Ein letztes Wort im Juni

Ein letztes Wort

mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

 

Herr Weil, Sie sind gerade zurück vom Flüchtlingsgipfel. Was hat’s denn gebracht?

Einiges, aber nicht genug, deshalb müssen wir unbedingt weitermachen. Die Bundesregierung hat zugesagt, die Kommunen mit zusätzliche einer Milliarde Euro bei der Unterbringung von Geflüchteten zu unterstützen. Das war ein Zwischenerfolg, aber schon der war hart errungen. Ich bin trotzdem nicht unzufrieden, denn die Alternative wäre ein großer Eklat zwischen Bund und Ländern gewesen. Einen solchen Eklat aber sollten wir uns gerade bei dem Thema Zuwanderung wirklich ersparen. Im Kern gibt es dennoch nach wie vor einen deutlichen Dissens. Die Kommunen und wir Länder plädieren für ein atmendes System. Die Kommunen dürfen nicht davon abhängig sein, dass der Bund in jedem Jahr neu entscheidet, in welchem Umfang er bei der Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten hilft. Wir brauchen ein System, das sich an der Zahl der Menschen orientiert, die zu uns kommen. Wenn wenige kommen, muss der Bund entsprechend wenig zahlen, kommen viele, muss die Hilfe angepasst werden.

Was hat der Bund dagegen?

Erstens wird signalisiert, dass kein Geld da sei, und zweitens wird ins Feld geführt, dass der Bund schon viel Geld bezahle. Letzteres stimmt ausdrücklich, das gilt aber gleichermaßen für die Länder und die Kommunen selbst. Und zum ersten Punkt stellt immer die Frage, welche politischen Prioritäten gesetzt werden. Aus meiner Sicht sollte das Thema Geflüchtete sehr weit oben stehen, denn wir wissen alle, dass es dabei implizit auch um andere Fragen geht: um die Stabilität der Gesellschaft und am Ende um das Vertrauen in die Demokratie. Darum überzeugen mich die Argumente der Bundesregierung nicht und ich kann die Kritik aus den Kommunen inhaltlich gut verstehen.

Die Not scheint groß. Welche Probleme sind akut?

In Niedersachsen haben wir derzeit noch eine besondere Situation: wir haben im letzten Jahr mehr Geflüchtete aufgenommen als wir nach dem bundesweiten Verteilungsschlüssel hätten aufnehmen müssen. Das führt dazu, dass wir momentan bei uns eine kleine Verschnaufpause haben. Aber auch in Niedersachsen ist der Wohnungsmarkt in vielen Teilen des Landes angespannt. Dies ist übrigens ein erster deutlicher Unterschied zu 2015/2016: damals war der Wohnungsmarkt entspannt. Die Kommunen haben es also momentan sehr schwer, Unterkunftsmöglichkeiten zu finden. Punktuell sind Turnhallen belegt, das ist immer ein Gradmesser. Die Anmietung von Hotels ist derzeit noch selten notwendig, aber das hat auch mit der besagten Verschnaufpause zu tun. Im vergangenen Jahr war dies vielerorts notwendig. Unterm Strich sind bundesweit zahlreiche Kommunen überfordert. Die Berichte aus den anderen Länden sind teilweise noch besorgniserregender als die aus Niedersachsen.

Hätte man sich nicht schon vor Monaten ganz anders darauf einstellen müssen, dass viele Flüchtlinge aus der Ukraine kommen?

Aktuell (im Mai 2023) sind es nicht so sehr die Menschen aus der Ukraine, die uns Sorgen machen. Diese Zahl ist derzeit weitgehend stabil. Diese Geflüchteten haben bei uns einen gesicherten Rechtsstatus und es sind weniger gekommen, als man hätte annehmen können. Das ist ein Hinweis auf dem Mut und die bewundernswerte Entschlossenheit der Ukrainer, ihr Land zu verteidigen. Was gestiegen ist und weiter steigt, ist die Zahl der sonstigen Asylbewerberinnen und Asylbewerber aus allen möglichen Ländern. Wir verzeichnen bei den Anträgen momentan eine Steigerung von 80 bis 100 Prozent. Und die warmen Sommermonate mit potentiell hohen Zahlen kommen ja erst noch. Da kommt ein Problem auf uns zu, vor dem wir alle großen Respekt haben sollten. Und wir dürfen dieses Thema auch nicht kleinreden. Es ist eine große Herausforderung, unserem humanitären Anspruch gerecht zu werden, die Situation in den Kommunen und das gesellschaftliche und politische Klima im Land aber nicht zu überfordern.

Vielleicht können wir das mal insgesamt so ein bisschen aufdröseln. Wir brauchen einerseits eine gesteuerte und geordnete Zuwanderung, uns fehlen die Arbeitskräfte. Wir haben dazu die Flüchtlinge und die humanitäre Pflicht, Asyl zu gewähren. Und wir haben die illegale Zuwanderung. Wobei da größtenteils nicht Menschen kommen, die Böses im Schilde führen, sondern Menschen, die arbeiten wollen, die sich ein besseres Leben aufbauen wollen.

Ganz genau, es geht um drei Herausforderungen gleichzeitig, die in einem direkten Zusammenhang stehen. Das macht die Lage und die Diskussionen darüber unübersichtlich. Wir haben erstens eine humanitäre Verpflichtung gegenüber den Menschen, die dringend unseren Beistand und Schutz benötigen. Das sind zahlenmäßig neben den Ukrainerinnen und Ukrainern deutlich mehr als die Hälfte derjenigen, die bei uns Asyl beantragen. Insbesondere sind es Menschen aus Syrien, aus dem Iran und aus Afghanistan. Wir sollten uns alle gemeinsam anstrengen, dass die Aufnahmebereitschaft in Deutschland für politisch Verfolgte so zugewandt bleibt, wie sie in den letzten Jahren war und derzeit noch ist. Dies erfordert aber auch, dass wir illegale Zuwanderung möglichst unterbinden. Auch da aber kommen nicht Menschen, die Böses im Sinn haben, sondern Menschen, die sich eine Perspektive für sich und ihre Familien suchen. Aber wir haben bereits 2015/2016 die Erfahrung gemacht, dass Deutschland nicht stellvertretend ein europäisches Problem lösen kann. Wir können nicht allen Menschen eine Perspektive bieten, die sich das wünschen, und müssen die Aufnahmefähigkeit unserer Kommunen und die Stabilität unserer Gesellschaft im Auge behalten. Und darum ist es unerlässlich, dass wir so gut wie möglich die illegale Zuwanderung unterbinden. Und schließlich brauchen wir umgekehrt im Unterschied zu 2015/2016 zugleich mehr legale Zuwanderung. Bei uns fehlen Arbeitskräfte an allen Ecken und Kanten. Von der Bundesregierung haben wir einige wirklich gute Vorschläge gehört, um die Möglichkeiten legaler Zuwanderung auszuweiten. Das geht für mich in die richtige Richtung. Wenn wir keine legalen Alternativen bieten, dann werden sich viele Menschen in die Illegalität flüchten. Mit all den bekannten Problemen.

Das dauert nur und wird uns im Sommer jetzt nicht helfen …

Ja, das dauert. Und es wird nicht allein in Deutschland entschieden. Beim Grenzschutz etwa oder beim Thema Verteilung ist es eine  europäische Entscheidung. Leider sind sieben Jahre verstrichen, ohne dass sich in Europa in Sachen Flüchtlingspolitik Nennenswertes getan hätte. Aber vielleicht haben wir jetzt eine Chance, weil zum ersten Mal alle Beteiligten unter Druck stehen, auch die osteuropäischen Länder. Sie hatten sich vor sieben Jahren der Aufnahme von Flüchtlingen weitgehend verweigert. Wenn wir jetzt keine europäische Lösung hinbekommen, werden wir auch weiterhin nur an den Symptomen herumdoktern.

Ich habe im Moment eher die Wahrnehmung, die europäischen Länder überbieten sich darin, sich möglichst unattraktiv für Flüchtlinge zu machen, Stichwort „Schmuckgesetz“ in Dänemark. Möglichst viel Schikane und möglichst laut drüber reden, damit sich möglichst wenig Menschen auf den Weg machen … Angesichts dieses Tendenzen halte ich eine europäische Einigung für reichlich utopisch, ehrlich gesagt.

Ich habe trotzdem die Hoffnung, dass ganz am Ende die Notwendigkeit gesehen wird, nicht allein auf die nationalen Interessen zu blicken. Wir bekommen ja im Augenblick sehr klar vor Augen geführt, dass es Zeiten geben kann, in denen man auf die Hilfe anderer angewiesen ist.

Migrationspartnerschaften sollen jetzt dafür sorgen, dass Ausreisepflichtige in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können. Das ist mit vielen Ländern, und gerade mit jenen, aus denen die meisten Ausreisepflichtigen kommen, aber völlig utopisch.

Das stimmt für Afghanistan und Syrien oder für den Iran, aber mit einigen afrikanischen Staaten kann das durchaus funktionieren. Und ich halte das durchaus für einen klugen Ansatz: Diese Länder sollen helfen, die illegale Zuwanderung zu unterbinden, und wir öffnen uns im Gegenzug gleichzeitig für die Möglichkeit, dass Menschen von dort legal zu uns kommen. Diese Männer und Frauen können dann wiederum ihre Familien im Herkunftsland unterstützen. Es wäre gut, wenn wir versuchten, die unterschiedlichen Interessen zu berücksichtigen. Das fehlt bislang.

Rechtsstaatliche Asylverfahren an der Außengrenze der EU, was sagen Sie dazu …

Ich finde den Ansatz richtig, die Umsetzung ist gleichwohl schwierig.

Wenn ich mir ansehe, was an den Grenzen vor Ort geschieht, wie überfordert man dort teilweise schon jetzt ist, kann ich mir rechtsstaatliche Asylverfahren nur mit sehr viel Fantasie vorstellen.

Letztlich geht es darum, dafür zu sorgen, dass Menschen sich eben nicht mehr in die Schlauchboote setzen müssen. Sie haben ja recht, es gibt viele praktische Fragezeichen. Aber mir ist es wichtig, dass wir jetzt zunächst einmal eine gemeinsame Zielvorstellung entwickeln. Klar ist, dass sich Zustände wie beispielsweise im Flüchtlingslager Moria nicht wiederholen dürfen. Aber so wie es jetzt ist, kann es auch nicht bleiben. Das Sterben auf dem Mittelmeer ist doch unerträglich – wir müssen handeln.

Handeln wäre mal gut. Zumal wir schon wieder einen Wettbewerb der Populisten erleben. Und da meine ich nicht nur die AfD. Ich höre auch Fragwürdiges von ganz links. Und ich erlebe dazu eine CDU/CSU, die bewusst verkürzt, vermischt und polemisiert.

Und das war – um auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen – der Grund, warum ich beim Flüchtlingsgipfel mit aller Kraft versucht habe, einen Eklat zu vermeiden. Denn wer hätte sich am Ende darüber gefreut? Doch nur jene, die nicht wollen, dass Deutschland weiter offen bleibt für humanitäre Aufnahme. Und darum sollten alle, die Verantwortungsbewusstsein haben, jetzt mal verbal einen Gang runterschalten und sich besinnen. Leider erleben wir in Teilen der CDU/CSU momentan das Gegenteil. Da werde in unverantwortlicher Weise Ängste geschürt und das halte ich für einen Riesenfehler.
Interview: Lars Kompa

 

 


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