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Literarisches: Gabi Stief und Hans-Peter Wiechers

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Literarisches: Gabi Stief und Hans-Peter Wiechers


Gabi Stief und Hans-Peter Wiechers sind wahrscheinlich vielen Hannoveraner*innen und insbesondere der Leserschaft der HAZ aufgrund ihrer journalistischen Arbeit bekannt. Wiechers als ehemaliger Gerichtsreporter und Kolumnist und Stief als Politikredakteurin, die aus dem Berliner Büro über Sozial-und Gesundheitspolitik berichtete und für ihre Arbeit unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis und dem Richard-von-Weizsäcker-Journalistenpreis ausgezeichnet wurde. Gemeinsam hat das Ehepaar bereits die Reportage „Der Mordverdacht“ (2018) veröffentlicht. Einen Roman zu schreiben und sich dem Spaß hinzugeben, die Wirklichkeit und Fakten vergessen zu dürfen, war für beide eine neue Erfahrung. Restlos konnten sie ihre Berufung allerdings nicht abstreifen, so haben sie zwar einige Figuren erfunden, jedoch sind die Fakten rund um Hannovers Geschichte wahr und gründlich recherchiert. Die Historie, so Stief, bilde den Bodensatz des Romans, der Rest sei Fiktion. So könne der Roman auch jene für diese Zeit interessieren, die sich nicht mit einem Sachbuch oder einer Biografie anfreunden können.

„Der kleine Zug ins Paradies“ erzählt von Frauenschicksalen in Hannover: Von der auf der Journalistin, Malerin und Autorin Käte Steinitz basierende Helene Salpeter, deren Salon in den 1920er-Jahren einen Mittelpunkt der hannoverschen Kunstszene darstellt, von ihrer Tochter Nora Salpeter, die sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten dem Widerstand gegen Hitler verschreibt und von Noras bester Freundin Greta Kunertz, die gut 20 Jahre später die Traumata des Krieges und ihre eigene Schuld nicht mehr verdrängen kann – und dann ist da noch Kate aus New York, die 80 Jahre später an ihrem 31. Geburtstag erfährt, wer ihr Vater ist, und dadurch unweigerlich in Familiengeschichte der Salpeters verwoben wird. Da ihr Vater, Theodore Salpeter, bereits wenige Monate nach ihrem Kennenlernen verstirbt, muss sie selbst Antworten auf die vielen offenen Fragen finden, die seit der Offenbarung in ihr Leben geworfen wurden. Ihr Vater hinterlässt ihr hierfür neben einem Vermögen, das aufgrund möglicher Miterbinnen in Deutschland zunächst nicht erreichbar ist, und einigen wertvollen Kunstwerken, die seit dem Krieg verschollen sind, Hinweise auf die Geschichte einer Familie, in deren Wohnung in den zwanziger Jahren berühmte Künstler wie Kurt Schwitters und Ringelnatz ein und aus gingen. Eine Familiengeschichte, von der Kate ihr bisheriges Leben lang nicht wusste, dass sie auch ein Teil ihrer eigenen Geschichte ist. Sie reist, dem Wunsch ihres Vaters nachkommend, nach Hannover, um den Wurzeln und Geheimnissen ihrer Familie auf den Grund zu gehen. Doch es gibt Menschen, denen Kates Engagement missfällt, weil ihnen das bisherige (Ver)schweigen ganz gelegen kam..

Die Idee für den Roman kam Gabi Stief bereits vor fünf Jahren, als sie und ihr Mann eine Veranstaltung des Sprengelmuseums besuchten, bei der sie auf den Enkel von Käte Steinitz, Henry Berg, trafen und mit ihm sprachen, um einen Artikel für die HAZ zu schreiben. Käte Steinitz’ Geschichte ließ die Journalistin nicht mehr los und aus der Faszination für diese beeindruckende Frau wuchs die Idee, ein Buch über sie zu schreiben. Stief fing an zu recherchieren und konnte schließlich auch Hans-Peter Wiechers dafür begeistern mitzumachen. Wie ein solches Gemeinschaftsprojekt gelingen kann? „Man darf nicht zu eitel sein“, so Wiechers. Außerdem müsse man Kritik erdulden können und damit leben, wenn Figuren oder Kapitel gestrichen oder gekürzt werden. „Unterm Strich hat’s Spaß gemacht“, resümiert Gabi Stief über die gemeinsame Arbeit. Herausgekommen ist ein Familienroman mit tiefgründigen weiblichen Protagonistinnen über Verrat, Vergebung, das Verschweigen – und gegen das Vergessen –, der an eine schillernde Kunstszene in Hannover erinnert, die es so oder so ähnlich gab. Nele Freitag

Zu Klampen Verlag

328 Seiten

20 Euro

Erscheinungstermin: 05.09.2022

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Literarisches: Günter von Lonski

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Literarisches: Günter von Lonski


Seit Jahren erfreuen sich Regionalkrimis zunehmend großer Beliebtheit mit hiesigen Liebhaber*innen der Kriminalliteratur: Sei es nun ein Krimi der etwa zum Urlaubsort an der Küste passt – oder ein Krimi, der quasi direkt vor der eigenen Haustür spielt. Hannoveraner Krimifans dürfte der Name Günter von Lonski daher gut vertraut sein, denn die 10er-Jahre hindurch veröffentlichte er gleich ein halbes Dutzend von Hannover-Krimis rund um die Spürnase Marike Kalenberger, die es bei der hannoverschen Mordkommission auf das Schützenfest, auf Schloss Marienburg oder an den Maschteich verschlug, die in der Szene rund um Loverboys und Prostitution ebenso ermittelte wie in einer Seniorenresidenz oder unter Royalisten-Club-Mitgliedern. Nun meldet sich von Lonski mit einem neuen Krimi zurück: „Bes Büdchen“ allerdings spielt nun nicht in Hannover, sondern in der Geburtsstadt des Autors, in der er das erste Drittel seines Lebens verbrachte – in Duisburg. Mit „Beas Büdchen“ legt von Lonski somit einen humorvollen Ruhrpott-Krimi vor, der nicht bloß mit seiner Auflösung am Ende für Überraschungen sorgt …

Am Dellplatz in Duisburg entdeckt Bea Busch, Betreiberin von „Beas Büdchen“, an dem sich Durststiller und Lebensberatung gleichermaßen finden lassen,eine Leiche in ihrer Zeitungsbox. Flugs wird die Polizei verständigt: aber erst ist die Leiche beim Eintreffen der Beamten fort, dann auch deren Interesse an einer Aufklärung. Aber die Leiche bleibt nicht verschwunden – und Busch klemmt sich mit der Unterstützung ihrer Freundin Meta Kowalewska und mit der Hilfe des Kriminalkommissars Andreas Schymanczek hinter den sonderbaren Fall, der neue Blicke auf Beas Untermieter hervorbringt und auch in den Duisburger Zoo führt.

Wie kürzlich von Lonskis „Weser Strudel“ (2022) beginnt auch „Beas Büdchen“ mit einem übersichtlichen Personenregister, das die hier schon im Titel bemerkbare Vorliebe des Autors für Alliterationen fortführt: Neben Bea Busch tummeln sich etwa noch Tierpflegerin Melissa Maywald oder Koi-Züchter Willy Wohlgemuth in diesem Roman. Abstruse Wendungen, launige Dialoge, skurrile Figuren wie die junge Ramona Pundenz, die gerne Delfintrainerin wäre, aber nicht schwimmen kann, und allerlei Situationskomik setzen den humorigen Ansatz dann bis zum Finale fort. Vor allem wollte Lonski dem Humor des Ruhrgebiets huldigen. Befragt, was diesen denn ausmache, antwortet von Lonski, der etwa in Hanns Dieter Hüsch einen Seelenverwandten sieht: „Der Humor sind die Freudentränen, wenn du eigentlich nichts zu lachen hast.“

Die Idee für diesen Duisburg-Krimi kam von Lonski, dessen Erinnerungen an Duisburg allmählich verblasst waren, als die Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet zum immateriellen Kulturerbe erklärt wurde. „Plötzlich war alles wieder da: die Bunten Tüten, die erste Zigarette hinter’m Büdchen und Bea *** mit ihrer handfesten Lebensschläue“, schwärmt von Lonski, dessen Vater einst ebenso als Stahlwerker für den August-Thyssen-Konzern malochte wie Bea Buschs Stammkunde Paul Sobotta, der inzwischen als Ein-Euro-Kraft die Grünanlagen am Dellplatz pflegt. Zum Thyssen-Konzern gehörte auch eine Werksbücherei: diese habe Günter von Lonski „eine alternative Welt erschlossen, die so ganz anders war als meine Umgebung“.

Mit Blick für die unterschiedlichen Milieus entwickelt er seinen Roman, der wieder einmal eine weibliche Hauptfigur an einen kuriosen Fall setzt – auch wenn es diesemal keine Kommissarin ist, sondern eine 62-jährige, geschiedene Budenbesitzerin. Welche Rolle er den Frauen in seinen Kriminalromanen zumisst? „Frauen sind die heimlichen Herrscher der Welt und im Ruhrgebiet wollen sie es auch wissen.“

CK

Gmeiner Verlag

278 Seiten

13 Euro

Seit dem 10.08.2022 lieferbar.

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Literarisches: Paul Schüler

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Literarisches: Paul Schüler


Schon als Kind hat er gerne geschrieben. Dann war er aber – wie das nun einmal so ist – viele Jahre lang bloß Leser, nicht Autor. Nach der Schulzeit folgte erst einmal das Studium: anfangs Architektur, dann aber Mathematik und Physik. Sein Geld verdiente er sich zunächst mit diversen journalistischen Tätigkeiten – heute arbeitet Schüler längst als Lehrer. Und seine kreative Seite hatte er lange Zeit als Songschreiber, Sänger und Gitarrist der hannoverschen Rockband „Ich Kann Fliegen“ ausgelebt … um nun doch noch eine Karriere als Schriftsteller zu beginnen, in die er gleich auch noch sein Fachwissen einfließen lassen kann.

Sieht man davon ab, dass Paul Schüler „mit einer kleinen Runde von Freunden“ nebenbei Kurzgeschichten verfasst, als Journalist tätig war und eben auch schon im Kindesalter erste Gehversuche auf diesem Feld unternommen hat, ist sein im August im Aufbau-Verlag erscheinender Roman „1942 – Das Labor“ sein literarisches Debüt: Seine ganz persönliche Liebe zum Thriller verschmilzt der Mittdreißiger dabei mit seinem physikalischen Fachwissen, denn seine Hauptfigur ist passenderweise eine Physikerin. Wie der Titel es bereits erahnen lässt, lebt und forscht sie in schwierigen Zeiten: Margarete von Brühl arbeitet an der Entwicklung einer Uranmaschine, einem Vorläufer der moderneren Kernreaktoren – nichtsahnend, wie sehr sich die Gestapo für ihre Experimente interessiert. Probleme beschränken sich zunächst noch darauf, dass die Physikerin von ihren männlichen Kollegen nicht so recht ernst genommen wird. Doch dann geht es Schlag auf Schlag: Ihr Institutsleiter verschwindet, die Uranmaschine explodiert, bei der Katastrophe verliert ihr Assistent und heimlicher Geliebter Karl Leitner sein Leben, von Brühl selbst findet sich als Gejagte wieder, wird verhaftet und von einem alten Freund befreit, der sich als Mitglied einer Widerstandsgruppe präsentiert und angibt, dass ihre Forschung dem Bau einer Atombombe dient … und da ist auch noch Leitners Vater, der eine offene Rechnung mit der Forscherin zu haben glaubt, hält er sie doch für die Schuldige am Tod seines Sohnes, während von Brühl zu verhindern versucht, dass die Nationalsozialisten an die verheerende Waffe gelangen.

Seine physikalischen Kenntnisse kommen Schüler dabei gut zupasse, wobei sein Thriller über eine Verschwörung im Dritten Reich, der von einem tatsächlichen schweren Unfall in einem Atomlabor in Leipzig im Jahr 1942 beeinflusst ist, auch von guten historischen Kenntnissen lebt. Inspirationsquelle war dann, so Schüler, „vor allem ,Die Nacht der Physiker‘, ein Sachbuch von Richard von Schirach. Darin wird beschrieben, wie deutsche Wissenschaftler, unter anderem Werner Heisenberg und Otto Hahn, nach dem Krieg in britischer Gefangenschaft saßen und dabei abgehört wurden. Sie hatten zuvor die Spitze der deutschen Kernforschung gebildet und hörten nun aus der Gefangenschaft heraus von den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki.“ Gerade auch der „Zwiespalt zwischen Forschergeist und gesellschaftlicher Verantwortung“ hat ihn dabei interessiert.

Die Frage, ob ihn ursprünglich auch ein Geschichtsstudium gereizt habe, verneint Schüler jedoch. Interessiert hätte es ihn zwar durchaus, es „stand aber nie wirklich zur Debatte. Physik und Mathematik zu studieren und nun auch beruflich zu praktizieren, lässt Raum die anderen Interessen eher privat und selbstbestimmt zu verfolgen.“ Bezeichnenderweise habe ihm auch die Architektur wieder so richtig unbeschwert Spaß bereitet, als er das Studium verlassen habe. Und so hält Schüler auch nicht viel vom Klischee einer Kluft zwischen Kreativität hier und den hard science dort: „Kreativität und analytisches Denken schließen sich also ganz und gar nicht aus“, lautet sein diesbezügliches Fazit mit Verweis auf die hohe Anzahl von Naturwissenschaftler*innen unter schreibenden oder musizierenden Kolleg*innen.

Schüler selbst verschlägt es jetzt erst einmal für mehrere Jahre als Auslandslehrkraft nach Mexiko-Stadt. Und weil ja im angrenzenden US-Bundesstaat New Mexico einst die ersten Atombomben gebaut und getestet worden sind, ist das auch ideal für weitere Recherche-Arbeits zwecks weiterer Romane: „Ideen für einen Nachfolger gibt es also, die Geschichte ist ja noch nicht auserzählt.“

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Olivier David: Keine Aufstiegsgeschichte. Warum Armut psychisch krank macht

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Olivier David: Keine Aufstiegsgeschichte. Warum Armut psychisch krank macht


Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf. Für viele ist dies nicht nur ihre Herkunftsgeschichte, sondern auch ihr Schicksal – denn sie haben in erschreckend vielen Fällen kaum eine Chance auf eine gute Schulbildung, einen anständigen Job, eine Karriere, eine glückliche Familie. Vielmehr pflanzt sich die Armut von Generation zu Generation fort – und das nicht nur in Form einer finanzielle Notlage, sondern vor allem im Kopf. „Über Armut wird in unserer Gesellschaft viel zu viel und viel zu absichtlich geschwiegen, ähnlich ist es mit psychischen Erkrankungen“, resümiert Olivier David in seinem Debütroman, der im Februar bei Eden Books erschienen ist.

Olivier David wuchs in Armut auf. Davon zu erzählen, hat ihn lange Zeit mit Scham erfüllt, nicht zuletzt, weil wir ganz bestimmte Vorstellungen von Armut haben, die auf seine Lage nicht zutreffen. So schreibt er: „Die Armut, in der ich aufwuchs, äußerte sich darin, erst mit siebzehn Jahren zum ersten Mal in ein Flugzeug zu steigen, während viele meiner Mitschüler:innen bereits die halbe Welt erkundet hatten. Sie äußerte sich mit jedem Schlag unserer vom Leben überforderten Mutter, mit jedem Gebrüll, das als Stärke verkleidete Überforderung daherkam und kein Argument ersetzen konnte. Wir waren arm an Möglichkeiten.“ Oliviers Mutter stammt selbst aus schwierigen Verhältnissen, aus denen sie jung geflohen ist, um dann aber an einen unsteten und gewalttätigen Mann zu geraten – den gebürtigen Franzosen Michel, der sich als Dealer für Gras verdingt und kein festes Einkommen hat. In diese Verhältnisse werden Olivier und seine ältere Schwester geboren, die früh lernen, dass sie nicht wie die anderen Kinder sind – dass sie an der Waldorfschule komplette Außenseiter:innen sind. Überall springen ihnen die Unterschiede entgegen, die für Menschen aus armen Familien „Fallen“ darstellen: Spielekonsolen, Ausflüge zum Heidepark, schicke Klamotten. „Ich wurde zu jemandem, der Probleme sah, wo andere ins Träumen gerieten; zu jemandem, der lernte zu schweigen, zu lügen, sich zu drücken; zu jemandem, der die Klamotten seiner Mitschüler nur deshalb nicht mochte, weil er sie sich nicht leisten konnte – weil die Armut mir verbot, Gefallen an ihnen zu finden.“

Zunächst verläuft Oliviers Leben nach dem vorgezeichneten Weg und er droht, in einer Spirale aus Drogen und Gewalt zu enden. Wegen mangelnder Konzentrationsfähigkeit scheitert er in der Schule und verpasst einen Abschluss, der ihn für ein Studium qualifizieren würde.

der geschickt aktuelle Tagebucheinträge aus den Jahren 2019 und 2020, die seine Entscheidung zur Therapie und die Kultivierung einer neuen Lebenseinstellung dokumentieren, mit prägenden Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, die er nüchtern, bisweilen poetisch überhöht nacherzählt.

sagt auch, was er von den sogenannten „dornigen Chancen“ hält

S. 56

„Im neoliberalen Diskurs hört man immer wieder die Erzählung vom Scheitern als Chance. Hinfallen, aufstehen, weitermachen, so lautet die Devise, sobald einen ein Schicksalsschlag ereilt. Das Schicksal, mit dem meine Familie zu kämpfen hatte, war die Armut, die uns weder plötzlich noch aus Versehen traf. Meine Mutter wurde in die hineingeboren, sie hatte keine Wahl, der Platz war ihr zugewiesen. Durch ‚Scheitern als Chance‘ wird das Scheitern, die Niederlage, mit einem positiven Sinn aufgeladen, der dem Scheiternden eine Perspektive bietet, einen Neuanfang, eine Chance eben. In den allermeisten Fällen besteht diese Chance in der Möglichkeit, noch mal zu scheitern.“

S. 57

„Scheitern war für mich zu einem Nachhausekommen geworden.“

S. 126

„Über Armut wird in unserer Gesellschaft viel zu viel und viel zu absichtlich geschwiegen, ähnlich ist es mit psychischen Erkrankungen.“

S.191

„Wenn ich Bahn fahre, sitzen alle Lagerarbeiter, mit denen zusammen ich Vierzigtonner beladen habe, im selben Abteil. Wenn ich ins Museum gehe, betrachte ich die Werke aus den Augen der Maler und Lackierer, mit denen ich den Bahnhof gestrichen habe. Bin ich im Theater, sehen mit mir alle depressiven, alle grasrauchenden Freund:innen dasselbe Stück. Ich sehe die Welt mit ihren Augen, und stellvertretend für sie fühle ich mich überall fremd. Inzwischen sogar auch in meinem eigenen Herkunftsmilieu. Ich bin gefangen zwischen der Welt, aus der ich komme, und der Welt, in die ich strebe. Kein Vor, kein Zurück. […] Ich bin sitzen geblieben im Fahrstuhl der Klassen, in dem es für mich kein Oben, nur verschiedene Untergeschosse gibt.

S. 192

„Diesen Hass, nicht repräsentiert zu werden von den Medien, von Kultur, Politik und Gesellschaft, den nehme ich mit: auf jede Bahnfahrt, in jedes Museum, in jedes Theater. Und in meine Redaktion. Aus ihm heraus sehe ich all die kulturell gebildeten Menschen um mich herum. Ich bin sehr ungnädig und voller Rachegelüste. Überall sehe ich die Vergessenen und ermahne mich innerlich, nicht selbst zu vergessen. Und genau daran kämpfe ich mich ab.“

S.239

keine Aufstiegsgeschichte, aber „vielleicht eine kleine Geschichte der Emanzipation. Eine Ausstiegsgeschichte.“

Keine Aufstiegsgeschichte. Warum Armut psychisch krank macht

von Olivier David

Eden Books

256 Seiten

16,95 Euro

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Der Freundeskreis im Gespräch mit Sina Hensel und Andreas Burkhardt

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Der Freundeskreis im Gespräch mit Sina Hensel und Andreas Burkhardt


Wer seid ihr und was macht ihr?

Sina Hensel: Ich bin Sina Hensel, 31 Jahre, und die Leitung von Musikland Niedersachsen, einer 16 Jahre alten Service- und Netzwerkstelle für das professionelle Musikleben in Niedersachsen. Wir sitzen in Hannover, sind aber natürlich für das ganze Bundesland zuständig. Ich bin seit 2019 dabei, habe mit einem Volontariat angefangen und bin nun seit zwei Jahren in der Leitung. Wir bilden seit 2019 mit der Landesmusikakademie in Wolfenbüttel eine gemeinsame Firma, unser Träger ist der Landesmusikrat. Unsere Aufgabe ist es, die professionellen Musikszenen und Akteur*innen genreübergreifend zu vernetzen, zu qualifizieren und, mit ihnen die Rahmenbedingungen für professionelles Musikschaffen zu verbessern.

Ihr unterteilt euer Angebote ja u. a. in Handlungsfelder wie Basiswissen oder kulturpolitisches Handeln. Was kann man sich darunter vorstellen?

SH: Zum Bereich Basiswissen: Gehen wir einmal vom Fall „Musiker“ aus. Das umfasst ja mehr, als nur Musik zu machen. Du hast viele andere Jobs, die vereint werden müssen. Finanzen, Social Media, Steuern, Website-Aufbau: Vieles muss aus finanziellen Gründen DIY-mäßig passieren. Wir versuchen, genau dabei zu unterstützen. Mit Workshops, mit Beratung per Telefon oder E-Mail, zu Themen wie Steuerrecht, Musikrecht, Gründung als Musiker etc. Man kann uns immer kontaktieren, wir helfen auch bei Fragen rund um GEMA, KSK, Förderung … Und zum Feld kulturpolitisches Handeln: Wir sind eine gGmbH, also erst einmal keine Interessenvertretung. Unser Träger, der Landesmusikrat, ist der Interessensverband für Musikkultur in ganz Niedersachsen. Und dann gibt es viele andere Verbände, die LAG Jazz, die LAG Rock, KlubNetz für die Clubs und Spielstätten, den Landesverband der Freien Klassik-Szene u. s. w., mit denen wir eng zusammenarbeiten, weil deren Mitglieder auch unsere Zielgruppe sind. Mit denen arbeiten wir häufig an politischen Themen.

Andreas Burkhardt: Ich bin Andreas Burkhardt, 66 Jahre alt. Ich bin 1985 für das Jazzstudium nach Hannover gekommen. Da gab es den ersten Studiengang „Jazz, Rock, Pop“ an der Musikhochschule – ganz kurzfristig aus dem Boden gestampft. Heute bin ich der Leiter der Tonhalle Hannover: ein ca. 70 m² großes musikalisches Trainingszentrum mit eigenem pädagogischen Konzept, denn ich übe gemeinsam mit den Leuten. Deswegen nenne ich es Training. Acht Gruppen, acht Kurse pro Woche, 1½ Stunden Üben unter professioneller Anleitung. Es muss diese Wiederholungsraten geben, damit man automatisiert, das ist wie beim Sport. Die Idee war auch, mit dem Verhörer zu spielen, zu dem es immer wieder kommt: Ton- und Turnhalle. Ich nenne es nicht Musikschule, weil das Konzept anders und immer noch ein Alleinstellungsmerkmal ist. Normalerweise werden ja alle alleine nach Hause geschickt – und alleine zu Hause ist doof. In der Gemeinschaft es hingegen nicht einmal ein Problem, 30-fach dasselbe zu spielen; und alle sind begeistert dabei. Und über die Jahre ergab sich, dass die Tonhalle auch noch ein Ort für modernen Jazz geworden ist. Sonntags um 18 Uhr gibt es Konzerte in der Tonhalle. Wir haben auch schon mehrfach den Spielstättenpreis Applaus für das Konzertprogramm erhalten. Das organisiert Felix Petry, der einen großartigen Job macht. Das Ganze wird getragen durch einen Verein und die Leute, die an den Kursen teilnehmen und den Mitgliedsbeitrag zahlen. Es hat sich also großartig entwickelt, ich bin heute Chef, konnte mich selber anstellen, die Dozenten verdienen da Geld, Musiker verdienen Geld …

SH: Und lustigerweise verdanke ich quasi Andreas meinen Arbeitsplatz: Ich habe mein Masterstudium in Hannover gemacht, Medien und Musikmanagement am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung. Und wir hatten 2018 bei der Jahreskonferenz von Musikland Niedersachsen im Pavillon ein Austauschformat im Rahmen eines Forschungsseminars. Es ging um Musikstädte … In dem Workshop saß auch Andreas und hinterher sagte er: „Mensch, du bist also neu in Hannover, interessierst dich offenbar für Musik und willst dich engagieren? Wir haben da so eine Arbeitsgruppe und wollen, dass in Hannover ein großes House of Music entsteht, das sich an alle Bedarfe professionellen Musikschaffens richtet.“ Das klang spannend, also haben wir uns jeden Montag in der Tonhalle getroffen und an diesem Konzept gearbeitet. Entstanden ist daraus die Rampe – und für mich auch ein großes Netzwerk an Menschen, darunter Gunnar Gessner und Arne Pünter. Über das Netzwerk bin ich dann zum Musikland gekommen.

Mit der Rampe hattest du dann nicht direkt zu tun?

SH: Wir arbeiten ziemlich eng zusammen. Ich bin Vereinsmitglied in der Rampe und war von Anfang an dabei. Wir haben ähnliche Zielsetzungen und machen einigen Veranstaltungen und Projekte in Kooperation. Es gibt viele Schnittstellen.

Du hast ein Seminar über Musikstädte erwähnt. Was macht denn eine Stadt zur Musikstadt?

SH: Also es gibt tatsächlich ja diesen offiziellen Titel UNESCO City of Music (UCOM). Es gibt heute über 70 Städte weltweit, die diesen Titel tragen. Es gibt aber noch weit mehr Städte, die sich als Musikstadt bezeichnen, ohne den Titel zu tragen. Da scheint es mir auf den Moment anzukommen, in dem man erkennt, dass Musik aus ganz vielen Perspektiven für die Entwicklung einer Stadt und für das Leben in einer Stadt eine große Rolle spielt … und darauf, dass man dann auch politisch so priorisiert.

Welche Rolle spielt denn die Musik eures Erachtens für eine Gesellschaft? Ist das einfach nur Entertainment oder just for fun …

SH: Es ist nicht nur Entertainment – wobei es gerade in diesen Zeiten auch wichtig ist, dass man auch Räume hat, in denen man dem Tagesgeschehen entfliehen kann, einfach Gemeinschaft erleben und neue Energie tanken kann. Das kann Musik. Gleichzeitig kann Musik aber auch den Raum aufmachen, über aktuelle Frage zu reflektieren und sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen.

In jedem Fall spielt Musik eine wichtige Rolle für Zusammenhalt und Zusammenkommen der Menschen. Wer Musik macht, lernt aufeinander zu hören, sich zu artikulieren, die eigene Stimme zu finden: eben Demokratie-Kompetenzen. Das sehe ich auch als auch Dozentin am Center for World Music in Hildesheim: Da kommen Menschen aus der ganzen Welt zusammen. Die kennen sich nicht, Musik ist der gemeinsame Nenner. Ob das gesellschaftlich so gesehen wird, ist eine andere Frage. Ich glaube, dieser Wert ist vielen Menschen kaum bewusst. Das ist etwas, woran wir mit all unseren Initiativen auch arbeiten: sichtbar zu machen, wie Musik Menschen zusammenbringen kann.

AB: Wir hatten vorhin ein Meeting in der Rampe, da habe ich jeden gefragt: Wofür ist Kultur gut? Das ist nicht so einfach zu beantworten …

SH: Ja, aber wenn sie nicht mehr da wäre, würden das alle merken.

AB: Ja. Und es gibt ja ein Bedürfnis. Es geht um das Zauberwort „Gemeinschaft“. Es gibt Studien: Wenn ein Mensch sein Leben als verbunden erlebt hat, dann hatte er mehr das Gefühl, ein erfülltes Leben zu führen.

SH: Jeder, der in einem Chor gesungen hat oder einfach auf einem Konzert in der Masse singt, kennt dieses Gefühl, wenn Stimmen zusammen klingen. Das ist eine sehr besondere Erfahrung von Gemeinschaft.

AB: Das ist entzückend menschlich. Und das fehlt: die Verbindung, sich verbunden fühlen mit was auch immer …Musik ist halt schon besonders: Kunst in der Zeit. Beim Musikmachen passiert etwas jetzt und ist dann weg. Gerade die Improvisation zeigt das. Sina hat es schon gesagt: Da stecken viele tolle Qualitäten drin, Zuhören, Reagieren … Viele Leute erzählen ja, dass Musik mit ihnen was gemacht hat: Neben dem Akustischen geht es irgendwie in die Seele rein.

Wirkung ist ja im Guten wie im Schlechten verwendbar. Weidel bringt sich beim Fotoshooting mit Musik in Stimmung, auf Sylt eignen sich Rechte Musikstücke an … Steht Musik so sehr für Demokratie ein oder kann das auch einfach von innen her zerbröseln, wenn sie durchsetzt wird von Leuten, die daran gar kein Interesse haben?

AB: Von den Menschen ist schon alles im Schlimmen benutzt worden. Das ist leider so eine „schlechte Qualität“ der Menschheit. Irgendwas ist immer zu missbrauchen für andere Zwecke …

SH: Natürlich gibt es diese Gefahr. Wir hatten neulich erst einen Workshop, in dem es darum ging, wie ich beim Booking recherchiere, welche Bands rechte Strömungen vertreten. Aber wenn man es sich historisch anguckt, ist Kultur, ist insbesondere Musik besonders häufig Teil von positiver Veränderung. Und man kann aktuell in Deutschland sehen, auch in den USA, dass es häufig kulturelle Akteure sind, die als erste – auf ihre Art und Weise – protestieren bzw. für Demokratie und Vielfalt einstehen. Es gibt immer Menschen, die Dinge auch im Negativen nutzen – aber ich glaube, die Stärke, die Musik hat, um Dinge positiv zu verändern, ist deutlich größer.

AB: Die Gefahr geht eigentlich, so finde ich, mehr von KI aus. Inzwischen ist auf der Musikebene KI so perfekt, dass man irgendwann nicht mehr unterscheiden kann, ob das von Menschen gemacht ist oder nicht. Und dann ist diese Frage irgendwann egal, dann wird da irgendwas rausgehauen und es ist völlig beliebig. Es bleibt also noch das unmittelbare Musizieren miteinander. Das ist eine Qualität, auf die man setzen muss.

Wie sieht deine Einschätzung dieser Entwicklung aus?

SH: Die Technologie entwickelt sich schneller als rechtliche Rahmenbedingungen. Da müssen wir uns gesamtgesellschaftlich und politisch so aufstellen, dass es solche Rahmenbedingungen zur KI-Nutzung gibt: In welchem Zusammenhang steht KI mit Urheberrechten? Da muss man schon hinschauen. Auf der anderen Seite muss man sich auch fragen: Ab wann fängt KI eigentlich an? Musikproduktion basiert ganz viel auf KI-basierten Technologien. Man kann also auch künstlerisch mit KI spielen. Ich glaube, es hat zwei Seiten, denn ich merke ja auch in der in der täglichen Arbeit, dass KI in Teilen eine extreme Hilfestellung ist.

AB: Den Unterschied macht der Mensch: Live ist die Antwort auf KI. Natürlich kann man auch über Produktionen noch probieren, mit Musik, sage ich mal, Geld zu verdienen. Aber das ist heute für Musiker*innen schwieriger denn je. Und jetzt wird es mit KI noch schwieriger. Also setze ich auf „Live“. Da spielen echte Menschen, die gerade in dem Moment Musik machen. Das gilt es nach vorne zu bringen.

Du hattest KI als die eigentliche Gefahr erwähnt. Man hätte da jetzt auch die Kulturkürzungen erwarten können … Wie seht ihr die?

AB: Ach, es ist immer das gleiche Spiel. Es ist zu wenig Geld da. Dann geht man zu den entsprechenden Behörden und Institutionen und kriegt einen sehr wohlwollenden Gesichtsausdruck und den Hinweis: „Ja, wir verstehen das. Das ist ja auch echt toll, was ihr macht. Aber leider ist nicht mehr Geld da.“ Was will man da machen? Dann ist das eine, zu sagen: „Ja, ich mobilisiere politische Kräfte.“ Da ist ja auch Sina immer dabei, Allianzen zu schmieden und mehr Druck auszuüben auf die Kulturpolitik. Aber es dauert meist unfassbar lange, bis dann – vielleicht – etwas passiert. Kann man also anders wirksam werden, ohne die aus der Verantwortung zu nehmen? Etwa aus einem Verbund von Leuten aus Hannover, den ganz normalen Bürgern, die für die Kultur investieren und „Das ist es mir wert“ sagen. Eine Kulturlotterie oder Kulturfonds gründen. Geld ist im Prinzip da.

Hilft der UCOM-Status, um zu argumentieren, dass man mehr Budget erzielen will?

AB: UCOM hatte nie etwas mit Geld zu tun. Das war einfach nur ein Titel, der verliehen wurde. Der Rest war dann Sache von Hannover. Dieses Label aufzufüllen mit irgendwas. Man könnte es natürlich mehr nutzen, finde ich auch. Aber die Frage ist immer: Wer gibt Geld? Wer unterstützt – nicht nur mit Geld, sondern in irgendeiner Form? Es endete immer bei dieser Frage: Wer fühlt sich dafür verantwortlich und übernimmt Verantwortung? Und da gilt es zu schauen und ein Bündnis zu bilden, von ganz verschiedenen Institutionen in Hannover bis hin zu den gängigen Firmen – was die Kulturstadt jetzt auch schon vorhat.

SH: Ob der UCOM-Titel der hilft: Ich glaube, das ist genau das, was jetzt gerade mit dem Jubiläum versucht wird, das ja u. a. mit dem Musik Kiosk sehr präsent ist. Nicht ohne Grund lautet das Motto „Gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Musik“: Man versucht deutlich zu machen, welche Relevanz Musik für eine Stadtgesellschaft hat. Die Stadt plant ja, das Thema weiterzuentwickeln, um diesen Titel dann wieder mit mehr Geld unterfüttern zu können. Man muss das Thema halt erst einmal politisch bespielen – dann kann dieser Titel perspektivisch schon auch ein Hebel sein. Je nachdem, wie Politik am Ende priorisiert. Da sind wir gerade in einer schwierigen Situation. Es wurde schon immer gesagt, dass es kein Geld gibt. Gerade scheint die Situation aber besonders schwierig zu sein. Eine Möglichkeit, damit umzugehen, ist, wie Andreas sagte, irgendwie zu gucken, dass wir andere Allianzen und Wege finden, Mittel für Kultur zu akquirieren – und zu derdeutlichen, wofür Kultur relevant ist. Ich würde aber immer sagen: Man darf trotzdem die politische Ebene nicht aus der Pflicht nehmen.

Was unterscheidet eine Hannover von von anderen Städten?

SH: Also aus so einer Innenperspektive der Musikszene in Hannover würde ich betonen, dass Hannover musikalisch irgendwie Raum für alle bietet. Es gibt für alles irgendwie so eine Nische und das zeichnet Hannover aus. Und Hannover hat im Gegensatz zu Berlin oder Hamburg sehr kurze Wege. Also wenn man einmal drin ist in dieser Szene, dann lernt man sehr schnell viele andere Leute kennen und begegnet sich immer wieder. Und gerade erlebe ich, dass immer mehr Verbindungen entstehen, auch über Genres hinweg, weil viele Menschen besorgniserregenden Kulturkürzungen irgendwie entgegentreten wollen. Das kann nicht jeder für sich machen.

AB: Da kann ich absolut beipflichten. Hannover ist gefühlt sehr familiär, sehr unterstützend, wenig Konkurrenz oder Neid … Und Hannover hat ja zum Teil den Titel bekommen, weil eine Studie zeigte, dass prozentual die meisten Leute von Musik leben. Ich weiß aber nicht, ob auch die Musikindustrie einbezogen wurde …

SH: Hannover hat natürlich musikwirtschaftsmäßig gesehen tatsächlich eine spannende Vergangenheit

AB: Alle Audio-Erfindungen wurden in Hannover gemacht oder umgesetzt. Hannover wird da immer unterschätzt …

Der Schallplattenspieler …?

SH: Das MP3 auch …

AB: Die ersten CDs wurden auch hier in Langenhagen gefertigt.

Noch ein Abschlusswort?

SH: Auf Konzerte gehen …?

AB: Ja. Lokal Leute unterstützen, Neues ausprobieren, gucken, wer in Hannover unterwegs ist, und die noch mehr nach vorne bringen … Denn es gibt jede Menge tolle Leute in Hannover; eine grandiose Vielfalt von Musik! CK

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Der Freundeskreis im Gespräch

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Der Freundeskreis im Gespräch



Im Theater „die hinterbuehne“ treffen an diesem Abend Thommi Baake, Cody Stone, Maria vom ZauberSalon und Julia und Christina vom Verein Flunderboll e.V. aufeinander. Sie alle eint das Leben im Theater und die Liebe zur Bühne – vor allem zur hinterbuehne.

Stellt euch alle einmal vor – wer seid ihr und was macht ihr so?

die hinterbuehne: Wir sind Julia und Christina. Wir sind Teil der hinterbuehne auf der Hildesheimer Straße – ein Veranstaltungsort für regionale und überregionale kleinere Theaterbesetzungen, Comedy, Zauberei. Alles, was auf die Bühne möchte, kann sich hier bei uns versuchen. Getragen wird das Ganze von dem von uns personenidentisch geführten Verein Flunderboll e. V. 2005 haben wir uns entschlossen ein eigenes Haus zu gründen und 2006 haben wir das Ganze fertiggestellt. Früher war das hier eine alte Lichtpausfabrik, die wir umgebaut haben …

Tommi Baake: … Die ihr selbst umgebaut habt …

HB: … die wir selbst komplett in Eigenarbeit umgebaut haben. Zu einer Bühne, die komplett unabhängig und frei ist. Wir nehmen keinerlei öffentliche Gelder in Anspruch und alle Arbeiten werden ehrenamtlich übernommen. Nur die Künstler bekommen eine Gage. Deswegen sind wir auch immer darauf angewiesen, dass sich neue Leute für uns interessieren und Lust haben, Hand anzulegen – was auch immer im Verlauf daraus wird. Das Ganze läuft sehr auf einer Vertrauens- und freundschaftlichen Basis. Wir sind ein 85-Plätze-Theater und in der Theatersaison finden bei uns 2-3 Vorstellungen in der Woche statt, es können auch mal vier sein. Wir haben hier komplett wechselnde Programme und bewährte Darsteller. Wir freuen uns über die gute Zusammenarbeit, gerade mit denen, die uns schon jahrelang begleiten – wie Cody mit seiner Zaubershow, Thommi und der ZauberSalon im Zwo, unserer zweiten Bühne.

Cody Stone: Mein Name ist Cody Stone und ich bin Zauberkünstler. Die hinterbuehne ist quasi mein zweites Zuhause. Schon seit 2005 bin ich mit Flunderboll verbunden. Bei der Eröffnungsshow 2006 bin ich auch gleich dabei gewesen. Und dann ging das so weiter. Inzwischen habe ich hier sogar mein eigenes Lager, um Requisiten parken zu können.

HB: „Stonehenge.“ (Lacht.)

CS: Genau. Hier habe ich über die Jahre hinweg immer wieder diverse Shows präsentiert. Seit 2021 präsentiere ich hier meine monatliche Show immer donnerstags, und seit 2024 donnerstags und freitags. Mein zweites Zuhause, denn wenn ich nicht gerade eine Show präsentiere, dann bin ich hier am Proben. Ich bin hier wirklich ständig, alle paar Tage. Ich fühle mich hier einfach sehr wohl – das höre ich auch immer von meinen Zuschauern: was das für eine schöne Atmosphäre hier sei, wie familiär und gemütlich es sei. Man merkt von vorne bis hinten, wie liebevoll das hier alles gestaltet ist. Man hat mir in den letzten Jahren hier so viel anvertraut, ich habe einen eigenen Schlüssel und darf hier immer rein. Das ist echt großartig, als Künstler sowas zu haben. Also das ist fast wie ein Sechser im Lotto. Die hinterbuehne ist bei mir im Leben ein sehr wesentlicher Anlaufpunkt, neben meinem Zuhause.

Maria vom ZauberSalon: Ich bin Maria, eine von drei Orga-Personen aus dem ZauberSalon, der eigentlich nicht in der hinterbuehne stattfindet, sondern im Béi Chéz Heinz. Wir sind eine Ausprobierbühne für alle möglichen Zauberkünstler, von Hobby bis super professionell hat man da alles. Jeder darf gerne kommen und sich bei uns auf die Bühne stellen.Und wir haben ebeneine Kooperation mit der hinterbuehne seit 2016 und machen dort die Close-Up-Lounge im Zwo, die Heiko Wiese hier eröffnet hat. Das ist ein ganz kleines Theater, 25-30 Plätze – man sitzt also ganz nah am Zauberkünstler und kann dem die ganze Zeit auf die Finger gucken. Die Art Theater gibt es – ich habe mir das hoffentlich richtig gemerkt – nur acht Mal in Deutschland. Es ist sehr, sehr selten. Im Zwo findet das einmal im Monat statt. Und auch bei uns läuft alles ehrenamtlich, nur die Zauberkünstler in der Close-Up-Lounge erhalten eine Gage.

TB: Ichbin Thommi Baake und auch einmal im Monat hier mit der„Super 8 Show.“ Dafür habe ich zwei alte Projektoren, die ich hier auch abstellen darf – aber zu einem eigenen Schlüssel hat es nicht gereicht (lacht). Mit zwei alten Projektoren zeige ich fünf Kurzfilme auf altem Filmmaterial – skurril, trashig, schön, aus den 50er- bis 70er-Jahren. Dazu mache ich Kleinkunst. Also sprich, ich schreibe intellektuelle Filmkritiken zu Filmen, die heißen: „Udo bekommt einen neuen Anorak“ oder singe Beatles auf Niederländisch zu Beatles-Filmen. Diese Show mache ich seit 2001 mit bundesweit 340 Vorstellungen. Ich habe wirklich viele Theater durch – Haus der Jugend, Theater in der List, das Künstlerhaus. Die anderen Orte waren auch sehr schön, allerdings ist es hier wie ein zweites Zuhause. Nun wohne ich ja in der Südstadt und kann fast hierher laufen. Würde ich nicht als Künstler so unheimlich viel damit zu tun haben, zu überleben, dann würde ich hier wahrscheinlich auch ehrenamtlich arbeiten. Es ist ein wunderschöner Ort. Die Leute, die hier schon mal waren, kommen im Durchschnitt auch wieder, weil das einfach so ein warmer, schöner Ort ist.

Cody, wie kommt man denn auf die Idee, mit dem Zaubern Geld zu verdienen?

CS: Am Anfang war es nicht das Geld verdienen als solches, sondern einfach, dass aus meinem Hobby eine Leidenschaft wurde. Ich habe angefangen mit dem Zauberkasten, den ich zu Weihnachten bekommen habe, da war ich sechs Jahre alt. Dann habe ich die ganzen großen Magier im Fernsehen gesehen – Siegfried und Roy, David Copperfield und so weiter, die in Las Vegas und sonst wo aufgetreten sind. Ich erfülle mir jetzt mehr und mehr diese ganzen Träume, die dieser Junge, der Sechsjährige, hatte, weil er die großen Magier gesehen hat. Der sich sagte: Okay, sowas will ich auch mal machen. Das war dann auch immer das große Thema zwischen meinen Eltern und mir. Die Eltern, die sagen, du sollst erstmal was Vernünftiges lernen. Und dann der kleine Bub, der Zauberkünstler werden will. Ich wollte schon immer einen Beruf, der mir Spaß macht. Das Schöne ist einfach, wenn man dann damit auch noch Geld verdienen kann. Das ist natürlich großartig. Ich kann mir nichts anderes vorstellen.

Zauberei spielt ja auch bei dir, Maria, eine große Rolle. Wie bist du zum ZauberSalon gekommen?

MZS: Ich bin selber hobbymäßig Zauberkünstlerin. Ich habe nicht mit sechs, sondern irgendwie mit Ende zwanzig damit angefangen. Als ich 2012 nach Hannover gezogen bin, bin ich durch einen Zufall tatsächlich direkt zum ZauberSalon gekommen. Mich hat jemand mitgenommen, der meinte: Du zauberst doch selber, hier gibt es so eine coole Veranstaltung. Lustigerweise stand ich doof am Tresen rum und Heiko Wiese, der Gründer vom ZauberSalon hat mich angesprochen: Mensch, ich habe dich noch gar nicht hier gesehen, zauberst du eigentlich auch? Dann hat sich das sehr schnell ergeben, dass Heiko mich zum Ortszirkel vom Magischen Zirkel von Deutschland mitgenommen hat. So war ich dann in der Zauberszene. Als Heiko vor zwei Jahren meinte, er möchte nur noch die Close-Up-Lounge machen und mit dem ZauberSalon aufhören, habe ich gesagt: Das geht nicht! Das ist meine Stammbühne. Dann habe ich zum Glück noch zwei Mitstreiter*innen gefunden, die gar nichts mit Zauberei am Hut haben. Seitdem übernehmen wir das zu Dritt. Vorletztes Jahr im Oktober konnten wir im Béi Chéz Heinz den ZauberSalon nicht machen und dann haben wir mit Utz gesprochen und der hat uns ermöglicht, die Show hier auf der Bühne zu veranstalten. Oder in Corona haben wir hier Shows aufgezeichnet. Von daher ist Utz ein wichtiger Name, weil er eigentlich immer der Ansprechpartner ist.

HB: Im organisatorischen Zentrum, der Künstlerauswahl, die Kulissen, das Licht – Utz Rathmann ist hier ein Name, der fallen muss.

TB: Wir segnen ihn. Der Mann, der alles möglich macht.

HB: Das ist der, der den Laden hier zusammenhält. Wir sind heute nur hier, damit Utz endlich mal einen freien Abend hat.

Thommi, du hast mit der Zauberkunst erstmal nichts zu tun – nur in der Sesamstraße hast du einmal einen Zauberer gespielt – worin liegt der Zauber in deinen Shows?

TB: Ich habe mal ein Riesenkompliment bekommen von Wolfgang Grieger, der gesagt hat: Das Spiel mit dem Publikum, die Improvisation, hätte ich zur Perfektion getrieben. Und das ist das, was mich unter anderem ausmacht. Daneben spreche ich vier, fünf Dialekte, schlüpfe in verschiedene Rollen. Wenn keiner was reinruft, bin ich unglücklich. Das Spiel mit dem Publikum reizt mich total. Und das ist so über die Jahre entstanden. Ich gehe jetzt mal einen Schritt zurück: Ich war beim Wandervogel, der ältesten Jugendbewegung Deutschlands. Und da habe ich zum ersten Mal Theater gespielt. Dann wollte ich Schauspieler werden, habe mich zehnmal an der Schauspielschule beworben – und wurde zehnmal abgelehnt. Seitdem habe ich x Soloprogramme gespielt, habe mit anderen Leuten zusammengearbeitet – Thema ist immer Improvisation, Musik, Singen, Quiz, alles Mögliche. Es ist immer ganz vielfältig. Was mein größtes Pfund ist, ist auch meine größte Tragik. Ich mache alles bis auf Ballett und bildende Kunst. Ich bin aber nicht greifbar. Ich mache Walk-Acts, schreibe Kinderbücher, lese in Grundschulen, mache Theater, Comedy, Musik, Filme seit neustem. Es macht so einen Riesenspaß, so viel zu machen.

Euch alle eint dieser Ort, die hinterbuehne und das ZWO. Was ist das besondere an diesem Theater?

HB: Als sich die Athanasius Gemeinde veränderte – dort in der Kirche hatten wir vorher veranstaltet –, gingen wir mit dem Theater raus. Ich denke, es färbt bis heute auf die hinterbuehne ab, dass wir dann mit sieben, acht Leuten bei uns im Wohnzimmer gesessen haben und gesagt haben: Was machen wir denn jetzt? Weil wir eigentlich ein freies Theater waren und insofern aus der Rolle fielen, dass wir nicht die klassischen Stücke gespielt haben. Unsere Autor*innen leben noch alle. Es war unheimlich viel Kunst dabei, und die Leute gingen raus, waren immer etwas verwirrt, aber doch kulturell bereichert. Was können wir jetzt Blödsinniges machen? Das Blödsinnigste, das uns einfiel, war: Wir wissen zwar nicht, wie das geht, wir machen jetzt mal ein eigenes Haus! Das hier ist unser Baby, keine Konzeptgestalt, die irgendwo durchgeprüft wurde. Wir staunen immer noch, dass das geklappt hat und ich staune noch mehr, dass wir nächstes Jahr 20 mit der hinterbuehne werden. Wir möchten, dass dieses Staunen weitergeht – auch deswegen brauchen wir weiter Hilfe. Wir müssen uns, wenn man uns ansieht, verjüngen (lacht).

TB: Man fühlt, dass das hier wirklich eine Herzenssache ist. Ich trete jetzt seit 1988 bundesweit auf – was für Gurken ich schon erlebt habe. Keine Anlage, kein Licht, unfreundliche Typen. Aber hier: ich sag’ einfach nur mal das Wort „Wärme“. Die Wärme, das Menschliche. Gerade erlebe ich schon viele Oberflächlichkeiten. Und hier kommst du her, kriegst immer eine Umarmung, professionelle Technik. Alles super!

CS: Alles herzlich! Und das merkt man von vorneherein. Das hat einen ganz tollen Flair! Wie gesagt, das höre ich auch immer wieder von meinen Zuschauern: Wie gemütlich es hier einfach ist, wie ein zweites Wohnzimmer. Das macht sehr viel aus!

HB: Und die sensationellen Preise an der Bar …

TB: Tee ein Euro, hallo?

HB: Was wirnatürlich auch nur dadurch halten können, dass wir mit Ehrenamtlichen arbeiten.

MSZ: Aber genau das ist ja auch ein Wohlfühlfaktor! Dass Zuschauer keine 50 Euro für drei Getränke ausgeben müssen. Das macht einfach ein gutes Gefühl, wenn ich weiß, ich habe einen schönen Abend und habe noch drei Euro mehr im Portemonnaie. Hier geht es, gerade weil hier viel Ehrenamt dahintersteckt, immer um die Kunst. Es geht nicht darum, ganz viel Geld zu verdienen und sich daran zu bereichern, sondern eben darum, vielseitige, coole Kunst anzubieten.

HB: Außer den Künstlern verdient hier keiner was.

TB: Und wir müssen …

Maria: Ja, klar! Aber das macht es aus. Der Fokus liegt hier wirklich auf der Kunst und eben auch auf Kunstformen, die oft gar nicht so super präsent sind in der Gesellschaft. Und auch bei den Zuschauern liegt der Fokus nicht auf dem Geld. Klar, die wissen, dass die Künstler damit was verdienen und trotzdem habe ich das Gefühl, dass die Leute das nicht so empfinden, als wäre das hier ein steifer Opernabend. Die Zuschauer empfinde ich hier als deutlich lockerer als bei vielen anderen Bühnen, weil sich das natürlich überträgt.

HB: Die dürfen auch die Gläser mit reinnehmen. Und die Jacken. Ich denke schon, dass es diese Mischung ist. Es ist professionell, die Künstler sollen und müssen was verdienen. Aber den ganzen Rest, das wollen wir bereitstellen. Das ist einfach unser Ding. Das leisten wir uns.

MSZ: Ja, und das funktioniert nur, weil ihr daran Spaß habt.

Warum ist ein Ort wieder dieser, gerade aktuell, so wichtig?

CS: Heutzutage werden die Leute bombardiert mit negativen Nachrichten überall, ob Social Media, Fernsehen oder sonst wo. Da ist ein Ort gut, wo man die Menschen abholen und ablenken kann, damit die das andere auch mal ausblenden. Und wenn es dann auch noch so liebevoll ist … Ich merke das, wenn ich dann hier nach der Show stehe und die Leute mit einem so positiven Gefühl und Lächeln rausgehen – was will man denn mehr?

MZS: Auch, dass man zusammenkommt, das ist total wichtig. Wie viele Leute vereinsamen heute? Gerade im Zwo, weil das so klein ist, kommen die Leute super schnell ins Gespräch, quatschen in der Pause miteinander. Es ist ja auch ein Begegnungsort – und zwar nicht nur mit dem Künstler auf der Bühne, sondern auch die Zuschauer begegnen sich, die Leute am Tresen, man unterhält sich. Das hat durchaus einen Einfluss auf die Menschen, die vielleicht sonst nicht so viel Sozialleben haben. Das ist ganz wichtig: Dieses Eintauchen in eine komplett andere Welt, die Realität einmal ausblenden für zwei Stunden und einfach mal genießen – ohne an irgendwas anderes denken zu müssen.

Jule Merx

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