Tag Archive | "Stephan Weil. Interview"

Ein letztes Wort im Mai

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Ein letztes Wort im Mai


Moin Herr Weil, gut geschlafen?

Letzte Nacht sehr gut. Danke der Nachfrage.

Ich habe mir ja fast ein bisschen Sorgen gemacht. Mir haben Sie immer gesagt, dass Sie super schlafen.

Das war meine Antwort, wenn sie mich in besonderen Krisenzeiten gefragt haben, ob mir die aktuellen Probleme den Schlaf rauben. Das war zum Glück in der Regel nicht der Fall, aber Schlafprobleme gibt es leider auch außerhalb von Krisenzeiten. Hinzu kommt, dass ich mit Informationen zu meinem Privatleben – und dazu gehört ja auch der Schlaf – immer sehr sparsam umgegangen bin. Ich zähle sicher nicht zu den extrovertiertesten Menschen unter der Sonne.

Das stimmt allerdings, privat war immer kaum etwas zu holen bei Ihnen. Wann haben Sie den Gedanken, sich zurückzuziehen, zum ersten Mal gehabt?

In den Medien wurde ja schon eine Weile spekuliert. Ich habe dort öfter gelesen oder gehört, dass ich mir darüber vielleicht allmählich mal Gedanken machen sollte. Gedanken gemacht habe ich mir dann tatsächlich während des letzten Wahlkampfes. In den ersten Wochen dieses Jahres habe ich die viele Termine zum ersten Mal als besonders anstrengend empfunden. Ich war dann Ende Februar wirklich platt. Und da mir Wahlkämpfe sonst eigentlich immer viel Freude bereitet haben, war das schon ein auffälliger Unterschied zu früher. Und ich finde, man sollte dann auch ehrlich mit sich selbst sein und sich ernsthaft fragen, wie lange man eine wichtige Aufgabe mit einem solchen Aufwand noch gut machen kann. Anders gesagt: Ich bin gesund, aber ich möchte es auch gerne bleiben. Es gab aber noch einen weiteren Gedanken, der mich zu meiner Entscheidung geführt hat. Die politische Lage wird auf absehbare Zeit sehr herausfordernd bleiben – für die Gesellschaft, für unsere Demokratie und für unser Land. Und in einer solchen Lage sollten Menschen in verantwortlichen Positionen sein, die noch einen längeren Atem haben. Insofern war meine Entscheidung zum kleineren Teil auch politisch motiviert.

Friedrich Merz wird jetzt mit 69 Jahren Kanzler, Sie ziehen sich mit 66 Jahren aus der Politik zurück. Ich muss sagen, ich finde Ihre Idee viel besser als die von Friedrich Merz …

Ich habe mir vorgenommen, in nächster Zeit über Friedrich Merz nur noch Gutes zu sagen (lacht). Aber im Ernst, Menschen sind einfach unterschiedlich. Und für mich ist es jetzt an der Zeit, aufzuhören.

Wenn Sie mal zurückblicken, was ist Ihnen gelungen in den vergangenen Jahren?

Ich vermeide lieber diese großen Lebensbilanzen. Es gibt genug Leute, die das noch nach Pro und Contra aufdröseln werden. In meiner Rückschau auf diese zwölf Jahre ist besonders auffällig, dass wir seit 2015 leider eine Krise nach der anderen hatten. Inzwischen ist die Krise schon fast der Normalzustand. Alles in allem glaube ich, dass Niedersachsen vergleichsweise gut durch die schwierigen Zeiten hindurch gekommen ist. Was ich dagegen immer stärker als Problem empfunden habe, ist der Umstand, dass wir politisch nicht immer mit den Herausforderungen und den Veränderungen in der Gesellschaft Schritt halten können. Ein Beispiel ist der Bereich Bildung, in dem wir sehr viel getan haben und auch weiter tun müssen. Wir haben heute beispielsweise viel mehr Lehrerinnen und Lehrer unter Vertrag als jemals zuvor. Aber gleichzeitig stellen wir fest, dass in vielen Familien die Probleme größer geworden sind und viele Kinder und Jugendliche zuhause nicht mehr genug gefördert werden. Damit ist der Bedarf gestiegen, dass der Staat diesen Mangel kompensiert. Manchmal wachsen die Probleme schneller als die Möglichkeiten. Politik muss sich also noch mehr anstrengen und Gesellschaft muss mithelfen. Denn das ist und bleibt die Schlüsselfrage schlechthin: Wie statten wir die nächsten Generationen so aus, dass sie gut durchs Leben kommen?

Noch ein bisschen Rückblick: Was war als Ministerpräsident Ihre schwerste Entscheidung?

Ich habe am Anfang des ersten Corona-Lockdowns mal aus irgendeinem Grund auf der Hildesheimer Straße gestanden. Und auf der Straße war nichts und niemand. Kein Mensch, kein Fahrrad, kein Auto. Einfach nichts. Das war irgendwie ein Schock für mich und ich habe mich gefragt, was wir da jetzt eigentlich angerichtet haben. Gleichzeitig hatten wir aber es mit einem hochgefährlichen Erreger zu tun, gegen den es noch keinen Impfstoff gab. Und wir hatten aus sehr ernsthaften Gründen Angst davor, dass deswegen noch viele Menschen sterben würden und wir zu Verhältnissen kommen könnten, wie wir sie in Norditalien gesehen haben. Die politischen Entscheidungen in der Corona Zeit waren für die Bürgerinnen und Bürger schwer, aber eben auch für diejenigen, die diese Entscheidungen getroffen haben und die Folgen verantworten mussten.

Wir haben im Laufe der Zeit immer mal wieder darüber gesprochen, ob und wie so ein Politikerleben einen Menschen verändert. Wenn Sie heute den Stephan Weil treffen würden, der Sie mit Mitte 20 waren, was würde der an Ihnen kritisieren?

Er würde mich wahrscheinlich für aus seiner Sicht falsche Kompromisse kritisieren. Das ist ja das, was junge Menschen den Repräsentanten der älteren Generation immer vorwerfen. Nicht konsequent genug, zu kompromissbereit, nicht mutig genug. Ich war sicherlich in meinen 20er-Jahren deutlich direkter und ungeduldiger.

Auch linker?

Das weiß ich gar nicht. Ich denke, meine Grundüberzeugungen und Werte haben sich nicht wirklich verändert. Und Linkssein ist für mich in erster Linie eine Frage von Werten. Ich bin Anfang der 1980-Jahre in die SPD eingetreten, während viele meiner Freunde zu den noch sehr jungen Grünen gegangen sind. Ich war immer der Auffassung, dass es besser ist, Schritt für Schritt Fortschritte zu erreichen, als auf den einen großen Schritt zu warten. Das war damals bei den Grünen der Fall und ist im Zweifel fast immer das Kennzeichen der linken Alternativen zur SPD.

Sie würden also sagen, Ihr Kompass hat sich in den Jahren nicht verändert, Ihre Werte sind tatsächlich dieselben geblieben?

Ja, das würde ich schon so sagen. Aber die Welt hat sich gerade in den letzten Jahren stark verändert. Für mich war immer der Gedanke von Frieden und guten internationalen Beziehungen einer der allerwichtigsten. Willy Brandt hat zu Recht gesagt, dass Frieden nicht alles ist, aber dass ohne Frieden alles nichts ist. Und ich bin wirklich erschüttert, dass wir heute in einer Welt leben, in der auch für Europa Kriegsrisiken bestehen könnten. Noch vor wenigen Jahren hätten wir das für undenkbar gehalten. Heute müssen wir uns leider darauf einstellen und deswegen unterstütze ich auch massive Investitionen in die Bundeswehr.

Was sie zu den Werten, vielleicht auch den Idealen sagen, widerspricht ein bisschen dem, was Berufspolitikern gerne vorgeworfen wird. Nämlich, dass irgendwann nur noch der Pragmatismus herrscht, die Politik nach Interessen.

Man sollte Pragmatismus nicht mit einem Defizit an Werten und Idealen gleichsetzen. Ein Pragmatiker bin ich immer gewesen, genau das war damals auch die Grundlage meines Eintritts in die SPD. Dass sich Dinge abschleifen, dass man irgendwann bereit ist, etwas zu akzeptieren, was man vor 30 Jahren sicher nicht akzeptiert hätte, das ist leider so. Womit wir aber wieder beim Generationswechsel sind. Es ist gut, wenn sich Jüngere engagiert einbringen. Auf Kompromisse werden sie sich allerdings einrichten müssen.

Was sind denn Ihre Pläne für den Ruhestand? Ich meine, wenn Sie alle liegengebliebenen Bücher gelesen haben und ganz viel gewandert sind. Wird es dann ein Unruhestand?

Das wird ganz sicher ein Unruhestand. Meine Idee ist es nicht, immer bis 10 Uhr zu schlafen. Ich habe keinen Masterplan, aber der Gedanke, dass ich zu Hause Däumchen drehe, der ist mir fremd.

Freut sich eigentlich Ihre Frau auf Ihren Ruhestand? Für manche Ehen wird es dann ja noch einmal extrem brenzlig …

Meine Frau und ich sind jetzt seit 48 Jahren zusammen und wir hatten bislang noch nie eine Phase, in der wir beide keine dienstliche Pflichten hatten. Das gab es bisher nicht und wird eine neue Erfahrung sein. Aber wir sind finster entschlossen, auch diese Phase erfolgreich gemeinsam zu bewältigen. Ich kenne auch diese Statistiken, auf die Sie anspielen. Das ist die letzte große Klippe, die man nehmen muss. Aber wie gesagt, es wird eher ein Unruhestand. Alles andere würde meiner Frau wahrscheinlich auch Sorgen machen (lacht).

Wissen Sie eigentlich, wie viele Interviews, mit dem heutigen, bisher im Stadtkind zu lesen waren?

Da müsste ich mal rechnen. Es sind viele.

Wir sind 2009 gestartet, heute ist die Nummer 193.

Ehrlich? Fast nicht zu glauben. Dann bin ich wahrscheinlich ihr ältester Mitarbeiter und bekomme sicher demnächst mal eine Ehrennadel.

Ihr Ruhestand kommt ein paar Monate zu früh, ich hätte gerne noch die 200 rund gemacht.

Das liegt ja an Ihnen, wie viele Interviews Sie noch mit mir führen wollen. Mein publizistischer Nutzwert wird jetzt natürlich geringer (lacht).

Das lassen wir jetzt mal als Cliffhanger so stehen …

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Ein letztes Wort im April

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Ein letztes Wort im April


Herr Weil, Sie haben vor der Wahl immer gesagt, dass nach der Wahl die CDU sehr schnell über die Schuldenbremse und über Sondervermögen sprechen würde. Fast ein Prophet. Aber hätten Sie gedacht, dass es so schnell geht? Und was bleibt eigentlich übrig von der Glaubwürdigkeit der Politik? 

Naja, ein großer Prophet hat man dafür nicht sein müssen. Und was die Glaubwürdigkeit angeht – es wäre bestimmt besser und redlicher gewesen, schon vor der Wahl zu sagen, dass das kommen wird. Es gab zwar so ein paar vage Andeutungen von Friedrich Merz, aber der öffentliche Eindruck war ein anderer. Dass über mehr Geld gesprochen werden musste, das ergab sich schon zwingend aus dem Thema Sicherheit. Und der Investitionsbedarf geht ja in der Tat noch viel weiter. Insofern ist das bei der CDU sicher eine Kehrtwende. Aber das ist immer noch besser als aus bloßer Sturheit eine falsche Haltung durchzuziehen und damit großen Schaden anzurichten. Insofern ist für mich das Ergebnis entscheidend. 

Über Christian Lindner müssen wir ja jetzt nicht mehr unbedingt reden …

Ja, es gibt auch den einen oder anderen Lichtblick nach dieser Wahl.

Sprechen wir über die Sicherheit. Mit Trump haben sich offensichtlich alle alten Gewissheiten erledigt. Was mich wundert ist nur, dass drüber viele überrascht waren und es noch sind. 

Dass es in den USA so schnell und so extrem kommen würde, wie es sich momentan abzeichnet, damit haben wohl nur die größten Pessimisten gerechnet. Und es ist bei uns noch immer nicht ganz durchgedrungen, dass sich dort auch innenpolitisch und gesellschaftlich ein tiefgreifender Wandel vollzieht. Ich hatte gerade ein Gespräch mit Wissenschaftlern, die mir berichtet haben, dass momentan zahlreiche Webseiten von Hochschulen und Instituten abgeschaltet werden. In vielen Hochschulen und Instituten geht die nackte Angst um, ob man seinen Job behält. In den USA wird gerade die Wissenschaftsfreiheit zu Grabe getragen. Das sind wirklich verheerende Zeichen für die gesamte Entwicklung. Wir sehen große Veränderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik, die auch uns betreffen, aber die USA wandeln sich auch im Inneren ganz massiv. Das ist nicht weniger beunruhigend. 

Wenn ich mir ansehe, was Trump und Musk dort anrichten, dann gehe ich davon aus, dass sich Amerika unterm Strich ganz immens selbst schadet.

Ja, und es ist ein unverhohlener Angriff auf die Demokratie. Es ist der Versuch, sie durch irgendeine Form von Autokratie zu ersetzen. Und ich frage mich, warum man so wenig Protest sieht von der ansonsten so aktiven und auch starken Zivilgesellschaft in den USA.

Viele Menschen haben wahrscheinlich einfach Angst.

Ganz sicher haben sie das. Und Angst ist auch ein wichtiges Stichwort. Denn wir dürfen in Deutschland und Europa jetzt auf keinen Fall in Angst erstarren. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, was dort passiert und in Europa die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Das geschieht gerade auch bei uns in Deutschland – Sicherheitsmaßnahmen sind künftig weitgehend von der Schuldenbremse ausgenommen. Das ist sehr weitreichend, aber absolut notwendig. Wir werden uns selbst um unsere Sicherheit kümmern müssen und dafür müssen wir leider auch viel Geld in die Hand nehmen.  

Aber kommt diese Erkenntnis nicht reichlich spät?

Sie kommt viel zu spät, darum muss man auch nicht groß herumreden. Bei der Bundeswehr ist viele Jahre lang am falschen Ende gespart worden und jetzt müssen wir das schleunigst aufholen. Wir haben uns bereits vor dem 24. Februar 2022 eine Sicherheit vorgegaukelt, die nicht realistisch war. Das kann man überhaupt nicht bemänteln.

Nach dem 24. Februar gab es immerhin das erste Sondervermögen.

Es gab die Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz und 100 Milliarden Euro. Aber es war klar, dass das noch längst nicht ausreichen würde. Jetzt machen wir den nächsten entschiedenen Schritt. Das ist leider notwendig. Und mir fällt es wirklich nicht leicht, das festzustellen. Ich komme aus der Friedensbewegung und wir hätten uns vor 50 Jahren alles andere vorstellen können, aber nicht das. Aber die Zeiten haben sich grundlegend geändert und es ist höchste Zeit, das zu akzeptieren und darauf klar zu reagieren. 

Man hätte die Augen bereits spätestens nach der Annexion der Krim aufmachen müssen, oder?

Ich sagte ja, wir haben uns definitiv alle viel zu lange in Sicherheit gewogen. Viele sagen heute, dass wir spätestens nach der Annexion der Krim hätten wissen müssen, in welche Richtung Putin geht. Das mag sein, aber ich gebe zu bedenken, dass die Bereitschaft in der Bevölkerung, so einen Kurs zu unterstützen und die Bundeswehr konsequent zu ertüchtigen, damals wahrscheinlich sehr begrenzt gewesen wäre. Es bedurfte vielleicht eines Schocks wie dem 24. Februar 2022. 

Eine Erkenntnis aus all den Entwicklungen der vergangenen Jahre ist für mich, dass wir mehr Europa brauchen und nicht weniges Europa. Da ist aber viel zu wenig passiert. Orban ist zum Beispiel noch immer ein Faktor. 

Europa ist die eigentliche Antwort auf Trump und Putin. In der EU tut sich auch schon eine Menge; es ist deutlich erkennbar, dass Europa nun enger zusammenrückt. Es gibt doch eine unübersehbare Absetzbewegung von Trump mit Blick auf Europa und die NATO. Was daraus folgen muss, ist allen klar. Die EU schließt die Reihen, mit Orban oder ohne. Und ich freue mich, dass auch Großbritannien sich wieder sehr deutlich nach Europa orientiert.

Was mich vor allem erschrocken hat in den letzten Wochen nach Trumps Start, das ist diese völlige Abwesenheit von Moral. Die sogenannten westlichen Werte sind plötzlich Geschichte.

Den Eindruck habe ich auch und es ist leider gar kein Wunder, dass Trump und Putin offensichtlich ganz gut miteinander auskommen. Sie haben einen ähnlichen Wertekanon und der heißt: „Keine Werte.“ Wir sollten mit Europa sehr fest auf der anderen Seite stehen. Und Europa sollte sich auch nicht kleinmachen. Wir haben nach China und Indien den größten Markt der Welt, größer als die Vereinigten Staaten. Wenn Europa sich einig ist, dann ist Europa sehr stark. Wenn Europa sich aber umgekehrt spalten lässt, dann ist Europa schwach – und damit letztlich auch dem internationalen Ganoventum ausgeliefert.

Das trifft es wahrscheinlich ganz gut. Man reibt sich die Augen. Ich habe inzwischen immer schon Angst, überhaupt noch die Nachrichten einzuschalten. Geht es Ihnen da ähnlich?

Spaß macht das jedenfalls meistens nicht, das geht mir auch so. Und die neuen Nachrichten aus Amerika entstehen typischerweise, wenn wir gerade selig schlafen. Da wird jedes Aufstehen zum Abenteuer. Aber das istauch Teil der Strategie: Man versucht, permanent neue Nachrichten zu produzieren, um Reaktionen auf die davorliegenden gar nicht mehr zuzulassen. Das ist alles kein Zufall.

Kann dieses Chaos denn noch lange gutgehen in den USA? Dieses ständige Hin und Her richtet ja bereits auch in der amerikanischen Wirtschaft immensen Schaden an.

Man darf leider die Professionalität bei diesem Chaos nicht unterschätzen. Wir haben es mit ausgesprochenen Glaubenskriegern zu tun, intelligent, mit entsprechenden Netzwerken ausgestattet und finanziell mit unfassbaren Möglichkeiten. Das wird die amerikanische Gesellschaft deutlich zurückwerfen. Aber der Schaden wird auch von Woche zu Woche deutlicher – die Aktienkurse sind massiv zurückgegangen und Trump selbst mag eine Rezession in den USA nicht ausschließen. Wenn die amerikanische Gesellschaft schon nicht auf eine antidemokratische Politik reagiert, dann vielleicht ja auf wirtschaftliche Probleme. 

Was haben Sie gedacht, als Sie die Pressekonferenz mit Selenskyj gesehen haben?

Ich habe das zuerst gar nicht glauben können. Diese Form der inszenierten Demütigung war schwer zu ertragen. Aber immerhin dürften nun auch die letzten europäischen Länder erkannt haben, dass wir uns massiv um unsere eigene Sicherheit kümmern müssen. In Deutschland passiert das ja jetzt auch.

Konnten Sie den Unmut der Grünen bei den Verhandlungen über die Finanzpakete verstehen? Zumal Söder ja am Aschmittwoch noch nachgetreten hatte?

Ja, natürlich. Auf der einen Seite hat man sie in den vergangenen Monaten permanent beschimpft, teils sehr persönlich, und auf der anderen Seite sollten sie auf einmal mitspielen, zum Wohle des Landes. Das war schon eine gewisse Zumutung. Aber es ist gut, dass die Grünen trotzdem bei den Grundgesetzänderungen dabei sind. Sie werden ihrer Verantwortung gerecht und das ist gut für die Demokratie.

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Ein letztes Wort im März

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Ein letztes Wort im März


Herr Weil, wir haben zum Zeitpunkt unseres Gesprächs noch zwei Wochen bis zur Wahl. Was uns über diese Wahl hinaus ganz sicher weiter beschäftigen wird, ist der Umgang mit der AfD. Ist die Brandmauer jetzt Geschichte, nachdem die CDU/CSU die Stimmen der AfD im Bundestag in Kauf genommen hat?

Friedrich Merz hat den Begriff der Brandmauer in der Vergangenheit immer wieder gerne genutzt, auch schon zu seinem Amtsantritt als CDU-Parteichef. Insofern war es völlig unerwartet, dass ausgerechnet er dann diesen Weg verlassen hat. Und sogar davon spricht, dass der Union dieser Begriff immer nur von außen aufgenötigt worden sei …

Der eingeschlagene Weg war, laut Friedrich Merz, eine Reaktion auf Aschaffenburg …

Wir sind alle entsetzt über diese furchtbare Tat und über alle weiteren vergleichbaren Taten. Es wird gesagt, dass Herr Merz diesen Weg unter dem Eindruck des Verbrechens in Aschaffenburg gegangen sei. Aber Aschaffenburg wäre durch alles das, was er dann vorgeschlagen hat, nicht verhindert worden. Dauerhafte Grenzkontrollen verhindern doch keine Taten von Menschen, die schon längst in Deutschland sind. Wir müssen alles versuchen, was solche schrecklichen Taten verhindern kann. Dazu sind aber  ganz andere Maßnahmen viel mehr geeignet, beispielsweise die bessere Identifikation, Speicherung und vordringliche Abschiebung von Gefährdern. Darüber und über andere geeignetere Maßnahmen ist aber leider kaum gesprochen worden. Fest steht, dass Friedrich Merz mit seinem Vorgehen einen enormen Flurschaden unter den Demokraten angerichtet hat. Ich hätte das vorher nicht für möglich gehalten.

Was droht denn jetzt? Was wird in einigen Monaten passieren, wenn es zwischen der Union und einem demokratischen Koalitionspartner nicht funktioniert? Haben Sie noch das Vertrauen, dass es dann nicht doch zur Kehrtwende kommt? 

Ich hatte vor dieser Abstimmung im Bundestag ein Zusammenwirken von CDU und AfD nicht für möglich gehalten und ich möchte weiter daran glauben, dass diese Gefahr nicht besteht. Aber ich bin skeptischer geworden, daraus mache ich keinen Hehl. Das ist umso schlimmer, als wir gerade in den nächsten Jahren nach meiner Überzeugung unter den Demokraten eng zusammenstehen müssen. Es gibt kein Abonnement auf eine funktionierende liberale Demokratie. Die nächste Bundesregierung muss die kommenden vier Jahre nutzen, um Vertrauen zurückzugewinnen und viele anstehende Probleme zu lösen. Wir müssen zum Beispiel zuallererst schleunigst unsere Wirtschaft wieder flottbekommen. Schon das ist eine riesige Aufgabe, aber nicht die einzige.

Es wäre schön, wenn sich die Politik mal wieder um die echten Probleme kümmert. Allerdings sitzen mir noch die vergangenen Monate in den Knochen und da ging es kaum um Lösungen. Die Themen hat oft die AfD gesetzt. Was ist Ihre Erkenntnis aus den vergangenen Monaten?

Es gibt dazu ein passendes Zitat von George Bernard Shaw, das geht etwa so: „Ringe nie mit einem Schwein. Beide werden schmutzig, aber nur das Schwein mag es.“ Wenn man die Remigratons-Themen der AfD aufgreift, dann tut man nur der AfD einen Gefallen.  Letztlich war die gesamte Aktion von Friedrich Merz nach Aschaffenburg ein fundamentaler Fehler und hat nur Schaden angerichtet.

Ich hatte den Eindruck, dass noch ein paar mehr Parteien ihr Fähnchen in den Wind der AfD gehalten haben …

Ich verstehe absolut, dass die Taten von Aschaffenburg, Magdeburg und Solingen vielen Menschen tief unter die Haut gegangen sind. Und es gibt leider immer wieder auch im lokalen Umfeld Vorkommnisse, die für Verunsicherung sorgen. Innere Sicherheit ist ein wichtiges Thema und verdient eine sehr ernsthafte Diskussion. Was ich Friedrich Merz vorwerfe, ist, dass er nicht über Lösungen gesprochen hat, die Aschaffenburg hätten verhindern können, sondern über etwas ganz anderes. Und er hat gar nicht erst versucht, unter Demokraten eine gemeinsame Position zu entwickeln. Er hat nur gesagt, dass man ja seinen Forderungen beipflichten könne. So kommt man nicht zusammen, sondern treibt auseinander. 

Solche Ereignisse werden benutzt, um den Menschen ganz grundsätzlich Angst zu machen. Und wenn alle darauf einsteigen, dann erzielt das Getöse genau diesen Effekt. Es wäre stattdessen gut, wenn sich alle mäßigen, oder?

Politik muss Probleme lösen, aber nicht den Leuten zusätzlich Angst machen, Wie gesagt, da knallen dann am Ende nur bei der AfD die Korken.

Wie schafft man es denn, die Debatte und die Gemüter jetzt zu beruhigen und spätestens nach der Wahl zurückzukehren zu einem sachlichen und rationalen Miteinander?

Die Versuchung, auf einer Welle der Betroffenheit und Angst zu surfen, ist gerade im Wahlkampf besonders groß. Aber es ist auch niemand gehindert, vor einer Rede, einem Posting oder einem Interview noch einmal das Gehirn einzuschalten. Das ist ein bisschen so wie beim Schach. Man muss sich immer die Folgen des nächsten Zugs vor Augen führen. Das ist auch die Aufgabe einer verantwortungsbewussten Politik. 

Wäre es jetzt nicht auch wichtig, Migration nicht nur ständig als Problem zu sehen, sondern wieder mehr als Teil der Lösung. Gerade als Reaktion auf den gegenwärtigen Trend. Da gibt es inzwischen eine verheerende Schieflage. Ich finde, das läuft kommunikativ völlig falsch.

Es ist absolut im Interesse Deutschlands, dass wir zu wirklich guten Formen von legaler Zuwanderung kommen. Es gibt viele Branchen, da würde es heute schon nicht funktionieren, gäbe es keine Zuwanderung. Und das wird sich mit dem zunehmenden demokratischen Wandel weiter verstärken. Die Suche nach Fachkräften ist in vielen Unternehmen quer durch alle Branchen und Regionen gelebter Alltag. Und ich gebe ihnen hier ebenfalls vollkommen Recht, wir müssen auch wieder die Erfolgsgeschichten unserer vielfältigen Gesellschaft erzählen. Die gibt es sehr, sehr zahlreich. Aber wir dürfen darüber nicht vergessen, uns auch um die andere Seite zu kümmern. Wir müssen alles tun, damit die Angst nicht eskaliert. Und das Sicherheitsgefühl ist leider nicht abhängig von Statistiken.

Brauchen wir nach den Wahl ein Commitment aller demokratischen Parteien, eine Rückkehr zur Sachlichkeit?

Unbedingt! Das ist ein Gebot der Verantwortung. Es muss gelingen, dass gerade beim Thema Migration nicht nur emotional, sondern rational und sachlich und im Rahmen unserer Rechtsordnung diskutiert wird. Es ist richtig, Verständnis und Empathie zu zeigen. Falsche Versprechungen aber helfen nicht. Wir müssen klar und ehrlich sagen, was geht und was nicht geht. Gute Politik muss sich auf eine realistische Zielerreichung konzentrieren, dann ist sie auch glaubwürdig. 

Das Ziel, die Demokratie zu stärken, durch gute Politik. Die Worte höre ich wohl …

Es gibt gute und schlechte Beispiele, aus beidem kann man lernen. Nehmen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien. Der muss unbedingt und mit Tempo weitergehen, aber er muss auch für die Betroffenen vor Ort mit Vorteilen verbunden sein. Seitdem das gemacht wird, ist die Akzeptanz für Windräder spürbar gewachsen. Ein schlechtes Beispiel war das Heizungsgesetz. Der erste, breit diskutierte Plan hat vielen Menschen Angst gemacht, weil sie befürchten mussten, mit ihrem kleinen Geldbeutel überfordert zu werden. Es gibt in der Fachdiskussion den Begriff des „unsanierten Pendlers“. Der lebt auf dem Land, wohnt in einem eigenen, noch nicht sanierten Haus, verdient nicht viel Geld, sein Arbeitsplatz ist etliche Kilometer entfernt und er fährt einen alten Verbrenner. Und ja, er hätte sein Haus sanieren, eine neue Heizung einbauen und irgendwann auch ein anderes Auto anschaffen müssen. Natürlich bekommt so jemand ein mulmiges Gefühlt, wenn von allen Seiten diese Erwartungen kommen, die für ihn aber einfach nicht erfüllbar sind. Wir müssen bei allem erforderlichen Tempo immer genau hinsehen und alle Maßnahmen sozialerträglich abfedern, sonst verspielen wir den Rückhalt in der Bevölkerung

Meinen Sie, die nächste Regierung schafft das? Ein kluge, pragmatische, aber sozial ausgewogene Politik?

Ich finde, das ist zwingend notwendig, wenn wir wieder die Demokratie in unserem Land stärken wollen. Zunächst mal brauchen wir wieder ein geschlossenes Auftreten innerhalb einer Regierung und keinen öffentlicher Streit. Dann muss man sich – wie gesagt – zuallererst auf die Wirtschaft konzentrieren. Wir brauchen eine Trendumkehr. Das wird nicht ohne öffentliches Geld gehen. Wir müssen die Versäumnisse der Vergangenheit beheben und wir werden investieren müssen. Bürokratieabbau ist ebenfalls ein Thema. Und ja, ganz viel Pragmatismus. Nicht alles zerreden, einfach mal ausprobieren, um zu sehen, wie es in der Praxis läuft. Denn nur das ist ja das, was am Ende zählt.

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Ein letztes Wort im Februar

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Ein letztes Wort im Februar


Herr Weil, wir sprechen Anfang Januar für unsere Februar-Ausgabe. Wenn das Interview erscheint, sind wir bereits in der Schlussphase des Wahlkampfs.

Wenn ich richtig rechne, sind es heute noch 48 Tage bis zu den Bundestagswahlen.

Wir haben schon vor Weihnachten festgestellt, dass es nicht einfach werden wird. Und die große Kehrtwende für die SPD ist bisher ausgeblieben …

Ja, ganz klar, es bleibt ein schwieriger Wahlkampf. Aber man könnte auch sagen, es bleibt spannend. Denn wir haben ja eine sehr große Dynamik in der Welt, da kann sich vieles schnell ändern – und auch Stimmungen können sich schnell drehen. Wir erleben Veränderungen in einem rasenden Tempo, wir werden beispielsweise, wenn das Stadtkind erscheint, schon ein paar Tage einen neuen amerikanischen Präsidenten haben. Mit entsprechenden Konsequenzen für unser Land. Das wiederum spricht dafür, hierzulande doch besser auf erfahrene Politiker zu setzen.

Trotzdem, auf das Konto der SPD oder von Olaf Scholz scheint das alles bisher nicht wirklich einzuzahlen. 

Wie gesagt, ausgezählt wird zum Schluss. Ich habe schon ziemlich viele Wahlkämpfe mitgemacht und es gab häufiger die Situation, dass man hinten lag und kämpfen musste. Das tun wir.

Wenn ich mich umhöre, dann ist die Stimmung an der Basis aber ziemlich mies. Und mit schlechter Laune kämpft es sich nicht gut …

Ich bin derzeit viel unterwegs und an der Stelle kann ich mich wirklich nicht beklagen, da ist ganz viel Engagement, auch bei miesem Wetter. Aber richtig gut ist die Stimmung ja leider insgesamt in unserer Gesellschaft gerade nicht. Viele Menschen sind mit Sorgen und Pessimismus ins neue Jahr gestartet. Und dafür gibt es ja auch gute Gründe, die Wirtschaft ist in Schwierigkeiten, die Energiepreise sind zu hoch, es gibt international zahlreiche Krisen. Auf die nächste Bundesregierung werden entscheidende Aufgaben zukommen. Sie wird sehr schnell handeln und anpacken müssen. 2025 muss zu dem Jahr werden, in dem es wieder aufwärts geht. Für die Wirtschaft und dann auch für die Stimmung im Land. 

Wenn ich mir die Wahlversprechen so ansehe, dann produziert die Politik aber doch momentan schon wieder den nächsten GAU. Was die CDU ankündigt, wird kaum finanzierbar sein. Bei den Ankündigungen der FDP ist es ähnlich. Ist da nicht die nächste Wählerenttäuschung vorprogrammiert? Was werden die Leute 2029 wählen, wenn jetzt wieder Enttäuschungen folgen in der nächsten Zeit?   

Ich kann Ihrem Eindruck, was das CDU-Programm angeht, nicht widersprechen. Das ist bei der SPD deutlich seriöser.

Das sagen Sie …

Das sagen auch alle Institute, die genauer nachgerechnet haben. Wir haben, was beispielsweise die Verteilungsfragen angeht, einfach sehr unterschiedliche Auffassungen. Die SPD will diejenigen, die sehr viel verdienen, stärker  heranziehen, damit wir insbesondere die Menschen mit geringen Gehältern deutlich entlasten können. Die CDU will dagegen die ganz oben deutlich entlasten, ohne Belastbares zur Gegenfinanzierung zu sagen. Und bisher hat sich die CDU um eine solche Klärung auch nicht bemüht. Wobei eigentlich völlig klar ist, dass man das nur dann finanzieren kann, wenn man gleichzeitig an neuralgischen Stellen im Haushalt Einschnitte vornimmt, wie sie in Deutschland noch nie stattgefunden haben. Das will ich aber der CDU nicht unterstellen. Ich glaube einfach, es ist die Schublade „hohle Wahlversprechen“.

Einfach nur Wolkenkuckucksheim?

Die Rechnung der CDU geht erkennbar nicht auf. Hinzu kommt, dass die Schwerpunkte falsch gesetzt sind. Notwendig sind sehr klare Prioritäten. Und da steht für mich die Frage, wie wir unsere Wirtschaft wieder nach vorne bringen, an allererster Stelle. Nur wenn uns das gelingt, werden wir auch ansonsten wieder handlungsfähig. Dann wird wieder vieles leichter, auch in den öffentlichen Haushalten. Wenn uns das nicht gelingt, haben wir dauerhaft ein Problem. Darum rate ich allen Beteiligten, das Thema Wirtschaft vor die Klammer zu ziehen, wir tun das auch schon jetzt, vor den Wahlen. Wir brauchen vor allem niedrigere Energiekosten und viel mehr Investitionen. 

Ich kann mich erinnern, dass Sie schon eine Weile fordern, dass man mehr für die Wirtschaft tun sollte. Sie haben sich beispielsweise einen Industriestrompreis gewünscht. Es gab aber in Ihrer Partei jemanden, der dagegen war.

Ich habe im Verlauf des Jahres 2023 sehr viel für einen Industriestrompreis geworben und auch laut geworben. Wir waren anfangs noch nicht so viele und es hat sich so ein bisschen wie einsame Rufer in der Wüste angefühlt. Es hat dann aber für diese Idee im Verlauf des Jahres immer mehr Zuspruch gegeben. Dann kam aber leider im November das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Haushalt und das hat all solche Pläne über den Haufen geworfen. Jetzt müssen wir möglichst früh in diesem Jahr den Turnaround schaffen, sonst haben wir ein immer größeres Problem.

Noch mal kurz zum Wahlkampf, was ist eigentlich aus dieser Vereinbarung zu einem fairen Bundestagswahlkampf geworden? Ich kann nicht so viel Fairness erkennen. Zuletzt hat gerade Roderich Kiesewetter einen rausgehauen.

Sie meinen die Geschichte von dem geplanten Besuch von Scholz in Moskau. Ich weiß wirklich nicht, was den Kollegen da geritten hat. Roderich Kiesewetter ist mir bisher nicht als jemand aufgefallen, der lauthals dummes Zeug erzählt. Aber in dem Fall war es so. Eine absurde Geschichte. 

Man kann aber an diesem Beispiel sehr schön sehen, wie Nachrichten funktionieren und auch explodieren.

Ja, es ist sehr leicht, so etwas in die Welt zu setzen, und sehr schwer, etwas wieder richtigzustellen – leider.

Wir werden künftig immer öfter mit solchen falschen Nachrichten zu tun haben. Während sich die Macht über die Social-Media-Kanäle zunehmend in ganz wenigen Händen konzentriert. Elon Musk will auch in England massiv in den Wahlkampf eingreifen. Wir stehen eher am Anfang der Entwicklung.

Wir erleben gerade das erste Mal eine gefährliche Zusammenballung von technologischer, wirtschaftlicher, finanzieller und jetzt eben auch politischer Macht. Da fühlt sich offensichtlich jemand berufen, die Weltgeschichte zu regeln. Wir müssen aus dem, was Musk und andere tun, schleunigst unsere Lehren ziehen. Wir müssen uns in Europa überlegen, wie wir umgehen wollen mit Social Media, mit problematischen Algorithmen. Wir können das nicht einfach laufen lassen. Das ist ein hochgradig gefährliches Instrument, mit ausgesprochen fragwürdigen Algorithmen.

Das allerdings gepriesen wird als Hort der Meinungsfreiheit.

Und dann fallen Rechtsextremismus und Antisemitismus plötzlich unter Meinungsfreiheit…

Kommen wir zuletzt noch schnell zu Österreich. Was sagen sie zu Herbert Kickl und der FPÖ, beziehungsweise zur Koalitionsbereitschaft der ÖVP?

In Österreich sehen wir nun tatsächlich diesen berühmten Dammbruch. Der frühere Bundeskanzler Nehammer hatte immer ausgeschlossen, mit der FPÖ zu koalieren, ist damit aber von der Mehrheit seines Parteivorstands abserviert worden. Wir sehen, dass die liberalen Demokratien in Europa und der Welt massiv unter Druck stehen. Und ich glaube, wir müssen daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass alle Demokratinnen und Demokraten noch viel klarer und entschiedener zusammenstehen sollten. Wir machen nach wie vor den Fehler, dass wir uns in erster Linie untereinander bekämpfen, anstatt uns klarzumachen, dass wir in grundlegenden Fragen sehr einig sind, bei allen unterschiedlichen Auffassungen in der Sache. Dieses permanente Zelebrieren einer großen Zerstrittenheit führt zu dem Eindruck, dass die Politik nur noch um sich selbst kreist und sich nicht um die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger kümmert. Darum, egal wie die Wahl ausgeht, wünsche ich mir direkt im Anschluss ein Agreement der Demokraten. Es geht in den kommenden Monaten und Jahren um Weichenstellungen. Daran sollten sich alle Demokraten beteiligen. Die echten Mehrheitsverhältnisse sind ganz klar, 4/5 sind auf Seiten der Demokratie.

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Ein letztes Wort im Januar

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Ein letztes Wort im Januar


Herr Weil, es ist Wahlkampf. Dann legen Sie mal los …

Habe ich schon. Ich war bereits unterwegs.

Und haben die Werbetrommel für Olaf Scholz gerührt?

Ganz genau.

Wann wird es denn die große Trendumkehr in den Umfragen geben? Bisher tut sich wenig …  

Im direkten Vergleich zu Friedrich Merz hat Olaf Scholz schon ein paar Punkte gutgemacht. Wenn sich dieser Trend so fortsetzt, läuft es doch in die richtige Richtung.

Und was macht die SPD, wenn Anfang des Jahres die große Wende noch immer ausbleibt? Mit nur zwei oder drei Prozent mehr ist ja kein Blumentopf zu gewinnen.

Niemand hat behauptet, dass das ein leichter Wahlkampf wird. Aber ich erinnere gerne daran, dass da das Wörtchen „Kampf“ drinsteckt. Man kann das an Olaf Scholz ganz gut sehen, der hat längst in diesen Modus geschaltet und tritt regelrecht befreit auf. Das ist nach dieser ganzen lähmenden Schlussphase der Ampel auch dringend notwendig. Insbesondere diese Schlussinszenierung der FDP war schwer zu ertragen. Gut, dass es vorbei ist. Das befreit. Und das gilt übrigens nicht nur für Olaf Scholz, sondern auch für mich und vielleicht für die gesamte SPD. 

Was sagen Sie abschließend zu dieser Inszenierung?

Mich interessieren die Szenen dieser Ehe im Rückspiegel eigentlich nicht so sehr, wir haben wichtigere Probleme. Aber es ist schon ein dicker Hund, dass eine Regierungspartei zielstrebig über Wochen hinweg einen Regierungsbruch plant. Gezielt auf Provokation zu setzen, die Illoyalität zum Grundsatz zu machen, und dann auch noch zu versuchen, sich als Opfer zu präsentieren, das ist dann schon die Krönung. Vor allem, wenn das alles hinterher auch noch so lang vehement bestritten wird, bis die Wahrheit herauskommt.

Wenn Sie Christian Lindner wären, was würden Sie tun?

Es tut mir leid, aber das übersteigt meine Vorstellungskraft. Bestenfalls hat er inzwischen gemerkt, was für ein peinliches Schauspiel das war.

Seine Selbstkritik hält sich aber noch sehr in Grenzen.

Selbstkritik bei Christian Lindner? Das scheint mir keine seiner Kernkompetenzen zu sein. Der springende Punkt ist aber, dass man so nicht mit Vertrauen umgeht – vor allem nicht mit dem ohnehin angeknacksten Vertrauen vieler Bürgerinnen und Bürger in die Politik. 

Apropos Vertrauen, wenn ich mir die aufgeregten Diskussionen der vergangenen Monate ansehe, zum Beispiel diese aufgeheizte Debatte um den „Heizungshammer“, und ich mache dann den Faktencheck, dann bleibt sehr oft kaum etwas übrig. Sehr viel Kampagne, sehr wenig Sinn und Verstand.

Da gebe ich Ihnen teilweise Recht. Wobei man konstatieren muss, dass das kein guter Gesetzesentwurf war. Die Pläne haben auch in Teilen von Niedersachsen Angst und Schrecken ausgelöst. Weil die darin vorgesehenen Pflichten viele Menschen, die nicht viel Geld haben, sehr in Bedrängnis gebracht hätten.

Wobei es aber totaler Unsinn war, die Wärmepumpe derart zu verteufeln. Viele haben sich nun dagegen entschieden und werden das künftig teuer bezahlen. Das ist ein Ergebnis der CDU-Kampagne.

Das stimmt im Ergebnis leider ganz und gar. Für die Wärmepumpe war dieses Gesetz am Ende eine vergiftetet Praline, wie wir inzwischen sehen. Aber dafür kann ich nicht wirklich der Opposition die Schuld geben. Wenn eine Opposition einen solchen Fehler nicht nutzt, dann muss sie wirklich ihr Geld zurückgeben. Das war einfach eine Steilvorlage. 

Eine durchgestochene Steilvorlage. Das Gesetz war ja noch nicht fertig.

Ich bin da ein bissen weniger milde, weil dieser gesamte Vorgang eine gewissen Form von Hybris zeigt. Da sitzt ein kleiner Kreis hinter verschlossenen Türen zusammen und denkt sich etwas aus, weil man es besser weiß. Warum steigt man nicht ein in eine offene, transparente Diskussion? Wie schaffen wir die Wärmewende? Wie schafft man das gemeinsam mit dem Handwerk, gemeinsam mit den Stadtwerken? Man hätte einfach miteinander reden müssen. Hat man aber nicht. Wobei ich Ihnen Recht gebe, dass es natürlich nicht geht, im Zuge einer Kampagne die Fakten falsch darzustellen. Und leider haben wir seit diesem Heizungsgesetz eine Konjunktur bei Gas- und auch Ölheizungen und eine Krise bei den Wärmepumpenherstellern. Was tatsächlich ziemlich irre ist.

Für mich ist das ein Beispiel, wie die Diskussionen mittlerweile häufig laufen, nämlich sehr oberflächlich und populistisch. Während die echten Themen auf der Strecke bleiben. Womit wir wieder beim Wahlkampf sind. Wird der so schmutzig werden, wie alle prophezeien oder besinnen sich zumindest die demokratischen Parteien eines Besseren?

Vergleichsweise bewegen wir uns in Deutschland ja erfreulicherweise in den politischen Auseinandersetzungen noch auf einem relativ hohen Niveau, das vorab. Und für Niedersachsen kann ich sagen, dass die Demokraten wissen, dass sie sehr viel mehr miteinander gemein haben, als sie voneinander trennt. Auf der anderen Seite steht die AfD. Und trotzdem wird es im Wahlkampf natürlich zur Sache gehen. Das ist keine Zeit, in der man sich mit Wattebäuschchen bewirft. Trotzdem glaube ich nicht, dass es so richtig aus dem Ruder laufen wird. Selbst Friedrich Merz hält sich sehr zurück.

Was keine schlechte Strategie ist. Er muss nur nichts sagen und abwarten.

Aber es sind ja noch ein paar Tage bis zur Wahl. Und wir leben in Zeiten, in denen sich Stimmungen durch fundamentale Ereignisse innerhalb einer Woche komplett drehen können. „Schau’n mer mal, dann sehn wir‘s schon“, hat Franz Beckenbauer gesagt. 

Ich glaube nicht, dass Friedrich Merz sich noch fundamental verplappern wird.

Man weiß es nicht. Der Mann hat Temperament und eine kurze Zündschnur. Ich denke vor allem aber, dass die Leute, wenn der Wahltermin näher rückt, noch einmal sehr genau darüber nachdenken werden, von wem sie regiert werden möchten. Und da gibt es einen klaren Unterschied zwischen Scholz und Merz. Olaf Scholz ist krisenerprobt und krisenstabil und er bringt Erfahrungen aus den unterschiedlichsten Krisen mit. Friedrich Merz hat dagegen noch keinen einzigen Tag in seinem Leben Regierungsverantwortung getragen. Das macht einen großen Unterschied. Das Kanzleramt ist eben keine Ausbildungsstelle, in der sich erst herausstellt, ob man für eine bestimmte Tätigkeit geeignet ist. Das finde ich in diesen Zeiten zu riskant.

Das ist ja das, was die SPD gerade allen erzählt. Aber ist das wirklich ein Argument?

Ich finde schon, wir leben in herausfordernden Zeiten und die nächsten Jahre werden nicht leichter als die letzten. 

Friedrich Merz muss sich gar nicht weit aus dem Fenster lehnen, dafür hat er zum Beispiel Carsten Linnemann und Jens Spahn. Letzterer macht mir übrigens seit einer Weile echt Sorgen. Populismus scheint ihm richtig Spaß zu machen. Was ist das für eine Politiker*innen-Generation? Null Integrität, möglichst viel Spaltung und nach mir die Sintflut …

Das sind wirklich schlimme Beispiele. Mir ist eine solche Herangehensweise an Politik komplett fremd. 

Ich wundere mich, dass es solche schmerzbefreiten Charaktere immer öfter nach oben schaffen.

Ich glaube nicht, dass das eine Generationenfrage oder ein neues Phänomen ist. Vielleicht trägt aber die sehr spezielle politische Kultur in Berlin dazu bei. Permanenter Konkurrenzkampf, ununterbrochener Kontakt mit den Medien, ständige Nachfragen und kein Moment offline. Vielleicht geraten manche dann einfach in einen Tunnel. Ich glaube allerdings nicht, dass es nur, wie Sie sagen, schmerzbefreite Charaktere nach oben schaffen. Nehmen Sie mal Volker Wissing, der ist aller Ehren wert und hat Charakter.

Das mag sein, aber so richtig viel gerissen hat er als Bundesverkehrsminister trotzdem nicht.

Das ist ein anderes Thema.

Okay, einigen wir uns darauf, dass der Wissing immerhin ein netter Kerl ist. Es bräuchte aber auch mal ein paar Lösungen.

Das ist die eigentliche Aufgabe für die nächste Legislaturperiode des Bundes und hoffentlich geht es vor allem darum im Wahlkampf. Es geht auch um das Vertrauen in die Demokratie, dafür müssen wir die Lösungskompetenz des demokratischen Staates beweisen und Zug um Zug die vielen Problemlagen angehen und auflösen. Ganz oben auf der Agenda steht dabei für mich unsere Wirtschaft, daran hängt im Grunde fast alles. Viele andere Probleme können wir nur lösen, wenn unsere Wirtschaft erfolgreich ist. Die Sozialversicherungen sind darauf angewiesen und die öffentlichen Haushalte auch. Man kann noch vor der Wahl eine Menge tun. Es wäre extrem wichtig, dass es jetzt schleunigst ein paar Signale gibt zugunsten einzelner Branchen, die sich nach und nach zurückziehen. Das gilt beispielsweise für energieintensive Unternehmen. Die müssen spüren, dass wir sie in Deutschland wollen, dass es bei uns eine Perspektive gibt. Dafür müssen dringend die Energiekosten gesenkt werden, besser gestern als heute. Es sieht aber leider nun so aus, dass die CDU sich aus wahltaktischen Gründen dazu entschlossen hat, bis zur Wahl fast alles zu blockieren. Das ist ein echter Fehler.

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Ein letztes Wort im August

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Ein letztes Wort im August


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Stephan Weil (r) und Lars Kompa (l)

Herr Weil, wir sprechen Mitte Juli, die Sommerpause steht vor der Tür. Geht’s wieder wandern?

Das gemeinsame Wandern fällt in diesem Jahr leider zum ersten Mal seit ungefähr 40 Jahren aus. Meine Mitwanderer sind junge Väter geworden und haben leider keine Zeit. Aber meine Frau und ich werden fleißig wandern. Wir fahren – wie schon oft – an einen See in Italien und lassen es uns dort gutgehen. Darauf freue ich mich sehr. Das ist immer eine wunderschöne Zeit.

Können Sie so richtig abschalten?

Normalerweise klappt das gut. Aber es gibt eine ganze Reihe von herausfordernden Themen, die auch im Urlaub im Hinterkopf bleiben. Wir erleben ja bewegte Zeiten.

In den Zeiten vor Corona war das Gepäck noch wesentlich leichter, oder? Und seither ist es immer schwerer geworden …

Es ist wirklich erstaunlich, wie sich das verändert hat. Ich erinnere mich, dass uns im Sommer 2018 die Affäre um Herrn Maaßen beschäftigt hat, der damals Verfassungsschutz-Chef war und Staatssekretär werden sollte. Das war damals eine ernsthafte Koalitionskrise, an die sich heute kaum jemand noch erinnert. Ich weiß noch, dass ich deswegen permanent am Handy hing und meine Frau verständlicherweise schwer genervt war. Und 2019 hatten wir einen gehörigen Krach in der SPD und der hat mich auch im Urlaub beschäftigt. Heute reden wir im Vergleich dazu über Probleme von einer ganz anderen Größenordnung. Ja, seit 2020 reisen wir mit schwererem Gepäck.

Wir haben die Kriege, das Klima, wir haben wirtschaftlich zu kämpfen – und zu allem Überfluss droht uns eine zweite Amtszeit von Trump in Amerika. Es gab dort vor kurzem dieses bemerkenswerte Urteil des Supreme Court. Was erleben wir da? Schafft sich dort die Demokratie ab? Was sagen Sie als Jurist zu diesem Urteil?

Das ist ja noch nicht einmal alles – das Attentat auf Donald Trump und die Diskussion über Joe Biden kommen noch dazu. Aber dieses Urteil ist wirklich erschreckend und ich hätte mir noch vor kurzem nicht ausmalen können, dass so etwas möglich ist. Es führt dazu, dass in einer Demokratie ausgerechnet dem obersten Repräsentanten Narrenfreiheit gewährt wird. Das ist wirklich schwer zu ertragen und das Gegenteil einer wehrhaften Demokratie. So liefert sich eine Demokratie ihren Gegnern aus. Um die USA muss man sich ja schon seit einer Weile Sorgen machen. Und diese Sorgen werden aktuell leider immer größer.

Wir sehen diese Entwicklungen in den USA, wir sehen einen Rechtsruck in vielen Ländern, der Rechtspopulismus scheint so etwas wie ein Erfolgsmodell zu sein.

Das ist kein Naturgesetz. Es gibt auch ausgesprochen positive Entwicklungen, so wie zuletzt beispielsweise in Frankreich oder in Großbritannien. In den Niederlanden haben wir jetzt allerdings eine extrem rechte Regierung. Ich hätte mir das in einem so liberalen Land zuvor nicht vorstellen können. Was Deutschland angeht, hat die Europawahl gezeigt, dass der Zuspruch zu extremen Parteien bei uns im Vergleich noch eher moderat ausfällt. Aber ja, die Demokratien sind insgesamt unter Druck, das ist eine internationale Entwicklung.

Kommen wir mal zurück nach Deutschland. Bei der Europawahl haben sehr viele junge Menschen die AfD gewählt.

Ja, und das muss uns beschäftigen.

Man hat im Nachgang herausgefunden, dass vor allem junge Männer die AfD oder rechts wählen, während die jungen Frauen eher links wählen. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Es gibt wahrscheinlich mehrere Gründe. Es gibt Untersuchungen, wonach momentan eben nicht mehrheitlich eine Fridays-for-Future-Generation heranwächst. Ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler befasst sich eher mit ihrer wirtschaftlichen Zukunft. Und da scheint seltsamerweise die AfD punkten zu können. Es gibt dazu zwei recht einleuchtende Erklärungsansätze. Ein Faktor ist wohl die Dominanz der AfD, was Social Media angeht. Das hinterlässt Spuren. Und es gibt zweitens offenbar das Phänomen, dass man etwas erst recht macht, wenn viele sagen, dass man das nicht darf. Wolf Biermann hat das mal in einem ganz anderen Zusammenhang gut auf den Punkt gebracht: „Was verboten ist, das macht uns grade scharf. Keiner tut gern tun, was er tun darf.“ Aber das ist nicht alles, wir haben vor allem dort hohe Stimmanteile für die AfD, wo die Lebensverhältnisse problematisch sind. Das gilt etwas in manchen ländlichen Regionen und dagegen kann man etwas tun.

TikTok, Trotz und das Gefühl, abgehängt zu sein, das sind so die Erklärungen, die ich öfter höre. Und dann werden als Reaktion TikTok-Filmchen über Aktentaschen gedreht. Ist das nicht ein bisschen sehr platt? Und unterstreicht das nicht, dass die Politik die jungen Menschen nicht wirklich ernst nimmt? Kann es nicht eher sein, dass sich da eine Generation einfach nicht gesehen fühlt? Aber gesehen werden möchte? Und jetzt nach Aufmerksamkeit schreit.

Naja, so schlimm fand ich die Aktentasche nicht und sie hat viele Klicks bekommen. Das war für das Bundeskanzleramt ein Eintritt in die TikTok-Welt. Richtig ist, dass wir uns der jungen Generation stärker zuwenden müssen. Aber zu Ihrer Frage: Ich glaube, es ist eine Mischung aus all dem, was Sie und ich aufgezählt haben.

Deutlich sichtbar ist, dass junge Menschen zunehmend ihre Zuversicht und ihr Vertrauen in die Politik verlieren …

und in die eigene Zukunft, das ist auch ein wichtiger Punkt. Deswegen kann man auch nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Das betrifft den Inhalt von Politik und auch ihre Präsentation. In den Vordergrund gehören Themen, die den Alltag von Leuten betreffen, anstelle kaum vermittelbarer Insider-Debatten. Und die Kommunikation muss den richtigen Ton treffen, dazu gehört dann heute bezogen auf junge Leute auch die Präsenz auf TikTok. Die Parteien jenseits der AfD tun sich damit noch schwer. Wir sind darauf trainiert, im Zweifel differenziert aufzutreten. In der Politik gibt es nicht nur schwarz oder weiß, sondern meistens viele unterschiedliche Grautöne. Im Bereich von Social Media geht es aber meistens ziemlich hart um schwarz oder weiß. Auf den Wahrheitsgehalt kommt es dabei weniger an. Bei solchen Rahmenbedingungen ist eine Partei wie die AfD naturgemäß im Vorteil. Wir anderen dürfen deswegen nicht mit dem Lügen anfangen, sondern müssen einen eigenen, seriösen und für junge Leute interessanten Weg finden.

Ein Mittel gegen rechts ist Bildung, in den Schulen, in den Kindergärten. Passiert da schon genug?

Da ist ganz sicher noch Luft nach oben. Gute politische Bildung für Kinder und Jugendliche ist von enormer Bedeutung. Gerade in der Verbindung mit digitaler Bildung geht da an den Schulen sicher einiges. Unser Lehrerinnen und Lehrer geben sich wirklich größte Mühe. Aber wir können noch nicht wirklich beurteilen, wie es um den Output bestellt ist. Verlassen wirklich alle jungen Leute unsere Schulen als mündige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger? Wissen sie, was eine Demokratie ausmacht, können sie sich ihr eigenes Urteil bilden und werden sie motiviert für Engagement? Ich bin mit Kultusministerin Julia Willie Hamburg im engen Austausch darüber, wie wir bei der politischen Bildung noch besser werden können. Für mich ist Politik im Unterricht genauso wichtig wie die klassischen Hauptfächer.

Kommen wir noch einmal auf die Zuversicht. Wenn ich mit jungen Leuten spreche, dann begegnet mir momentan ganz viel Pessimismus. So eine fast destruktive Grundhaltung. „Bringt eh alles nichts, die Politik löst die Probleme nicht, ich denke jetzt zuerst an mich und versuche, einfach noch Spaß zu haben und mein Ding zu machen. Der Rest ist mir egal.“ Von Gemeinschaft und Zusammenhalt höre ich kaum noch etwas. Und ich finde, das ist ziemlich besorgniserregend.

Wenn wir beide an unsere eigene Jugend denken, gab es auch genug Probleme, zum Beispiel eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Aber für uns war immer ganz klar: Die Zukunft wird gut. Dieses Lebensgefühl hat sich erkennbar verändert, diese Gewissheit ist abhandengekommen. Aber es gibt auch die andere Seite der Medaille. Wir sind nach wie vor eine der reichsten Gesellschaften der Welt und die drittgrößte Volkswirtschaft. Wir leben auf einem Niveau, um das uns weltweit viele beneiden. Und bei uns engagieren sich immer noch ungeheuer viele Leute für die Gemeinschaft. Bei aller notwendigen Selbstkritik und Respekt vor anstehenden Herausforderungen – wir haben auch gute Gründe, selbstbewusst zu sein. Ich habe im Moment ein bisschen Sorge, dass wir uns und unser Land in ein zu schlechtes Licht stellen. Man soll die Probleme nicht klein reden, aber sich selbst und die eigenen Erfolge und Perspektiven eben auch nicht. Selbstbewusstsein und Problembewusstsein, beides könnte die ältere Generation der jüngeren übrigens gut vorleben!

Interview: Lars Kompa

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