Ein letztes Wort im November

Herr Weil, heute ein Thema, das Ihnen bestimmt richtig Spaß macht. Sprechen wir über die alte Tante SPD …

Immer gerne. 

Bei Forsa kam die SPD gestern, am 14. Oktober, auf 13 Prozent, bei INSA auf 14 Prozent. Von einer Volkspartei kann keine Rede mehr sein, oder?

Wenn man sich nur an dem Ergebnis der Bundestagswahlen im Februar und den aktuellen Umfragen orientiert, stellt sich die Frage natürlich. Wenn man aber die Leute fragt, welche Partei sie grundsätzlich auch wählen könnten, dann ist die SPD mit wesentlich höheren Werten dabei. Das Potenzial für eine Volkspartei gibt‘s bei der SPD nach wie vor, aber das Potenzial gewinnt keine Wahlen. Die SPD ist momentan für viele eben nicht die erste Wahl, sondern allenfalls zweitbeste Lösung. Das muss man so konstatieren. Und Sie können sich vorstellen, dass mir das überhaupt nicht gefällt. 

Was ist falsch gelaufen, was läuft weiter falsch?

Na ja, zum einen hat sich die Gesellschaft stark verändert. Damit meine ich nicht nur, die Alterung der Mitgliedschaft und einen Rückgang bei den aktiven Mitgliedern. Weniger Menschen sind bereit sich längerfristig zu binden. Das alles kennen andere Großorganisationen auch. Noch wichtiger ist aber etwas anderes: Wir erleben alle grundlegende Umbrüche. Nehmen Sie nur die Stichworte Digitalisierung, Klimawandel, das Comeback der Autokraten und vieles mehr. In solchen Zeiten einerseits Verantwortung übernehmen zu müssen und andererseits ständig zu Kompromissen gezwungen zu sein, ist nicht leicht. Gerade jetzt wünschen sich viele Bürger Klarheit und Sicherheit. Und schließlich: Die liberalen Demokratien stehen weltweit unter massivem Druck. Die SPD ist, ebenso wie die Union, eine der tragenden Säulen unserer Demokratie und sie bekommt den Druck zu spüren. Damit geht es uns so wie vielen anderen sozialdemokratischen Parteien in anderen Ländern. Die SPD in Deutschland hat sich dem eine ganze Weile widersetzen können, aber inzwischen befinden wir uns ebenfalls in diesem Strudel.

Ist die SPD vielleicht zu langweilig? Das habe ich in letzter Zeit häufiger gelesen …

Wenn wir Parteien nach dem Entertainment-Qualitäten beurteilen, dann ist die SPD wahrscheinlich tatsächlich nicht die allererste Wahl. Wobei ich das Fehlen von Show eher als Qualitätsmerkmal sehe. In mir sträubt sich alles, Politik nach dem Unterhaltungswert zu sortieren. Das degradiert die Politik zum Wettbewerber mit irgendwelchen Reality-Shows.

Die Themenspeicher der SPD sind leer, das habe ich auch öfter gehört in letzter Zeit …

Dieser Eindruck ist vielleicht nicht ganz falsch. Was aber auch damit zusammenhängt, dass die SPD seit gut 25 Jahren mit kleineren Unterbrechungen mitregiert, immer in Koalitionen. Und dann läuft man Gefahr, dass man eben nicht mehr parallel das ganz große eigene Projekt vorantreibt. Kräfte und Energien werden absorbiert von aktuellen Themen und Pflichten. Darum ist es für die SPD definitiv notwendig, den eigenen Themenspeicher wieder aufzufüllen. Das geht schon beim Programm los. Das aktuelle Grundsatzprogramm stammt aus dem Jahr 2007. Ich bin nicht sicher, ob das Wort Digitalisierung da überhaupt schon drin steht.

Wenn ich mir anhöre, was die SPD-Basis sagt, dann ist der Frust riesengroß. Reicht da so ein Grundsatzprogramm, das 2027 kommen soll?

Nein, natürlich nicht. Die SPD muss für sich jetzt relativ schnell klären, was eigentlich mittelfristig ihre Kernziele und ihre Kernprojekte sind. Wenn man diese Ziele in einer Koalition mit der CDU nicht umsetzen kann, muss man das eben laut und deutlich sagen. Die Koalition mit der Union ist ja keine Liebesbeziehung, sondern besteht aus Verantwortungsgefühl. 

Was inzwischen auch alle mitbekommen haben, weil man sich regelmäßig öffentlich streitet.

Das ist für mich etwas Anderes. Meistens geht es derzeit leider um Streitfragen, die eine Koalition nicht auf offener Bühne austragen muss. Richterwahlen zum Bundesverfassungsgericht etwa oder das Losverfahren bei der Bundeswehr, solche Fragen müssen zunächst intern geklärt werden. Leider verfällt die aktuelle Koalition zu oft in den Modus der früheren Ampelregierung. Dass diese Koalition gleichzeitig vieles sehr vernünftig und einvernehmlich regelt, wird dann kaum noch wahrgenommen. Da ist eine Menge Luft nach oben und das schadet allen Regierungsparteien. 

Kommen wir mal kurz auf das Grundsätzliche zurück. Für was steht die Sozialdemokratie aktuell? Warum sollte man die SPD wählen?

Die SPD ist zunächst ein Grundpfeiler der Demokratie in Deutschland. Sie sorgt für sozialen Ausgleich, sie steht für einen fairen Umgang miteinander. Und wenn ich mir Deutschland ohne die SPD vorstelle, dann würde mir angst und bange um unsere Demokratie.

Das stimmt wahrscheinlich, aber das reicht ja nicht.

Die SPD ist nach wie vor die Partei, die insbesondere für Gerechtigkeit steht. Sie muss allerdings aufpassen, dass sie nur als Betriebsrat der Gesellschaft wahrgenommen wird und sich auch selbst nicht so versteht. Die SPD darf nicht den anderen die Wirtschaftspolitik überlassen. Das ist übrigens einer der Gründe, warum die niedersächsische SPD in den vergangenen Jahren immer recht gut abgeschnitten hat. Wir haben nie Zweifel daran gelassen, dass wir für uns solide aufgestellte Unternehmen und den Erhalt guter Arbeitsplätze verantwortlich fühlen. Die SPD muss auch die gesamte Gesellschaft im Blick haben. Nehmen wir mal die Diskussion um die Abschaffung der Pflegestufe 1. Wenn man sich nur kurz vorstellt, was das für viele Familien bedeuten würde, dann ist klar, dass die SPD das nicht zulassen darf. Aber die finanziellen Probleme der Pflegeversicherung lassen sich gleichzeitig nicht wegdiskutieren. Deswegen müssen wir uns als eine der Hauptaufgaben um das kümmern, was uns sozialen Absicherungen überhaupt erst ermöglicht. Und das ist eine dynamische Wirtschaft. Das ist der entscheidende Hebel, mit dem sich viele Probleme lösen lassen.

Also Gerechtigkeit und Wirtschaft. Was noch?

Europa. Wir sehen, dass vielerorts die Autokraten mächtiger werden. Und wenn die liberalen Demokratien in Europa eine Chance haben wollen, dann müssen sie enger zusammenrücken. Stichwort Verteidigung. Das geht nur gemeinsam, alles andere wäre reiner Wahnsinn. Wenn wir unsere Demokratie schützen wollen, dann müssen wir Europa stark machen. Ich bin mir sehr sicher, dass viele Menschen diese Logik verstehen. Das muss ein zentrales Thema der SPD sein. 

Was ich momentan generell vermisse, das sind ganz konkrete, gut ausgearbeitete Konzepte. Ich höre nur viele Absichtserklärungen. Aber das „Wie“ bleibt aus meiner Sicht zu oft auf der Strecke.

Das ist eine Kritik, die für die SPD wie für alle anderen Parteien zutrifft. Es gibt allerdings auch richtig gute Gegenbeispiele: Denken Sie an die Bürgerversicherung. Die gesetzliche Krankenversicherung leidet auch darunter, dass vergleichsweise wenige die Gesundheitskosten von vergleichsweise vielen Menschen abdecken müssen. Und Bürgerversicherung heißt: Alle stehen solidarisch für alle ein. 

Es gibt ja bereits viele gut ausgearbeitete Ideen von Expertinnen und Experten, von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Da liegt eine Menge in den Schubladen ..

Ja, aber nicht alles besteht den Praxistest. Ganz oft fehlt das Geld oder es gibt eben nicht die notwendigen Mehrheiten. Mit dem Thema Bürgerversicherung ist die SPD zum Beispiel mindestens vier Mal in den Bundestagswahlkampf gezogen. Aber trotzdem stimme ich Ihnen zu: Der Austausch mit der Wissenschaft muss unbedingt intensiver werden. 

Wenn ich aktuell nach Berlin blicke, erkenne ich wirklich große Linien nur mit ganz viel Mühe. Am Zukunftsversprechen der SPD wird gerade noch ein bisschen gearbeitet, oder?

Was Themen und Projekte angeht, haben wir ja schon darüber gesprochen. Aber es muss noch etwas anderes dazu kommen: Eine klare Haltung. Nehmen wir das Beispiel Gaza. Ich habe mich mein Leben lang als Freund Israels gefühlt und ich bin es noch. Ich stehe zur viel zitierten Staatsräson. Das heißt, ich trete unbedingt ein für das Existenz- und Verteidigungsrecht Israels. Aber das kann doch nicht heißen, das wir schlimme Verstöße gegen das Völkerrecht stillschweigend akzeptieren. Es gibt ein doppeltes Erbe des Faschismus. Wir müssen einstehen für Israel, auch wenn Israel momentan eine rechtsextreme Regierung hat. Aber wir müssen uns eben auch prinzipiell und überall gegen Unrecht wenden, auch wenn es von einem Freund ausgeht. 

Diese Diskussionen um solche ganz grundsätzlichen Werte werden momentan in den jüngeren Generationen sehr intensiv geführt …

Es ist doch nicht nur für die SPD, sondern für die Zukunft einer humanen Gesellschaft wichtig, dass wir zu unseren Werten stehen und sie schützen. Dies gilt umso mehr, als aktuell bei uns eine Partei immer mehr Erfolg hat, der diese Werte völlig egal sind.


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