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Ein letztes Wort im Juli

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Ein letztes Wort im Juli


Herr Weil, heute sind Sie fast einen Monat Ministerpräsident a. D. Sind Sie schon aufgewacht mit dem Gedanken, dass Sie verschlafen haben und in die Staatskanzlei müssen?

Nein, das ist noch nicht passiert. Erstaunlicherweise fehlt mir momentan nichts von dem, was mit meinem früheren Amt zu tun hat. Ich finde das ziemlich erstaunlich, aber es ist so. Vielleicht liegt es daran, dass ich einen sehr schönen Abschied und einen klaren Schnitt hatte. Jetzt fängt einfach ein neues Leben an. Und klar, da muss sich jetzt noch einiges zurechtruckeln, aber das entwickelt sich gerade.

Fühlt es sich schon an wie Ruhestand oder noch wie Urlaub?

Es ist ja noch nicht wirklich ein Ruhestand, ich bin ja noch Landtagsabgeordneter. Im Moment habe ich keine 80-Stunden-Arbeitswoche mehr, aber weiter Arbeit. Eine Arbeit, die mir richtig Spaß macht. Viele Menschen in meinem Wahlkreis haben mir gesagt, dass ich jetzt 12 Jahre in der Weltgeschichte unterwegs war und dass sie froh sind, jetzt mal einen ‚normalen‘ Abgeordneten zu haben, der viel vor Ort ist.

Ich habe überlegt, worüber wir sprechen, wenn Sie nicht mehr Ministerpräsident sind. Aber eigentlich können wir uns unterhalten wie bisher, denn aus den Niederungen der niedersächsischen Tagespolitik haben wir uns immer weitgehend herausgehalten. So ein bisschen notgedrungen, weil in einem Monatsmagazin die Tagespolitik immer schon ein paar Tage alt ist …

Ja, wenn das Stadtkind erschienen ist, hatten sich manche Themen aus unseren Gesprächen schon wieder erledigt. Insofern haben wir beide uns doch immer eh meistens über das Große und Ganze unterhalten.

Es gibt so ein paar Megathemen in Deutschland, die werden uns erhalten bleiben.

Ja, aber nicht nur in Deutschland. Auch außerhalb von Deutschland passieren viele wirklich besorgniserregende Dinge. Die Eskalation im Nahen Osten zum Beispiel und der Ukraine-Krieg. Die Bedrohung der Demokratie: Nehmen Sie die USA, die Lage dort wird immer schlimmer. In der Türkei wird gerade die größte Oppositionspartei systematisch kriminalisiert und nebenan in Polen haben die Rechtsextremen die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Das wirkt ja auch alles auf Deutschland ein. Und wir haben hier bekanntlich auch noch genug eigene Themen. 

Ein großes Thema in Deutschland ist die Migration. Finden Sie, dass Deutschland, dass die Koalition momentan den richtigen Weg einschlägt?

Teils, teils. Zunächst sollten wir ganz nüchtern feststellen, dass wir Migration dringend brauchen. Wir brauchen Menschen, die zu uns kommen, um hier zu arbeiten und zu leben. Unsere alternde Gesellschaft ist darauf dringend angewiesen. Und dann geht es zweitens um die Frage, wie wir die riesige Aufgabe der Integration besser bewältigen können.

Aber die Tonlage ist momentan eine ganz andere. Für mich ist das meiste nur Symbolpolitik. Ein schlechter Versuch, der AfD mit AfD-Themen das Wasser abzugraben. Wir können uns ja darauf einigen, dass es Probleme gibt. Aber ich würde mir wirklich wünschen, dass man auch mal einsteigt in eine Diskussion um echte Lösungen.

Das stimmt, vor allem müssen wir auch endlich einmal über die unendlich vielen guten Beispiele gelungener Integration reden. Aber wir müssen natürlich auch die Probleme klar benennen: Wir müssen wissen, wer zu uns kommt und wir müssen in der Lage sein, zu entscheiden, wer bleiben kann. Ich finde einen echten Fortschritt, dass wir jetzt einen europäischen Antritt zur Migrationspolitik haben. Menschen mit Schutzrechten müssen auch weiter Schutz bekommen, aber gleichzeitig müssen wir die Zahl der auf irregulären Wegen nach Deutschland kommenden Menschen reduzieren. Und wir dürfen auch nicht verschweigen, dass es konkrete Probleme gibt. Viele Kommunen haben keine Aufnahmekapazitäten mehr. Und wir müssen bei der Integration wesentlich besser werden. Das betrifft auch den Bildungssektor.

Ich sehe diese Probleme, aber ich sehe noch keine echten Lösungsversuche. Nicht bei Dobrindt und bei Söder, nicht bei Merz. Ich habe eher den Eindruck, die gesamte Union scheint bei diesem Thema in eine fragwürdige Richtung abgebogen zu sein.

Das war schon so im Wahlkampf. Nach der Wahl kam dann bei der CDU in manchen Bereichen der Realitätsschock. Das hatten wir beim Thema Schuldenbremse, das haben wir jetzt beim Thema Migration. Mit den Zurückweisungen wird Dobrindt in dieser Form aller Voraussicht nach vor den Gerichten scheitern. Für mich ist eine Tatsache: Wir werden das Thema Migration letztlich nur auf europäischer Ebene wirksam regeln können, nicht auf nationaler Ebene.

Die Migrationszahlen sind in letzter Zeit gesunken. Ich frage mich immer, von welcher Notlage Herr Dobrindt jetzt eigentlich spricht. In einem Ton, als würde bei uns morgen die Welt untergehen.  

Stimmt absolut, und damit wird er bei den Gerichten auch nicht durchkommen. Die Union hat das Thema Migration während des Wahlkampfs zum Thema Nummer 1 erklärt. Schon damals hat sie das Thema deutlich größer gemacht worden, als es ist. Das war nicht gut. Es ist unbestritten, dass es Probleme gibt, aber die Art und Weise, wie dieses Thema zur Schicksalsfrage hochstilisiert wurde, war aus meiner Sicht einer der Gründe für den AfD-Erfolg. Jetzt ist die Union in Regierungsverantwortung und muss liefern. Diesen Sprung hat sie noch nicht wirklich geschafft, aber sie wird nicht darum herumkommen.  Klar ist, dass wir bei unseren Integrationsmöglichkeiten Grenzen haben. Ein Beispiel: In den Schulen haben vielerorts mittlerweile im Schnitt etwa 40 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. Davon haben natürlich nicht alle einen hohen Sprachförderbedarf, aber eben doch sehr viele. Und das ist für unser Bildungssystem eine massive Herausforderung. 

Ich habe die Sorge, bei der Stimmung, die inzwischen bei uns herrscht, dass sich immer mehr Menschen zweimal überlegen, nach Deutschland zu kommen. Wir brauchen Zuwanderung, wir müssen ein Einwanderungsland sein, aber wir machen uns gleichzeitig immer unsympathischer …

Diese Sorge muss man auch haben, finde ich. Und wir brauchen nicht nur Fachkräfte, sondern auch einfach Hände. Wir brauchen Menschen, die sich hier bei uns etwas aufbauen möchten. Mit dem misstrauischen und ablehnenden Grundsound sorgen wir stattdessen dafür, dass unser Land für viele Menschen unattraktiver wird. Es ist ein Fehler, wenn wir alle die kommen und die bereits da sind, mit Misstrauen beäugen. Dabei gibt es doch vier Grundsätze, die eigentlich Konsens sind: Erstens brauchen wir Zuwanderung. Zweitens, wer ein Schutzrecht hat, wird weiter aufgenommen. Wir müssen drittens für eine kontrollierte Zuwanderung sorgen. Und wer sich bei uns viertens nicht an die Regeln hält, der muss unser Land wieder verlassen.

Ich habe die Befürchtung, die Union beschäftigt sich momentan nur mit dem letzten Punkt.

Ich hoffe, dass das nicht so ist.

Es gibt ja durchaus auch sehr viel, was funktioniert. Was mir gefallen hat, war beispielsweise „Niedersachsen packt an“.

Ja, darauf können wir wirklich stolz sein. Niedersachen hat seit 2015 rund 300.000 Menschen aufgenommen und das hat insgesamt ganz gut funktioniert. Das Bündnis „Niedersachsen packt an“, hat dazu beigetragen. Es geht um eine Kultur der Zusammenarbeit in ganz vielen Bereichen. Wie gelingt beispielsweise eine bessere und schnellere Integration in den Arbeitsmarkt. Das ist dann eine oft kleinteilige und natürlich nicht so schlagzeilenträchtige Arbeit, aber sie ist erfolgreich. Die Grundlage sind ganz viele Akteure, die sich engagieren – von der Wirtschaft bis zur Flüchtlingshilfe.  Dieses Bündnis ist übrigens nach wie vor einmalig in Deutschland.

Ich finde, der Königsweg ist immer die Begegnung, das Miteinander. Wenn man sich kennenlernt, räumt das viele Vorurteile ab. Das schafft Vertrauen. 

Das ist ganz sicher so. Was würde ich brauchen, wenn ich aus irgendeinem Grund gezwungen wäre, Deutschland zu verlassen und zum Beispiel nach Syrien zu gehen – in ein vollkommen fremdes Land, eine fremde Sprache, eine andere Kultur, eine andere Religion. Was ich zuerst bräuchten, das wäre jemand, der mich an die Hand nimmt. Wir brauchen doch alle mal helfende Hände und in einem solchen Fall ganz besonders. Es steht übrigens auch bei mir auf der Liste der Möglichkeiten für die nächste Zeit, Zu schauen, was ich ehrenamtlich Sinnvolles tun könnte. Gute Verbindungen zu anderen Menschen sind mit Sicherheit extrem wichtig. Ich glaube, wir machen momentan noch den großen Fehler, immer die Sprachförderung an die erste Stelle zu setzen und dann erst die Integration in den Arbeitsmarkt. Über die Arbeit ergeben sich oft erst die Kontakte, die so wertvoll sind. Wir sollten das sehr viel früher miteinander verzahnen. Das geht, wenn die Unternehmen mitmachen und wenn es vor Ort Kolleginnen und Kollegen gibt, die so ein Ankommen begleiten. Solche Projekte, die Begegnung schaffen, sind tatsächlich die effizientesten, das weiß ich noch aus alten Rathaus-Tagen. So funktioniert Integration.

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Ein letztes Wort im Juni

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Ein letztes Wort im Juni


Herr Weil, Sie sind heute, am 15. Mai, noch Ministerpräsident. Kommende Woche ist dann Schluss und wenn unsere Juni-Ausgabe erscheint, sind Sie schon im Ruhestand.

Ja, ab kommenden Dienstag ist Olaf Lies dran. Ich bin dann noch Abgeordneter im Landtag. Und werde selbstverständlich bei seiner Regierungserklärung auf meinem Platz sitzen.

Wie muss man sich Ihre letzten Tage hier vorstellen? Kisten packen? Den Keller in der Staatskanzlei aufräumen?

So ungefähr. Ich nehme nur meine persönlichen Sachen mit und werde wohl auch viel wegwerfen oder verschenken. Und dann muss Olaf Lies entscheiden, wie er sein Büro einrichten möchte. Ich habe damals mein Büro ziemlich umgekrempelt, als ich eingezogen bin.

Sind die letzten Tage gerade sehr anstrengend?

Das sind sie. Dieser Abschiedsreigen ist nicht ganz ohne. Was ich wirklich sehr schön finde, das sind die persönlichen Begegnungen. Es kommen immer mal wieder auf der Straße Menschen auf mich zu und bedauern, dass ich gehe, sagen aber, dass sie mich verstehen und sich bedanken. Das ist der schöne Teil dieser letzten Wochen und Tage. Aber ansonsten durchlebe ich gerade eine ununterbrochene Verabschiedung mit einer Überdosis an Komplimenten und das zerrt auch ein bisschen an den Nerven. Aufräumen steht dann wahrscheinlich am Wochenende auf dem Zettel. Aber das ist auch schon wieder ziemlich durchgetaktet.

Übergeben Sie das Amt so geordnet, wie Sie sich das gewünscht haben?

Was die Übergabe an Olaf Lies anbelangt, ja. Es war natürlich mein Anspruch, auch die letzten Vorgänge am besten ganz abgeschlossen zu haben. Aber ganz geschafft habe ich das nicht. Es gibt zum Beispiel gerade ein paar kleinere Diskussionen zwischen einzelnen Ministerien, die hätte ich gerne noch zu Ende geführt. Andererseits war das auch so, als ich die Regierung übernommen habe. Ich musste manche Fragen klären, die die Vorgängerregierung nicht mehr geregelt hatte.

Ist da auch mal ein Kloß im Hals zwischendurch?

Der persönliche Zuspruch ist manchmal wirklich anrührend. Ich hätte nicht gedacht, dass das von so vielen Seiten kommen würde. Und das ist natürlich eigentlich ein riesiges Privileg, obwohl mir manchmal der Kopf schwirrt.

Der positive Zuspruch macht also den Abschied leichter. Können Sie mit Lob eigentlich gut umgehen?

Na ja. Wir norddeutschen Männer können mit Kritik besser umgehen als mit Lob. Die persönlichen Rückmeldungen von vielen Bürgerinnen und Bürgern berührt mich schon sehr. Das sind ja genau die Leute, für die ich gearbeitet habe. Politiker treten doch an, um etwas für die Menschen zu erreichen.

Bevor ich das vergesse, wir müssen kurz über ihre Setlist sprechen. Das Heeresmusikkorps Hannover spielt bei ihrer Verabschiedung das „Bürgerlied“, „Die Moorsoldaten“ und „Won’t Forget These Days“. Was ist denn das für eine Zusammenstellung?

Der Text vom Bürgerlied ist großartig und passt gerade wieder sehr gut in die Zeit. Das Lied ist im Vormärz entstanden, also vor der Revolution von 1848. Und es ist im Grunde ein Aufruf, dass alle zusammen aufstehen und anpacken sollen, unabhängig welchen Platz man in der Gesellschaft einnimmt. So einen Geist würde ich mir auch für das heutige Deutschland wünschen. Unsere Gesellschaft ist momentan vielerorts durchdrungen von einem tiefen Pessimismus. Aufstehen und anpacken, das ist aus meiner Sicht ein gutes Mittel gegen diese Depression.

Aber mit Friedrich Merz geht es doch jetzt ohnehin wieder aufwärts.

Mit der SPD in der Koalition geht es jetzt wieder aufwärts, meinen Sie? Aber egal, wir haben gerade eine Menge Gründe der neuen Bundesregierung viel Erfolg zu wünschen. 

Okay, sprechen wir lieber über das zweite Stück.

Das Lied „Die Moorsoldaten* ist für mich ein ganz wichtiges kulturelles Erbe in Niedersachsen. Es stammt aus dem KZ Börgermoor im Emsland. Die KZ-Häftlinge habe es dort gesungen. Ich finde es beeindruckend, wie sich diese Menschen unter schlimmsten Bedingungen ihre Würde und ihre Zuversicht bewahrt haben. Darum war mir dieses Lied ein Herzensanliegen. Zuversicht ist ebenfalls etwas, das auch wir uns bewahren sollten. Wir haben bekanntlich gerade damit zu tun, unsere Demokratie zu verteidigen. Und „Won’t Forget These Days* von den Furys ist dann noch einmal sehr persönlich. Das Stück bringt meine momentane innere Befindlichkeit gut auf den Punkt. In der engeren Auswahl war auch noch ‚Hello, Goodbye‚ von den Beatles.

Was machen Sie, wenn Sie am Dienstagabend nach Hause kommen?

Ich schätze, ich setze mich mit meiner Frau zusammen ins Wohnzimmer, sie macht sich einen Wein auf und ich mir ein Bier, und dann kommen wir ein bisschen zur Ruhe. Im Moment fühlt sich das alles noch eher surreal an. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, bin ich hoffentlich schon mehr in der neuen Realität angekommen. Ich freue mich auf diese neue Zeit. Nach dem Übergang geht es für mich erstmal eine Woche auf Segeltour. Und wenn ich dann wiederkomme, beginnt das Leben ohne 80-Stunden-Woche.

Also nach dem Übergang einmal kurz so richtig durchlüften und dann folgt der Start in den Unruhestand. Wie lange werden Sie Einladungen in Talkshows ausschlagen?

Ich gehe stark davon aus, dass ich keine Einladungen mehr bekommen werde.

Der Lanz klang ein bisschen so beim letzten Mal, als wäre die nächste Einladung schon raus.

Normalerweise gilt in der Politik der Grundsatz: Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich glaube, das passiert auch ratzfatz. Da sollte man sich nichts vormachen. Abgesehen davon ist aber auch fraglich, ob man sich als ehemaliger Politiker noch ständig zu Wort melden sollte.

Wir haben schon einmal darüber gesprochen, dass Sie es nicht so sympathisch finden, wenn sich ehemalige Politikerinnen und Politiker ständig von der Seitenlinie mit guten Ratschlägen einmischen. Von der Sorte haben wir ja ein paar in Deutschland. Sie werden darauf verzichten?

Ich nehme mir zumindest vor, darauf zu verzichten.

Wobei es für mich auch ein bisschen auf den Zwischenrufer ankommt. Ich fand zum Beispiel die Initiative von Peer Steinbrück gar nicht so schlecht.

Im Gegenteil, ich finde die Vorschläge von Steinbrück, de Maizière, Voßkuhle und Jäkel sehr gut. Was sie vorschlagen, ist ja eine echte Staatsreform. Ich würde das meiste sofort unterschreiben. Aber das meine ich nicht mit den Seitenrufen. Es spricht nichts dagegen, sich mit seiner Expertise weiter einzubringen. Und es spricht auch nichts dagegen, gelegentlich Politik zu erklären. Aber es spricht eine Menge dagegen, es innerhalb der Tagespolitik von der Seitenlinie ständig besser zu wissen. Mich hat das immer genervt und ich habe die gute Absicht, mich daran nicht zu beteiligen. Den Gedanken, sich konstruktiv einzubringen, finde auch ich durchaus sympathisch. Und genau das war ja auch der Ansatz von Steinbrück und Co. So etwas kann man vielleicht auch nur im Ruhestand machen, weil man nicht zwischen allen Stühlen sitzt und 1000 Interessengruppen an einem zerren. Ich finde, das ist eine sehr kluge Initiative, der man nur sehr viel Erfolg wünschen kann.

Ich finde ja den Gedanken ganz spannend, dass sich ehemalige Politikerinnen und Politiker zusammenschließen, vielleicht zu einem Think-Tank der Altgedienten.

Sie meinen so eine Art Senat?

Ich würde mir einfach ein paar integre, ernsthafte Menschen über alle Parteien hinweg wünschen, die mit Haltung und ohne Populismus gelegentlich den Jüngeren mahnend die Hand auf die Schulter legen. Und zum Beispiel einem Jens Spahn sagen, was geht und was man besser lassen sollte.

Darüber machen sich in der Union gerade in der Tat einige Besonnene echte Sorgen. Es hat ja leider innerhalb der CDU eine fundamentale interne Veränderung gegeben. Der soziale Flügel und der liberale Flügel spielen faktisch keine Rolle mehr. Das beeinflusst auch die Positionierung der CDU im Parteiengefüge. Aber zurück zu ihrer Senat-Idee. Ich stehe dem mit einer gewissen Skepsis gegenüber. Es ist ja nicht so, dass man mit dem Alter weniger redet. Und peinlicherweise vor allem gerne über frühere eigene Verdienste. Insofern stelle ich mir eine solche Runde von Altgedienten ziemlich anstrengend vor. Und schon deshalb möchte ich mich einstweilen an so etwas nicht beteiligen. Wertvolle Erfahrungen müssen ja dennoch nicht verloren gehen. Die Initiative für einen handlungsfähigen Staat ist wirklich ein rühmliches Beispiel dafür, wie man es gut macht. Man hat aus der Summe der Erfahrungen in sich konsistente Vorschläge für die Gegenwart erarbeitet, nicht ohne einen kritischen Blick auf die eigene Arbeit und ohne Besserwisserei. Es wäre wünschenswert, wenn das Schule machte.

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Ein letztes Wort im Dezember

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Ein letztes Wort im Dezember


…… mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Stephan Weil (r) und Lars Kompa (l)

Herr Weil, wo fangen wir bloß an? Blicken wir zuerst nach Amerika. Hat Sie die Wahl Donald Trumps überrascht?

Überrascht konnte man davon eigentlich nicht sein. Ich hatte es befürchtet. Was mich dann aber doch überrascht hat, das war die Eindeutigkeit. Donald Trump hat die Wahl nicht knapp gewonnen, sondern sehr deutlich. Das hatte ich so nicht erwartet und das markiert jetzt eine echte Wende. Wir hatten es in den letzten Jahren mit einer rationalen US-Politik zu tun. Teilweise galt das sogar für die erste Amtszeit von Donald Trump, weil er damals noch Leute im Team hatte, die manche besonders absurden Entscheidungen verhindert haben. Wenn er jetzt aber umsetzt, was er im Wahlkampf angekündigt hat, und darauf deuten seine Personalentscheidungen momentan hin, dann stehen wir vor bedrohlichen Entwicklungen. Und das gilt international, aber auch insbesondere für Deutschland.

Die Eindeutigkeit ist wirklich beängstigend. Was hat die amerikanischen Wählerinnen und Wähler bewogen, so zu entscheiden? Hat da auch die mediale Manipulation eine Rolle gespielt?

Es hat in der Tat zahlreiche Versuch der Einflussnahme insbesondere über soziale Medien gegeben. Aber leider sieht es so aus, dass viele Leute Donald Trump wirklich wollen. Eine gewichtige Rolle hat dabei sicher die Frage der Migration gespielt. Aber zum Beispiel auch bei den Latinos, das haben Nachwahlerhebungen gezeigt, haben die Demokraten stark verloren, weil in dieser Bevölkerungsgruppe viele keine Frau im Amt sehen wollten. Diese Wahl war also kein Versehen. Wir müssen uns darauf einrichten, im Zweifel jetzt in Europa die Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten deutlich zu reduzieren. Dafür müssen wir etwas stärker werden bei der Landesverteidigung. Und das wird leider eine teure Tasse Tee werden.

Ein Hauptgrund scheint auch das fehlende Vertrauen der Menschen in die politische Eliten in Amerika zu sein. Die Mittelschicht in den USA hat ja in den vergangenen Jahren durchgängig verloren. Eine Ironie, dass sie nun ausgerechnet Donald Trump ins Amt gewählt haben …

Das mangelnde Vertrauen in die bislang in Washington Verantwortlichen mag ein Grund sein. Aber wir müssen auch einfach feststellen, dass sich die amerikanische Gesellschaft in einem viel größeren Ausmaß nach rechts entwickelt, als wir das wahrhaben wollten. Rund 80 Prozent der Deutschen haben sich gewünscht, dass Kamala Harris ins Amt gewählt wird. Die meisten Wählerinnen und Wähler in den USA haben das genau umgekehrt gesehen.

Kehren wir zurück nach Deutschland. Am Tag der Wahl Trumps ist dann auch noch die Ampel geplatzt. Fällt Ihnen ein noch schlechterer Zeitpunkt ein?

Manchmal kann man es sich nicht aussuchen. Und wirklich überrascht hat das ja niemanden mehr. Dass die Ampel geplatzt ist, das war doch nicht mehr zu vermeiden. Wir hätten sonst noch weitere zehn Monate ein sehr trauriges Schauspiel anschauen müssen. Wir wissen heute, das war eine geplante Inszenierung einer Partei, die raus aus der Bundesregierung wollte. Es ist gut, dass Olaf Scholz einen Schlussstrich gezogen hat. Ein „weiter so“ hätte unser Land ganz sicher nicht mehr vorangebracht.

Jetzt wird es am 23. Februar Neuwahlen geben, wir sind schon mitten im Wahlkampf. Und das Getöse war und ist bereits groß. Scholz basht Lindner, Lindner basht Scholz, es wird um den Wahltermin gestritten, die SPD hat eine Zeit lang lautstark über den besseren Kanzlerkandidaten diskutiert. Ich habe eben das Stichwort „Vertrauen“ genannt. Was glauben Sie, was das alles anrichtet?

Vertrauensbildend war das natürlich nicht, da muss ich Ihnen leider recht geben. Wobei ein bisschen Getöse ja zum Wahlkampf dazugehört. Aber ich hoffe sehr, dass wir jetzt schleunigst zurückkehren zu den Inhalten. Die Kandidatenfrage ist entschieden, jetzt geht es um die besten Konzepte. Die Bürgerinnen und Bürger finden es, das ist meine regelmäßige Erkenntnis aus Bürgerversammlungen, ziemlich überflüssig, wenn Politik sich nur mit sich selbst beschäftigt. Sie wollen auch keine plumpen Parolen und keine unrealistischen Versprechungen. Sie wünschen sich, dass man auf ihre echten Probleme eingeht und realistische Lösungen und gute Perspektiven für unser Land anbietet. Genau darauf wird sich die SPD jetzt im Wahlkampf konzentrieren.

Bisher geht es ja eher darum, wer wann aktiv gegen die Ampel gearbeitet hat und welche Rede vorbereitet war. Über Probleme wird auch gerne gesprochen. Nur über Lösungen habe ich bisher wenig gehört. Es steht ja eigentlich unglaublich viel auf der To-Do-Liste: Europa, Wirtschaft, Infrastruktur, aber auch Umwelt, Bildung, Gerechtigkeit …

Das war so, als das Ende der Ampel noch sehr frisch war. Inzwischen ist das abgehakt, so scheint mir, und alle gucken nach vorne.

Wir müssen ran an die Schuldenbremse, das ist das erste, oder?

Ja, aber eine Reform der Schuldenbremse ist nur ein Mittel zum Zweck. Mir geht es um Investitionen, die dringend nötig sind. Ich war in Hannover zehn Jahre Kämmerer und Sie können mir glauben, dass ich keine besonders ausgesprägte Sympathie für öffentliche Schulden habe. Im Gegenteil, man muss sie schließlich verzinsen und zurückzahlen. Aber wir haben offenkundig einen riesigen Nachholbedarf bei den Investitionen, und zwar zeitgleich in unterschiedlichen Bereichen. Helmut Schmidt wird aus seiner Zeit als Bundeskanzler der Satz zugeschrieben, die Bundesrepublik könne sich nur eines leisten – Bundeswehr oder Bundesbahn. Wir haben uns bedauerlicherweise viele Jahre lang beides nicht so recht geleistet. Jetzt müssen wir in beiden Bereichen sehr viel Geld in die Hand nehmen. Und das ist ja nicht alles. Wir müssen uns beispielsweise auch fragen, wie wir es trotz der sehr notwendigen CO2-Reduzierung hinbekommen, Deutschlands wirtschaftliche Stärke nicht zu gefährden. Da braucht es zumindest für einen Übergangszeitraum eine deutliche Unterstützung für die betroffenen Industrien. Die müssen sehr oft sehr viel investieren und stehen gleichzeitig in einem internationalen Wettbewerb. Wenn wir jetzt nicht die richtigen Weichen stellen, wird es nicht billiger, sondern viel teurer. Weitere Fehlentwicklungen würden uns unaufhaltbar zurückwerfen. Insofern ist die Frage einer Überarbeitung der Schuldenbremse tatsächlich eine echte Schlüsselfrage. Wir müssen investieren, wir müssen nach vorne kommen. Wir sind, wenn ich es recht sehe, das einzige entwickelte Industrieland, das es momentan mit Sparen versucht. Und das, obwohl Deutschland unter den entwickelten Industrieländern eine der niedrigsten Verschuldungsraten hat.

Aber mehr Geld löst auch nicht alle Probleme.

Das ist richtig, und man sollte es mit den Schulden auch nicht übertreiben. Aber wir müssen wieder handlungsfähig werden. Alle anderen gehen entschlossen voran, nur wir nicht. Das sieht man übrigens sehr deutlich an den Wirtschaftsdaten. Es ist nicht so, dass die Weltwirtschaft momentan ein besonderes Problem hätte. Sie wächst und die meisten Länder, mit denen wir uns vergleichen können, kommen in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gut voran. Nur Deutschland nicht.

Aber wenn es nicht gleichzeitig gelingt, die Bürokratie zurückzuschrauben, wird auch viel Geld wenig ausrichten.

Das Thema Überregulierung muss definitiv auf die Agenda. Die hinter den einzelnen Regelungen stehenden Absichten sind eigentlich immer gut gemeint. Aber die Summe aller guter Absichten führt dazu, dass ganz viel blockiert wird. Das ist schwer aufzulösen, auch weil die Regulierungen ganz unterschiedlich Ursprünge haben. Europa, Bund, Länder, Kommunen, Gerichte – es ist ein fast undurchdringliches Dickicht an komplizierten Regeln und Formvorschriften entstanden. Da müssen wir ran. Und das geht auch, siehe die Änderungen bei den Regeln für die Planung großer Infrastrukturvorhaben. Da hatte sich manches Vorhaben zur Generationenaufgabe ausgewachsen. Die Planungsverfahren haben wir nun vom Kopf auf die Füße gestellt, sie sind wesentlich schlanker und kürzer geworden. Das müssen wir auch in anderen Bereichen hinbekommen.

Das höre ich nur leider seit 20 Jahren. Können Sie verstehen, dass mir ein bisschen der Glaube fehlt? 

Natürlich kann ich das verstehen. Aber es muss geschehen, die Überregulierung ist eine unserer größten Schwachstellen. 

Mit Olaf Scholz?

Ja, genau mit Olaf Scholz! Das steht auch bei ihm ganz oben auf der Agenda.

Interview: Lars Kompa

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Ein letztes Wort im Oktober

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Ein letztes Wort im Oktober


Stephan Weil (r) und Lars Kompa (l)

mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Herr Weil, wir haben es hinter uns – und vor uns. Die Wahlen in Sachsen und Thüringen sind gelaufen, jetzt droht zum Zeitpunkt unseres Gesprächs noch Brandenburg. Lassen Sie uns zuerst über die zwei Ergebnisse sprechen. Was passiert da gerade im Osten Deutschlands? Oder passiert da sogar etwas in ganz Deutschland?

Das ist natürlich kein exklusiv ostdeutsches Problem, sondern ein gesamtdeutsches, aber im Osten haben wir schon ein anderes Niveau, das muss man klar feststellen. Einzig die CDU-Ergebnisse liegen mehr oder weniger im Bundesdurchschnitt. Bei allen anderen Parteien sind die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen entweder nach oben oder nach unten total abweichend von dem, was sie auf der Bundesebene erreichen. Die SPD kam nur knapp über 6 Prozent. Bei den Grünen und der FDP sieht es noch desaströser aus. Während das BSW aus dem Stand ein zweistelliges Ergebnis erreicht hat. Es wäre jetzt falsch daraus zu schließen, dass es solche Ergebnisse mal in ganz Deutschland geben könnte. Aber wenn in einem Land wie Thüringen ein Landesverband der AfD stärkste Kraft werden kann, eine als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei mit einem Faschisten an der Spitze, dann finde ich das wirklich sehr bedrückend.
Ich hoffe wirklich, dass das keine Schule macht. Aber dafür werden alle auch etwas tun müssen.

Die SPD ist mit einem blauen Auge davongekommen, aber das ist schon ein sehr dunkles Blau, oder?

Ja, da muss man auch gar nicht groß drumherum reden. Wobei ich hohen Respekt vor der Arbeit der SPD-Leute in Sachsen und Thüringen habe. Die haben mit ungeheuer viel persönlichem Einsatz gekämpft. Und ich habe mich gefreut, dass es sich dann doch gelohnt hat und für die SPD die ganz große Katastrophe ausgeblieben ist. Ein Wahlkampf in Sachsen und vor allem auch in Thüringen ist schon deutlich anders als hier in Niedersachsen. Ich war ja vor Ort und es herrschte teilweise schon eine bedrückende Atmosphäre. Aber noch einmal zum Ergebnis: Natürlich kann die SPD nicht zufrieden sein. Mit solchen Werten ist es relativ schwer, von sich zu behaupten, eine Volkspartei zu sein.

Aus der Wirtschaft kamen ja schon vor der Wahl sehr deutliche Worte. Nicht wenige Unternehmen überlegen, sich dort nun zurückzuziehen.

Es gehört für mich zu den wenigen positiven Nachrichten aus dem Wahlkampf in Ostdeutschland, dass sich die Wirtschaft zum ersten Mal sehr klar positioniert hat. Beispielsweise hat der Chef von Jenoptik das Problem sehr deutlich angesprochen und sinngemäß gefragt, wie er künftig eine muslimische Ingenieurin überzeugen soll, in ein ostdeutsches Land zu kommen. Das bringt die Sache auf den Punkt. Wir werden in Zukunft zwingend deutlich mehr Beschäftigte mit ausländischen Wurzeln brauchen, schon jetzt bremst der Fachkräftemangel die wirtschaftliche Entwicklung. Wir benötigen also eine kontrollierte und gesteuerte Zuwanderung. Das passt aber nun so gar nicht zu einer ausländerfeindlichen Grundstimmung, wie sie die AfD und in Teilen auch das BSW verbreiten. Wir sprechen ja über gut qualifizierte Menschen, die es sich aussuchen können, in welches Land sie auswandern.

Der Grundsound verschiebt sich ja schon seit einer Weile. Die AfD setzt die Themen und alle rennen hinterher. Bei der CDU ist es momentan völlig aus dem Ruder gelaufen. Man fordert jetzt populistisch Maßnahmen, die rechtlich total fragwürdig sind …

Die CDU will einfach alle, die an den deutschen Grenzen auftauchen, gleich wieder zurückschieben. Und das lässt das europäische Recht schlichtweg nicht zu. Es gibt dazu sehr klare Aussagen, beispielsweise des Europäischen Gerichtshofs. Und dann fordert Friedrich Merz, dass Deutschland eben mal den Notstand ausruft. Abgesehen davon, dass ich sehen möchte, dass der bayerische Innenminister für sein Land erklärt, die Sicherheit und Ordnung nicht mehr aufrechterhalten zu können, glaube ich nicht, dass uns diese Notlage von der EU bestätigt wird.
Die Zahl der Asylbewerber ist gegenüber dem Vorjahr deutlich rückläufig. Dass Merz trotzdem Ultimaten stellt und anderen Demokraten die Türen vor der Nase zuschlägt, ist nur Wasser auf die Mühlen der AfD. Das finde ich in einer solchen Situation, wie wir sie derzeit erleben, wirklich fatal.

Wenn ständig nur noch von Notlagen gesprochen wird, von einem Ausnahmezustand, dann erzeugt das Angst. Und Angst ist generell kein guter Berater …

Wobei wir Probleme schon benennen müssen. Die Kommunen stehen tatsächlich sehr unter Druck. Aber dieser Grundsound und dieses Schüren von Angst ist dennoch fatal und spricht für fehlendes Verantwortungsbewusstsein. Es ist ja so, dass in größeren Teilen der Bevölkerung das Vertrauen in die Kompetenz des Staates zur Lösung der Probleme derzeit doch sehr begrenzt ist. Dieses Vertrauen gewinnt man aber nicht durch vollmundige Versprechungen zurück, die ohnehin nicht einzuhalten sind. Das schafft man nur durch Taten und Fortschritte.
Im Herbst des letzten Jahres haben Bund und Länder gemeinsame Beschlüsse gefasst und wir sehen, dass wir in diesem Jahr bereits deutlich weniger Asylgesuche registrieren. Natürlich, das reicht noch nicht. Mittlerweile genießt nur noch die Hälfte der Geflüchteten ein Schutzrecht. Deshalb müssen wir sehr genau unterscheiden: Schutz müssen jene bekommen, die Schutz brauchen. Aber diejenigen, die durch irreguläre Migration ins Land kommen, können nicht bleiben. In diesem Zusammenhang jedoch über rechtlich mehr als fragwürdige Zurückweisungen an der Grenze zu schwadronieren, ist keine gute Idee.

Kommen wir noch einmal auf den veränderten Grundsound zurück. Würden Sie heute noch in einer Bürgerversammlung sagen, dass wir in Deutschland eine Willkommenskultur brauchen? Dass wir attraktiv sein müssen für gut ausgebildete Menschen, die kommen und gerne bleiben?

Das sage ich überall. Und das steht auch nicht im Widerspruch zu dem, was ich eben gesagt habe. Wir brauchen mehr kontrollierte Zuwanderung und wir müssen die irreguläre Zuwanderung so gut wie möglich stoppen.
Deutschland hat den großen Fehler gemacht, jahrzehntelang so zu tun, als seien wir kein Einwanderungsland. Das war immer eine Illusion. Deshalb komme ich mal zu einem Erfolg der Ampelregierung in Berlin: Sie hat mit dem neuen Einwanderungsrecht eine wesentlich bessere Grundlage für kontrollierte Zuwanderung geschaffen.
Wenn ich mich recht entsinne, ist inzwischen jeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland von Menschen mit migrantischen Wurzeln besetzt – viele Bereiche von Krankenhäusern bis hin zu Forschungseinrichtungen müssten ohne diese Arbeitskräfte schließen.

Das ist so, und Deutschland wird momentan gleichzeitig immer ausländerfeindlicher. Wie bekommt man das jetzt wieder gedreht? Der Geist ist aus der Flasche … Ich höre immer, man müsse jetzt eine „bessere Politik“ machen. Was wäre denn eine „bessere Politik“?

Das geht mit der Kommunikation los. Man muss mit den Streitereien aufhören, aber diesen Appell mag man mittlerweile ja auch schon nicht mehr hören. Alle sind gefordert an guten Lösungen zu arbeiten. Ich finde zum Beispiel das Sicherheitskonzept gut, das die Ampel nach der Messerattacke in Solingen auf den Tisch gelegt hat. Punkt.
Die Leute erwarten in diesen Zeiten vom Staat Schutz und Sicherheit. Wir müssen liefern. Vieles muss auch einfacher und schneller werden, Stichwort Arbeitsmarktintegration. Geflüchtete mit Bleibeperspektive sollten möglichst zügig arbeiten und nebenbei Deutsch lernen können – im Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen lernt man die Sprache auch viel schneller. Wenn sich dann herumspricht, dass die Leute typischerweise für ihr Geld arbeiten und nicht von Steuergeldern leben, wird das auch die Akzeptanz erhöhen.
Momentan haben die wirklich guten Ansätze leider noch viel zu oft Projektcharakter. Wir werden darum jetzt im Herbst mit einer größeren Initiative auch in Niedersachsen antreten, um Geflüchtete wesentlich früher in die Betriebe zu bekommen. Wir müssen einfach in vielen Dingen sehr viel pragmatischer werden.

Interview: Lars Kompa

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Ein letztes Wort im September

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Ein letztes Wort im September


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Stephan Weil (r) und Lars Kompa (l)

Herr Weil, wie war der Urlaub?
Sehr schön! Ich kann nicht meckern. Ich war mit meiner Frau unterwegs, wir haben es uns wirklich gut gehen lassen: Gut gegessen und getrunken, schöne Landschaften genossen, ein bisschen gewandert, viel gelesen, alles fein.

Haben Sie wirklich entspannen und abschalten können? Gleichzeitig gab es ja zum Beispiel in Deutschland schon wieder die Querelen um den Haushalt, nachdem der bereits beschlossen war.
Inzwischen ist man das ja leider schon gewohnt. Und ich habe in den letzten Jahren dazugelernt, ich ärgere mich nicht mehr so schnell.

Bei mir ist es inzwischen mehr Verzweiflung als Ärger. Ich verstehe beispielsweise so gar nicht mehr, was die FDP eigentlich umtreibt.
Schwer zu begreifen ist jedenfalls dieses wiederholte Schauspiel eines feierlichen Verkündens einer Einigung und knapp zwei Wochen später das Abräumen dieser Einigung auf offener Bühne. Bei mir schwindet allmählich die Hoffnung, dass sich daran noch etwas ändern wird. Appelle gab es genug, immer wieder Mahnungen, Diskussionen oder auch Streitigkeiten doch bitte intern und geräuschlos auszutragen. Genützt hat es wenig.

Ich verstehe ja, dass auch die FDP im Wahlkampf ist vor den Landtagswahlen, so wie die anderen Parteien, aber wenn die FDP dann mit so einem Pro-Auto-Programm um die Ecke kommt, lässt mich das wirklich ratlos zurück.
Ich habe mich auch gefragt, was das sollte, und ich habe keine plausible Antwort gefunden. Was soll dieser Plan für den Wahlkampf bringen? Zumal es sich dabei um ein kommunalpolitisches Thema handelt. Ich glaube, die Leute im Osten Deutschlands haben ganz andere Sorgen und die FDP rangiert in diesen Ländern inzwischen unter den Sonstigen. Mir kommt das alles vor wie ein wildes Flügelschlagen, in dem Versuch, irgendwie irgendwo Zuspruch zu erzielen. Pro-Auto, Kürzungen des Bürgergeldes, Schuldenbremse – all diese Positionen werden ja wie eine Monstranz vor sich hertragen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das bei Wählerinnen und Wählern verfängt. Eher im Gegenteil. Aber die Schlussfolgerung der FDP scheint zu sein, irgendwie immer so weiterzumachen, koste es, was es wolle.

Ich finde die Diskussionen um das Bürgergeld teilweise arg populistisch.
Das sind sie, Populismus auf dem Rücken der Schwachen. Politik soll und muss die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigen. Die Karlsruher Richter haben entschieden, dass in jedem Fall das Existenzminimum gewährleistet sein muss. Das wiederum wird nach bestimmten Regeln festgelegt, insofern gibt es in Bezug auf die Höhe von Sozialtransfers einen relativ engen Handlungsspielraum. Würde man aus einer Wahlkampflaune heraus, einfach mal X Euro streichen, würde das zu Recht in Karlsruhe sofort kassiert werden. An solchen Beispielen kann man gut sehen, was der Begriff Populismus eigentlich meint: Man sagt Dinge, von denen man denkt, dass sie gut ankommen, obwohl man es besser weiß. Damit macht man den Leuten nur etwas vor, man täuscht sie.

Was mir bei den Diskussionen ums Bürgergeld Sorgen macht, ist dieses fortwährende Befeuern der Neiddebatte. Die einen arbeiten und bekommen zu wenig, während die anderen faul sind und trotzdem viel bekommen. Damit wird polarisiert. Das spaltet. Wobei die Wirklichkeit natürlich sehr viel differenzierter ist. Die Zahl der Leute, die sich wirklich gemütlich in die soziale Hängematte legen, ist ja sehr überschaubar.
Das stimmt, dennoch muss man bei diesem Thema genau hinsehen, denn es geht um Gerechtigkeit. Und wenn es da Schieflagen gibt, müssen die abgestellt werden. Einige Korrekturen sind richtig und notwendig, damit diejenigen, die zumutbare Arbeit ablehnen, Konsequenzen spüren. Und wer Geld vom Staat bekommt, nebenher aber schwarz arbeitet und ein gutes Leben führt auf Kosten der Allgemeinheit, der muss sanktioniert werden. Der Abstand beim Einkommen zu jenen, die im Niedriglohnbereich voll arbeiten gehen, ist in bestimmten Konstellationen zu gering. Was allerdings auch heißt, dass es neben Sanktionen auf der einen Seite eine Erhöhung des Mindestlohns auf der anderen Seite geben muss. Das wird bei der Diskussion aber gerne ausgeklammert. Es gibt in Deutschland viel zu viele Menschen, die voll arbeiten, aber dennoch keine anständige Altersversorgung aufbauen können.

Müssten wir nicht eigentlich auch viel mehr über die Reichen reden? Gerade gab es ja wieder so eine Diskussion der G20-Finanzminister, leider nur mit einer Absichtserklärung. Diskutiert wurde eine Steuer von 2 Prozent für Superreiche. Das brächte weltweit etwa 250 Milliarden Dollar pro Jahr.
Ich hätte damit überhaupt kein Problem. Wir haben aus Niedersachsen vor sieben Jahren mal einen klugen Vorschlag für eine Änderung des Einkommenssteuertarifs gemacht und insbesondere eine Superreichensteuer gefordert. Womit man bei vielen Superreichen übrigens durchaus auf Zustimmung stößt. Einige sagen, dass man gerne das monatliche Einkommen höher besteuern könne, wenn man gleichzeitig die Substanzbesteuerung in Grenzen hält. Denn in vielen Fällen steckt das Vermögen, über das wir reden, in Unternehmen, und ist damit auch Grundlage für Arbeitsplätze. Also, darüber könnte man sprechen und mit den vernünftigen reichen Leuten wahrscheinlich auch einen Konsens herstellen. Aber mit einem FDP-Finanzministerium ist über solche Ideen nicht zu reden.

Den Vorschlag der 2-Prozent-Reichensteuer hat die FDP direkt im Anschluss an das Treffen in Rio „nicht zielführend“ genannt. Fertig waren sie mit der Diskussion. Aber ich finde, dass auch die SPD bei diesem Thema zu leise bleibt.
Ja, da gehe ich mit, das ist ein Defizit meiner eigenen Partei. Man kann über mehr Konsequenz beim Bezug von Bürgergeld reden, aber man muss sich dann auch die andere Seite der Medaille ansehen.

Das klingt ja schon fast nach einer Agenda.

Naja, die SPD ist seit vier oder fünf Bundestagswahlkämpfen mit der Forderung nach einer Vermögenssteuer in den Wahlkampf gegangen. So wahnsinnig viel geholfen hat das nicht. Man hat mit dieser Forderung typischerweise regelmäßig Zustimmung in Umfragen, aber im Wahlergebnis schlägt es sich nicht nieder.

Vielleicht muss man die Forderung einfach ein bisschen lauter vertreten? Wenn wir uns jetzt noch schnell darauf einigen, die Schuldenbremse zu schleifen, bin ich für heute zufrieden.
Ich möchte die Schuldenbremse aber gar nicht schleifen. Wir müssten sie allerdings dringend reformieren. Für die Abschaffung bräuchte es ohnehin eine Zweidrittelmehrheit, die ist völlig unrealistisch. Aber für eine Modifizierung plädieren inzwischen auch viele, die früher nichts ändern wollten – etwa große Teile der Wirtschaft und große Teile der Wirtschaftswissenschaften. Es ist völlig klar, dass wir es mit diesem engen finanzwirtschaftlichen Korsett nicht hinbekommen werden. Alle anderen entwickelten Industriegesellschaften investieren gerade und Deutschland versucht durch Sparen voranzukommen. Diese Rechnung kann nicht aufgehen. Es führt kein Weg daran vorbei: wir müssen Investitionen nachholen, damit Deutschland wettbewerbsfähig bleibt. Das wird eine enorme Kraftanstrengung über 10, vielleicht auch 20 Jahre. Darüber muss geredet werden. Aber wenn überall ein Stoppschild namens Schuldenbremse steht, dann wird es nicht weitergehen. Womit wir wieder am Anfang unseres Gesprächs wären. Ich glaube, dass der Kurs von Christian Lindner direkt in eine Sackgasse führt. Davon bin ich leider absolut überzeugt.

Die schwäbische Hausfrau sollte in Rente gehen?
Die schwäbische Hausfrau ist eine kluge Frau, die repariert auch ihr Haus, wenn es durchregnet. Für eine Reform der Schuldenbremse sind inzwischen sogar die Wirtschaftsweisen, und die stehen wirklich nicht unter dem Verdacht, links zu sein. Viele Menschen, die sich früher ganz klar in die Fankurve zur Schuldenbremse gestellt haben, sind in letzter Zeit sehr nachdenklich geworden. Nach meiner tiefen Überzeugung zweifeln inzwischen auch große Teile der FDP daran, ob diese Schuldenbremse in der jetzigen Form der Weisheit letzter Schluss ist. Aber man hat sie eben über Jahre gehütet wie den heiligen Gral. Wahrscheinlich geht es jetzt vor allem um Gesichtswahrung. Aber die Entwicklung in Deutschland ist zu wichtig, als dass man jetzt Rücksicht auf die Befindlichkeit einer Partei nehmen könnte.

Interview: Lars Kompa

 

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Ein letztes Wort im Juni

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Ein letztes Wort im Juni


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Stephan Weil (r) und Lars Kompa (l)

Herr Weil, wir führen unser Interview knapp einen Monat vor der Europawahl, der Wahlkampf läuft auf Hochtouren. Und die Stimmung ist aktuell teils ausgesprochen aggressiv, Politikerinnen und Politiker werden angegriffen, während sie ihre Plakate aufhängen wollen, es gibt Diffamierungen und Übergriffe auf allen Ebenen. Wir lesen und hören eigentlich jede Woche von Gewalttaten. Der sächsische Europa-Abgeordnete Matthias Ecke ist sogar krankenhausreif geschlagen worden. Was macht das mit Ihnen ganz persönlich? Haben Sie bei öffentlichen Auftritten jetzt neuerdings ein mulmiges Gefühl?
Nein, mit mir persönlich macht das relativ wenig, weil Ministerpräsidenten ja gut geschützt sind. Aber ich weiß, dass zum Beispiel Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker immer wieder beleidigt und bedroht werden und die haben keinen solchen Schutz, wie ich ihn habe. Oder denken Sie an Einsatzkräfte von Rettungsdiensten, da gab es zuletzt leider auch in Niedersachsen wieder Meldungen über Angriffe – das sind Nachrichten, die gehen auch mir unter die Haut.

Wie geht’s denn Ihrer Security-Mannschaft bei Ihren öffentlichen Auftritten? Sie sind ja niemand, der den Leuten aus dem Weg geht. Für Ihr Sicherheitsteam ist es gerade Stress pur, oder?
Nun, das müssten die Personenschützerinnen und Personenschützer des LKA eigentlich selbst beantworten. Grundsätzlich hat jeder Beruf seine Risiken. Gleichwohl haben wir in Niedersachsen sicherlich andere Verhältnisse, als sie uns aus Sachsen berichtet werden. Nach dem Anschlag auf Matthias Ecke ist ja bekannt geworden, dass dort nahezu täglich Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer drangsaliert werden und welche bedrohliche Atmosphäre dort im Wahlkampf herrscht. Das ist schwer erträglich, zum Glück gibt es in dieser Hinsicht doch deutlich bessere Verhältnisse in Niedersachsen.

Ich stelle es mir nicht so einfach vor, bei all dem, was so passiert, keine Angst zu bekommen, also standhaft zu bleiben und nicht zurückzuweichen, und das vor allem auf der lokalen Ebene. Übergriffe gab es auch in der Vergangenheit, aber das alles erreicht gerade ein neues Level. Und die ehrenamtlichen Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer haben – wie sie eben gesagt haben – keine Security …
Ja, das ist auch der Teil, der mir wirklich große Sorgen macht. Unsere politische Ordnung geht ja davon aus, dass am Ende das Volk entscheidet und die Parteien an der Willensbildung des Volkes mitwirken. Dies tun sie durch viele ehrenamtlich engagierte Menschen, die in Wahlkämpfen mithelfen. Wenn es die nicht mehr geben würde, dann würde unsere Demokratie großen Schaden nehmen. Hinzu kommt: Wir brauchen auch engagierte Personen, die für Mandate kandidieren wollen, wenn es etwa bei Kommunalwahlen um die Besetzung von Ortsräten, Räten und Kreistagen geht. Wirklich besorgniserregend finde ich, dass viele Angriffe, von denen wir hören, nicht spontan passieren, sondern diese auch geplant sind. Menschen, die sich für unsere Gesellschaft einsetzen, sollen eingeschüchtert werden. Das werden und dürfen wir nicht zulassen. Solche Angriffe sind ein Anschlag auf unsere Demokratie!

Mich erinnert das tatsächlich an sehr dunkle Zeiten in Deutschland. So ähnlich hat es damals angefangen.
Naja, ganz so schwarz würde ich das nicht sehen. Richtig ist, dass der Ton und das Klima wesentlich rauer geworden sind in der politischen Auseinandersetzung. Gleichzeitig hatten wir aber zu Beginn dieses Jahres riesige Demonstrationen, bei denen wir gesehen haben, dass wirklich eine breite Mehrheit der Gesellschaft hinter unserer Demokratie steht und beispielsweise auch Gewalt ablehnt. Umgekehrt darf man aber auch nicht die Augen davor verschließen, dass nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Stimmungslage in der Bevölkerung, fast 13 Prozent der Befragten gesagt haben, sie würden der Aussage voll oder eher zustimmen‚ dass manche Politikerinnen und Politiker sich nicht wundern dürften, wenn es dann auch mal zu Gewalt käme – vor zwei Jahren war diese Zustimmung wesentlich geringer. Das zeigt, dass tatsächlich die Temperatur angestiegen ist. Wir müssen das sehr ernst nehmen, aber ein Vergleich mit der Weimarer Republik erscheint mir übertrieben.

Ich habe neulich versucht, jemandem zu erklären, dass aus meiner Sicht solche Angriffe nie in Ordnung sind. Dass also auch Übergriffe und körperliche Angriffe Richtung AfD nicht in Ordnung sind. Helfen Sie mir mal, diesen Standpunkt zu begründen …
Das ist relativ einfach: Unsere Demokratie beruht darauf, dass wir miteinander streiten, aber mit Argumenten und ohne Gewalt. Dieser Grundsatz gilt für alle und damit auch für die AfD. Und deswegen habe ich kein Verständnis gegenüber Gewalt an AfD-Mitgliedern. So sehr ich diese Partei politisch bekämpfe – auch deren Mitglieder haben einen Anspruch darauf, dass sie ihrer politischen Tätigkeit ohne Angst vor Gewalt nachgehen können.

Eine Demokratie muss also auch die Feinde der Demokratie aushalten, solange die sich im Rahmen der Verfassung bewegen. Das scheint aber zunehmend eine Herausforderung zu sein. Die Demokratie erlebt Druck vom linken und rechten Rand und neuerdings wird auch noch ein Kalifat gefordert. Mir kommt es so vor, als ob immer mehr Menschen unserer Demokratie nicht mehr viel abgewinnen können.
Richtig ist leider, dass das Vertrauen in die demokratischen Institutionen gesunken ist – das wissen wir auch aus Forschungsstudien und das ist ein Punkt, der uns allen Sorgen machen muss. Dennoch steht die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft unverändert zu unserer Demokratie, bei allen Macken, die diese auch haben mag – niemand wird behaupten, dass unser politisches System fehlerfrei wäre. Wie bereits erwähnt, kommt es vor allem darauf an, dass die Demokratinnen und Demokraten sich zeigen und deutlich machen: Wir sind viel, viel mehr und wir lassen nicht zu, dass das Klima durch deutlich kleinere, radikale Gruppen dominiert wird. Das ist etwas, was ich mir nicht nur wie am Jahresanfang bei Demonstrationen wünsche, sondern was das ganze Jahr durchgängig in unserer Gesellschaft präsent sein sollte.

Überzeugen Sie mal mich, in die Politik einzusteigen. Keine Angst – nur theoretisch.
Schade eigentlich! Sie würden eine Menge mitbringen, Herr Kompa. Es ist eigentlich relativ einfach. Ich bin seinerzeit in die SPD eingetreten, als mir klar wurde, dass punktuelles Engagement für ein Thema oder eine Sache sehr wertvoll ist, aber am Ende des Tages lebt eine Demokratie davon, dass auch dauerhaft Verantwortung übernommen wird. Man kann Parteien mit Fug und Recht kritisieren, einstweilen haben wir aber kein besseres Modell, wie diese dauerhafte Verantwortung organisiert werden soll. Parteien sind extrem davon abhängig, dass sie der Ort sind, wo sich viele Bürgerinnen und Bürger engagieren und sich einbringen. Wenn das nicht geschieht, dann trocknet die Demokratie gewissermaßen von unten aus. Deshalb wünsche ich mir ein großes Engagement und würde mich selbstverständlich auch über den Kollegen Kompa sehr freuen.

Sind Sie auch für härtere Strafen, angesichts der Übergriffe? Das wird ja jetzt vielfach gefordert.
Nun, die erste reflexhafte Reaktion ist häufig die Forderung nach härteren Strafen, meistens ist damit ein größerer Strafrahmen gemeint. Aber der Strafrahmen ist häufig gar nicht entscheidend, sondern die Strafe im Einzelfall. Unsere Justizministerin Kathrin Wahlmann hat, wie ich finde, einen sehr klugen Vorschlag gemacht: Bei den Strafzumessungsgründen, die wichtig für die konkrete Strafe sind, soll eine demokratiefeindliche Gesinnung mit berücksichtig werden. Das finde ich ausdrücklich richtig. Angriffe auf die Demokratie müssen auch durch spürbare Strafen geahndet werden – das gehört zu einer wehrhaften Demokratie.

Es wäre doch jetzt eigentlich an der Zeit, verbal abzurüsten und zu deeskalieren, oder? Aber wenn ich mich in der Politik so umsehe, habe ich da wenig Hoffnung. Inzwischen polemisieren auch bürgerliche Parteien der Mitte, was das Zeug hält. Ein echtes Spiel mit dem Feuer …
Dieses Risiko sehe ich auch. Es ist interessant, wenn man sich das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster anschaut bezüglich der Verfassungsschutzmaßnahmen gegen die AfD. Darin gibt es rauf und runter Zitate, die die Stimmung anheizen und insbesondere auch die Ausländerfeindlichkeit dieser Partei zum Ausdruck bringen.

Wenn man will, dass das Klima sich ändert, dann muss man zunächst bei sich selbst beginnen und vielleicht mal statt der knackigsten, zugespitzten Formulierung die sachlichere Variante wählen. Ich gebe mir da große Mühe und finde das auch angemessen. Ich würde mich sehr freuen, wenn alle Menschen in der Politik – egal aus welchen Parteien – endlich mal aufhören würden immer die maximal griffigste Formulierung zu wählen, die häufig auch verletzend ist und häufig auch schlichtweg falsch ist – auch das würde unserer Demokratie guttun: Streit in der Sache, aber in einem vernünftigen Ton.

Interview: Lars Kompa

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