiten!
Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Kumpel Matthias in seinem klapprigen Ford Fiesta über die Hochstraße am Aegi fuhr. Und es uns ein bisschen wie fliegen vorkam. Und auf eine paradoxe und faszinierend altmodische Art „modern“. So als wären wir in einen Science-Fiction-Film aus den 1960ern gerutscht, in dem auf dem Boden wie gehabt Autos und Fußgänger insektenartig herum krauchen, eine Etage höher aber der coole „state-of-the-art“-Verkehr stattfindet: umherzischende Flugtaxis und schwebende Menschen mit düsengetriebenen Flugrucksäcken …

Die U-Bahn-Stationen in Kassel und Hildesheim sind inzwischen Geschichte. Verrammelt und verschüttet. Auch die Hochstraße am Aegi ist Vergangenheit. Und fast schon vergessen.
In diesem Sinne: Gern geschehen. Mein Leben ist Service.
● Hartmut El Kurdi

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