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Stadtkinder streuen Gerüchte: Eine pragmatische Lösung

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Stadtkinder streuen Gerüchte: Eine pragmatische Lösung



So geht es absolut nicht weiter in der Ostsee! Ständig vergisst irgendein betrunkener Kapitän irgendeines Tankers den Anker, der dann den Meeresboden durchpflügt und diverse Kabel beschädigt. Die machen das bestimmt gar nicht extra. Man muss ja nicht allen Menschen gleich schlechte Absichten unterstellen. Okay, vielleicht gibt es ein paar schwarze Schafe, die Böses im Schilde führen. Und vielleicht ist der eine oder andere unterbezahlte Kapitän auch daran interessiert, das Kupfer aus den Kabeln zu verkaufen. Blöd, wenn er dann ein Glasfaserkabel erwischt. Aber das werden ja Ausnahmen sein. Die Krux ist, dass man als Kapitän gerne mal den Anker vergisst. Wer kennt das nicht? Und dann wundert man sich vielleicht, dass man ein bisschen langsamer unterwegs ist, bis man merkt, dass irgendwas am Haken hängt. Passiert. Und passiert vor allem, weil man die diversen Kabel am Meeresboden ja nicht sieht. Die sind meist im Schlamm verborgen, unsichtbar für die Kapitäne der Weltmeere, beziehungsweise der Ostsee. Was also tun? Okay, Xi Jinping und Wladimir Putin könnten mal ihren Kapitänen ins Gewissen reden. Weniger Alkohol, mehr Achtsamkeit. Aber man kennt ja diesen Schlag. Die senken schuldbewusst das Haupt, lassen den Ärger über sich ergehen, kratzen sich verlegen den Bart, aber wenn sie dann wieder unterwegs sind, die Nase im Wind, dann ist der Rüffel schnell vergessen. Es nützt also alles nichts, jetzt sind pragmatische Lösungen gefragt. Denn die Kabel sind ja wichtig, da hängt eine Menge Wirtschaftskraft dran. Und das alles ist ja auch eine Frage der Sicherheit. Freunde, die nicht miteinander kommunizieren können, sind im Zweifel allein, wenn ein Feind an die Tür klopft. Man hat natürlich schon einige Ideen durchgespielt. Abgerichtete Delphine als Wachhunde, Unterwasserdrohnen, die grundsätzlich alle Schiffe begleiten, die auf der Ostsee unterwegs sind, Stahlröhren, die die Kabel gegen Anker schützen. Aber die richtig große Lösung ist das alles nicht. Darum hat man sich nun entschlossen, einen ganz neuen Weg zu gehen. Schweden und Lettland werden demnächst das erste Überseekabel verlegen. „Wir arbeiten mit schwimmenden Masten, die auf dem Meer verankert werden. Das sind eigentlich ganz normale Freileitungsmasten, wie man sie vom Land kennt. Die sind dann auch für total besoffene Kapitäne gut sichtbar und wir können die gesamte Strecke dazu lückenlos überwachen, da reichen ja einfache Kameras. Wenn sich dann jemand an unseren Kabeln zu schaffen macht, werden wir das sofort registrieren“, so berichtet uns ein beteiligter schwedischer Ingenieur. Für deutsche Kabel ist das allerdings keine Lösung. „Wir würden allein für die Genehmigungsverfahren mehrere Jahrzehnte brauchen, weil bei uns natürlich sehr viele Bürgerinitiativen gegen so eine optische Verschandelung der Ostsee klagen würden“, so erklärt man uns am Telefon, wobei wir gar nicht genau wissen, ob wir bei dem richtigen Ministerium angefragt haben. Aber wahrscheinlich schon, es klingt ja plausibel. GAH

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Zur guten Nacht: Süßes Blut

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Zur guten Nacht: Süßes Blut



Hinter einem Bett an der Wand unter dem Teppich, näher als du denkst, da wohnte einmal eine kleine Bettwanzenfamilie ihr stilles und heimliches Leben. Mama Bettwanze und Papa Bettwanze, und die vier Kinder, davon zwei Mädchen. Und eines Tages, da lächelte Mama Bettwanze mal wieder den ganzen Tag so seltsam selig und entrückt vor sich hin, und Papa Bettwanze war zwar hin und wieder schwer von Begriff, aber diesen Gesichtsausdruck seiner Frau kannte er. „Du hast schon wieder irgendwo ein Ei versteckt. Wir werden bald fünf Kinderchen haben, oder?“, fragte er ernst und sie nickte lächelnd. Doch sein Gesicht blieb ernst und er runzelte besorgt die Stirn. „Wir müssen ab jetzt aber wirklich aufpassen“, sagte er nachdenklich. „Wir dürfen nicht noch mehr werden, wir alle haben einen gesunden Appetit. Wenn wir zu viele sind, dann werden unsere Menschen nicht mehr davon ausgehen, dass sie eine zu trockene Haut haben oder dass Mücken ihr Unwesen treiben, sondern der Ursache der kleinen roten Pusteln auf den Grund gehen. Und du kennst die Geschichten, was passiert, wenn die Menschen von unserer Existenz erfahren.“ Natürlich kannte seine Frau diese Geschichten von den übelsten Gas- und Giftmorden. Sie wollte lieber nicht daran denken. „Ja, wir müssen aufpassen“, sagte sie. „Aber wir haben ja unsere spezielle Bisstechnik, mit der wir nur sehr kleine Pusteln produzieren. Sie werden uns schon nicht erwischen.“ Doch ihr Mann schüttelte ungeduldig den Kopf. „Bisstechnik hin oder her, eine Nummer Sechs sollten wir unbedingt vermeiden. Die Nummer Fünf ist schon heikel genug.“ Seine Frau nickte. Und dann sah sie Nummer Fünf, der ein bisschen früher als erwartet aus seinem Ei gekrochen war. Und Nummer Fünf knurrte der Magen. Aber er musste sich ein bisschen gedulden, es war noch keine Menschenschlafenszeit. Als die Zeit gekommen war, machten sie sich sogleich auf den Weg. Seine Mutter begleitete ihn beim ersten Bissausflug, so wie es in der Familie von jeher Sitte war, um ihrem Nachwuchs das Geheimnis des sanften Bisses zu lehren. Gut gesättigt kehrten beide ein bisschen später zurück. Doch was war das? Plötzlich erklang ein ohrenbetäubendes Geschrei. Wo kam das her? Stritten ihre Menschen? Mama und Papa Bettwanze und alle fünf Kinder krabbelten aus ihrem Versteck und lugten hinter dem Bettpfosten hervor. Und dann sahen sie es. Da stand gegenüber an der Wand ein sehr kleines Bettchen. Und davor stand einer ihrer beiden Menschen und hielt ein sehr viel kleineres Menschlein in den Armen, das erbärmlich schrie. „Hat einer von euch das kleine Menschlein gebissen?“, fragte der Vater streng, aber die Kinder waren sich keiner Schuld bewusst. „Das dürft ihr nämlich niemals tun. Sie achten sehr auf ihre kleinen Kinder.“ Und die Fünf nickten eifrig. Doch schon in der folgenden Nacht schlich sich Nummer Fünf leise davon. Er musste einfach mal probieren, er konnte den menschlichen Nachwuchs die ganze Zeit riechen und es duftete einfach zu verlockend. Er würde so sanft zubeißen, dass der Kleine nicht einmal aufwachen würde. So krabbelte er in das kleine Bettchen. Und es war ein Fest. Herrlich süßes Blut. Die erwachsenen Menschen schmeckten dagegen fast ein bisschen ekelhaft bitter. Schon in der darauffolgenden Nacht schlich Nummer Fünf wieder zum Kinderbettchen. Doch als er gerade hochklettern wollte, entdeckte er hinter sich seine vier neugierigen Geschwister. Und sie alle krabbelten in dieser Nacht zu dem Menschennachwuchs ins Bettchen. Auch in der nächsten und der darauffolgenden Nacht. Das Menschenkind wurde blass und blasser. „Es ist nicht gut, was wir tun“, sagte eines der Mädchen in der dritten Nacht. „Wir saugen dem kleinen Kerl sein ganzes Blut raus. Wir müssen aufpassen, dass dieser Mensch uns nicht stirbt.“ Duch die anderen blickten sie nur mit blutverschmierten Mündern und gierigen Augen an. Und das Mädchen sah sie trinken und schmatzen, dann siegte auch ihre Gier. In der darauffolgenden Nacht war das Menschenkind verschwunden. Und auch die Eltern tauchten nicht auf. Dafür kamen irgendwann ein paar Gestalten weißen Schutzanzügen mit Gasmasken. Und sie rückten Möbel beiseite und suchten in jeder Ecke. Und die Moral von der Geschicht: Gier lohnt sich nicht. Nie. GAH

Foto: Zdenek Macat

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SK bewältigen den Alltag: Die Eskapismus-Challenge

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SK bewältigen den Alltag: Die Eskapismus-Challenge


Wie weit bringt uns die Vernunft? Keine drei Meter, wenn sonst keiner mitmacht. Sollte man so eine wichtige Entscheidung für Amerika wirklich den Amerikanern überlassen? Das Wahlergebnis sagt: Anscheinend nicht. Wenn wir eine Website besuchen, müssen wir zuvor der Verwendung von Cookies zustimmen. Die Bundesregierung dagegen verwendet Kukies, ohne uns zu fragen. Dabei wäre das doch vernünftig gewesen, einen Finanzminister, den niemand mag, hatten wir ja immerhin vorher auch schon. Es wäre vernünftig, die AfD zu verbieten und, wenn wir schon mal dabei sind, auch das BSW.

Vernünftig wäre es, Musikschaffenden gerne Tantiemen für ihre Arbeit zu bezahlen, stattdessen gibt’s dann halt keine Musik auf dem Weihnachtsmarkt. Vielleicht wäre es auch vernünftig, angesichts der aktuellen Weltlage schreiend im Kreis zu laufen und dabei wild mit den Armen zu wedeln. Oder nachts im Bett um einen Meteoriteneinschlag zu beten, damit die ganze Scheiße mal ein Ende hat. Merke also, Vernunft bringt einen nirgendwo hin.

Diese ganzen Memes mit „klug war’s nicht, aber geil“ kommen einem in den Kopf und man fragt sich: Ja, warum eigentlich nicht? Und wenn sich der Dezember auch nicht wie ein vernünftiger Dezember benimmt, es nicht schneit und man beim Glühweinsaufen nicht mal mehr Wham! auf die Ohren bekommt, scheint der Monat sich gut für etwas zu eignen, das ich die Eskapismus-Challenge nenne. Habe ich selbst erfunden und mir genauestens ausüberlegt. Es geht so:

Die erste Regel lautet: Alles ist erlaubt, solange es Spaß macht und niemand anderes dabei zu Schaden kommt. Je weniger die einzelnen Unternehmungen mit der Realität zu tun haben, desto besser. Die zweite Regel: Mach es täglich. Jeden Tag im Dezember wird nun eine Stunde lang aktive Realitätsflucht betrieben. Konsequent.

Als Aktivitäten bieten sich zum Beispiel an:

  • Aus zwei Esszimmerstühlen und einer Decke eine Bude bauen und drinsitzen. Aktiv drinsitzen und sonst nix tun. Das Rebellischste überhaupt!
  • Einen Bikini tragen. Auch und gerade als Mann!
  • Eine Kapitänsmütze aufsetzen und bei voller Lautstärke Yacht-Rock hören.
  • Kiffen.
  • In einer Phantasiesprache sprechen und zwar ausschließlich. Ob mit Anderen oder mit sich selbst, spielt keine Rolle.
  • Mit Stift und Papier am Küchentisch sitzen und die Ministerposten an geeignete Freunde und Bekannte verteilen. Man selbst ist dabei Kanzler*in, logisch.
  • Wild zu Musik tanzen, die man mit 14 gehört hat. Eine Stunde lang! Extrapunkte, wenn man noch die Texte kennt und mitsingt.
  • Süßes zum Abendbrot: Eine Mischung aus diversen Keksen und Lebkuchen anrichten, vielleicht ein bisschen hübsch dekorieren und mit vorweihnachtlicher Überzeugung verspeisen, als wäre es eine gute deutsche Schnittchenplatte.
  • Ein Gedankenexperiment: „Was würde ich den Menschen in meinem Umfeld schenken, wenn sie nur das erhalten dürften, was sie auch verdient haben?“

Und so weiter und so fort, der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wenn einen dann an Weihnachten oder Silvester jemand anspricht: „Mensch, du wirkst so entspannt und gelassen. Und das im Dezember! Was ist dein Geheimnis?“ kann man ruhigen Gewissens und vollständig der Wahrheit entsprechend antworten: „Ich habe einen Monat lang Quatsch gemacht.“ Ein großes Hallo und riesige Empörung, ist doch der Dezember eher dafür da, sich selbst zu stressen und abzurackern während man dabei maximal christlich, in sich ruhend und achtsam wirkt. Am Arsch! Eskapismus-Challenge! Selfcare, ihr Waffeln! So sieht’s nämlich aus! Im Januar kann man dann ja wieder vernünftig sein. Muss man aber nicht, bringt doch eh nix. IH

HarryStueber/pixabay

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Randgruppenbeleidigung: Kontrolletties

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Randgruppenbeleidigung: Kontrolletties


Ja, genau, bleib dran, ich mag das! Schnüffel wie so ein Straßenköter an meinen Hacken rum, weich mir nicht von der Seite. Und stell ruhig deine Fragen: „Kannst du das?“ „Traust du dir das wirklich zu!“ „Schaffst du das?“ „Wie weit bist du denn?“ „Kann man dir noch irgendwie helfen?“ „Bist du dir sicher, dass das klappt?“ „Bist du wirklich sicher?“ „Zeig doch mal, was ist denn schon geschafft?“

Die Kontrolletties dieser Welt sind wirklich eine Pest. „Halt’s Mauls und lass mich arbeiten!“, möchte man sie anschreien. Aber man lässt es. Meistens. Um der liebe Friede willen. Dabei sollte man sie anschreien. Man sollte ihnen laut und deutlich sagen, was sie da eigentlich anrichten. Und dass sie sich gefälligst um ihren eigenen Scheiß kümmern sollen. Sie sorgen für Magengeschwüre, Burnouts und Schlimmeres. Weil sie stressen. Weil sie maximal nerven. Was ist denn falsch mit denen?

Wie kommt man denn auf die Idee, dass alle anderen Menschen unfähig sind? Das nur man selbst die Weisheit mit Löffeln gefressen hat? Dass man das einzige Wesen in der großen weiten Welt ist, das wirklich den Durchblick hat und was zustande bringt, während andere nur so laienhafte und/oder stümperhafte Krüppelergebnisse schaffen? Habt ihr euch mal umgesehen? Habt ihr euch mal gefragt, wer das Auto (ohne euch) gebaut hat, in dem ihr gerade unterwegs seid? Habt ihr euch mal gefragt, wer (ohne euch) das Flugzeug zusammengebastelt habt, das euch nach Malle bringt? Und wer hat eigentlich die Medizin (ohne euch) zusammengerührt, die ihr euch so vertrauensvoll einverleibt, während ihr krank im Büro herumlauft, um die anderen bloß nicht aus den Augen zu lassen. Idioten! Die Welt dreht sich ganz ohne euch. Und wenn ihr einiges Tages das Zeitliche segnet, wird sie sich einfach weiterdrehen.

Da muss doch irgendwas in euer Kindheit falsch gelaufen sein. Seid ihr für jeden Mist gelobt worden und habt nun verinnerlicht, das einzig und allein ihr in der Lage seid, die Dinge wirklich perfekt zu erledigen? So perfekt, dass wirklich niemand auch nur den geringsten Einwand haben kann. Außer ihr selbst, versteht sich. „Ich weiß, das ist schon ziemlich genial, was ich da fabriziert habe und es wird schwer sein, das zu toppen. Aber man muss sich ja auch Ziele setzen.“ Ziele, die in euren Augen andere natürlich niemals erreichen. Weil sie es einfach nicht können. Zu faul. Nicht ehrgeizig genug. Nicht klug genug. Man muss ihnen darum ständig auf den Fersen sein, weil sonst gar nichts funktioniert. Und wenn man es nur ein einziges Mal ein bisschen schleifen lässt, was passiert dann? Genau, alles geht schief. NICHT! Es läuft vielleicht nur ein bisschen anders, als ihr euch das in euren „perfekten“ Hirnen vorgestellt habt. Es gibt nämlich immer mindestens zwei Wege, ihr Vollpfosten!

Aber das könnt ihr euch ja nicht vorstellen. Dazu reicht es nicht. Das Universum ist euer Ego, darüber hinaus existiert nichts. Ihr seid Gott, alle anderen sind nur erbärmliche Insekten, die kopflos auf dem Erdball herumkrabbeln und sich nach Führung sehnen. Nach jemandem, der wenigstens hin und wieder mal einen Blick riskiert, ob es noch gut läuft. Oder ob da schon wieder jemand Bockmist baut. Es nicht hinbekommt. Scheitert. Versagt.

Verdammt, jetzt stehst du schon wieder hinter mit! Was soll das werden. Warum bist du nicht Polizist geworden? Wenn ein Text noch gar nicht fertig ist, brauche ich noch keine klugen Kommentare! Niemand hat gesagt, dass du den jetzt schon lesen sollst! Ja, der wird ja heute noch fertig! Woher soll ich wissen, ob der lustig genug ist? Für dich wahrscheinlich nicht, du hast ja diesen genialen Humor, dafür wird es wahrscheinlich nicht reichen. Weißt du was, dann mach deine Scheiße doch allein! Ich kündige! GAH

pixabay

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El Kurdis Kolumne im Oktober: Gendern leicht gemacht: Das muss kasseln!

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El Kurdis Kolumne im Oktober: Gendern leicht gemacht: Das muss kasseln!


In Hannover ist das Gendern in Bezug auf die hier lebende Bevölkerung sehr einfach. Je nachdem, wie inklusiv man sein möchte, spricht oder schreibt man von Hannoveraner*innen oder benutzt die binäre Doppelbezeichnung: Hannoveraner und Hannoveranerinnen. Das ist alles schnell gemacht und meiner Meinung nach keines wutbürgerlichen Aufschreis wert. In den Nachbarstädten Hildesheim und Braunschweig ist das ähnlich simpel und unaufgeregt praktizierbar.

Wer allerdings über die Bevölkerung meiner Heimat- beziehungsweise Aufwachs-Stadt Kassel spricht, steht – was das Gendern betrifft – vor einigen besonderen Problemen. Vor allem, wenn die gendernde Person selbst aus Kassel kommt und daher mit den dortigen Gepflogenheiten und Empfindlichkeiten vertraut ist und versucht, auf diese Rücksicht zu nehmen.

In Kassel sind die Dinge nämlich extrem kompliziert. Dort neigt man seit Jahrhunderten zu kleinteiligen Differenzierungen. Vor allem, wenn das Verhältnis der Bewohner*innen zu ihrer Stadt definiert wird. Traditionell unterscheidet man dort zwischen Kasselern, also Menschen, die irgendwann zugezogen sind, Kasselanern, die dort geboren wurden und Kasselänern, deren Eltern schon in Kassel auf die Welt kamen. So beginnt die Rede einer Politikfachkraft im Nordhessischen in der ungegenderten Variante durchaus mal mit: „Lieber Kasseläner, Kasselaner und Kasseler.“

Nach den zurzeit gängigsten Gender-Regeln müsste man nun aber drei Mal hintereinander das Sternchen sprechen. Beziehungsweise eben nicht sprechen, denn das Sonderzeichen, der „Asterisk“, wird ja akustisch durch den Glottisschlag (im Englischen auch „glottal stop“ genannt) repräsentiert, einem mit den Stimmlippen gebildeten, aber trotzdem stimmlosen Verschlusslaut. Diesen einmal im Satz zu verwenden, ist kein großes Ding und auch nichts wirklich Neues. Man benutzt den Glottisschlag im Deutschen ja auch in Wörtern wie „Theater“, „beachten“ oder in dem schönen Wort „mäandern“. Um die nebeneinander stehenden Vokale zu trennen. Aber dreimal direkt hintereinander kann sich das durchaus anhören, als habe jemand schwere Schluckbeschwerden oder einen Schlaganfall.

Will die in Kassel tätige Politikfachkraft das vermeiden und benutzt stattdessen die männlichen und weiblichen Formen, dabei in Kauf nehmend, dass sie so alle Menschen ignoriert, die sich zwischen diesen Polen sehen, ist die Hälfte des Publikums schon gegangen oder betrunken, bevor die Begrüßung beendet ist: „Lieber Kasseläner und Kasselänerinnen, liebe Kasselaner und Kasselanerinnen, liebe Kasseler und Kasselerinnen …“ Zumal man diese Begrüßungsformel, schnell und mehrfach hintereinander gesprochen, auch in den Kanon der deutschen Zungenbrecher aufnehmen könnte. Gleich nach „Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid“ und „In Ulm, um Ulm und um Ulm herum.“

Ich will hier keineswegs der konservativen Paranoia vor einem angeblichen von oben verordneten „Gender-Wahnsinn“ das Wort reden. Diese rechte Quatsch-Propaganda interessiert mich nicht die Bohne. Menschen, die glauben, Sprache dürfe sich nicht oder nur auf eine bestimmte Art verändern, haben noch nicht mal im Ansatz kapiert, nach welchen Chaos-Regeln Sprache funktioniert. Sprache hat sich immer gewandelt, manchmal freiwillig, manchmal gezwungenermaßen, manchmal aktiv subversiv, manchmal zufällig, manchmal der Obrigkeit folgend, also von oben, von unten, von vorne, von hinten – und manchmal aus allen und in alle Richtungen gleichzeitig.

Trotzdem scheint mir weder „Lieber Kasseläner und Kasselänerinnen, liebe Kasselaner und Kasselanerinnen, liebe Kasseler und Kasselerinnen“ noch „Lieber Kasseläner*innen, liebe Kasselaner*innen, liebe Kasseler*innen“ wirklich sprechbar zu sein. Auch geschrieben – sagen wir: in einem kulturwissenschaftlichen Aufsatz über die Sitten und Gebräuche des urbanen Nordhessens – wären diese den Text durchziehenden Wort-Karawanen dem Leseverständnis eher abträglich.

Was also tun? Gar nicht zu gendern wäre feige. Die einzige Lösung ist für mich ein substantiviertes Partizip/Verb, wie es auch bei „die Studierenden“, „die Wählenden“ oder „die Auszubildenden“ benutzt wird. Das neue Wort hieße: Die Kasselnden. Dazu müsste man zwar erst das Verb „kasseln“ im Sinne von „in Kassel leben“ einführen. Aber das macht meinen Vorschlag für mich um so reizvoller. Wenn ich über meine Vergangenheit spräche, könnte ich dann sagen: „Ich habe früher jahrelang gekasselt.“ Und dann würde ich anfügen: „Aber frag bitte nicht nach Sonnenschein.“
● Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im April

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El Kurdis Kolumne im April


Kunst-Epiphanien an der Zonengrenze

Nicht erst seit im letzten Herbst die komplette Findungskommission zurückgetreten ist, fragen sich viele Leute: Wird die nächste Documenta im Jahr 2027 – also Nummer „16“ – überhaupt noch stattfinden? Und noch dazu in Kassel? Während des antisemitischen Skandals der letzten Ausstellung äußerten ja nicht wenige Kunstbetriebler aus der Hauptstadt, es sei sowieso schon lange eine Zumutung, eine Weltkunstausstellung ausgerechnet an dieser nordhessischen Milchkanne zu veranstalten.

Oft stellten sie sogar eine Verbindung zwischen der Provinzialität des Ortes und den judenfeindlichen Entgleisungen her. Wobei die diesjährige Berlinale-Preisverleihung ja sehr unschön bewiesen hat, dass eine simplifizierende „Palästina-gut-und-antikolonial/Israel-böse-und-genozidal“-Propaganda auch auf einer Kulturveranstaltung in Berlin nicht nur widerspruchslos verbreitet werden kann, sondern vom Publikum auch noch begeistert beklatscht wird.

Und obwohl oder grade weil mir bewusst ist, dass sich die Ausstellungsmacher*innen, die Ausstellenden und die Besucher*innen der Documenta noch nie für Kassel als den Ort des Geschehens interessiert haben – hier ein zutiefst provinzielles Plädoyer eines Ex-Kasselers für die Fortführung diese Kunstereignisses genau dort: In der nordhessischen Taiga, in – wie die Frankfurter sagen – „Hessisch-Sibirien“.

Zunächst einmal: Kassel ist kein übler Ort. Man kann da leben, arbeiten, aufwachsen, ohne traumatisiert zu werden. 200.000 Einwohner, viel Grün, viele Nachkriegsbauten. Stünde da nicht auf einem Hügel über der Stadt dieser verstörende große nackte Mann mit einer Keule könnte man Kassel ganz gut mit Braunschweig vergleichen. Und auch wenn viele Hannoveraner*innen ein Leben in Braunschweig als ungefähr so lebenswert einschätzen wie Loriot ein Leben ohne kleine faule Sofa-Hunde („Ein Leben ohne Möpse ist zwar möglich, aber sinnlos“), kann ich aus eigener Erfahrung sagen: Selbstverständlich hat Hannover wesentlich mehr zu bieten als seine ostfälische Nachbarstadt – aber Braunschweig ist eben auch okay. So wie Kassel. Beide Städte, Kassel wie Braunschweig, lagen übrigens ziemlich nah an der DDR-Grenze. Im Zonenrandgebiet. Böse Zungen behaupten, dass man das heute noch merkt. Worauf will ich hinaus? Vielleicht hierauf: Kassel ist so mittel.

Als Jugendlicher will man aber mehr als „mittel“. Man will Aufregung, Abenteuer, Leidenschaft. Man will am eigenen Leib erfahren, was so alles geht. Und da kommt die Documenta ins Spiel: Für viele in Kassel Aufgewachsene gab es mindestens eine Documenta, die sie im Nachhinein als Erweckungserlebnis interpretieren.
Bei mir waren es mehrere. Als Kind und als Jugendlicher liebte ich alle drei Ausstellungen, die ich bei vollem Bewusstsein erlebt habe: 1977, 1982, 1987. In meiner Erinnerung begann bei jeder dieser „Documenten“ die sonst eher dösende Stadt plötzlich zu vibrieren. Und zu klingen. Es war geradezu metaphysisch: Kassel sprach in Zungen. 100 Tage lang. Und das nicht nur, wie sonst an den Nebenspielorten, in den randständigen Einwanderer-Vierteln wie dem, in dem ich aufwuchs. Auch in der guten Stube der Stadt wurde von einem Tag auf den anderen fremdgesprochen: In der Fußgängerzone, in den Cafés, in den Geschäften. Englisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch… Sogar Japanisch. Überall sah man Leute in absurd-exzentrischer Kleidung. In Zeiten, in denen niemand das Wort ‚non-binär‘ auch nur gedacht hatte, begegneten wir Menschen, die wir beim besten Willen keinem der uns bekannten Geschlechter zuordnen konnten. Wir fanden es super.
Überall fand Kultur statt. Im offiziellen Rahmenprogramm, aber oft auch spontan und überfallartig: Draußen, auf Plätzen, in Parks, in Kneipen. Und vor allem: in unseren Köpfen. Ich wünschte mir damals, dass Kassel immer so wäre. Oder mein Leben.

Und obwohl wir keinen Dunst von Kunst hatten, lernten wir, sie zu verteidigen. Wir stritten mit Eltern, Tanten, Lehrerinnen, und – wenn es sein musste – auch mit Passanten, die sich zum Beispiel über Outdoor-Skulpturen aufregten. Manchmal erklärten wir auch – anderen Passanten gegenüber – irgendeinen beliebigen Bauzaun zum Documenta-Kunstwerk, und waren ein bisschen enttäuscht, wenn das schulterzuckend hingenommen wurde.
Anders gesagt: Wenn man wirklich will, dass Kunst eine Wirkung auf viele unterschiedliche Menschen hat – und nicht nur auf die üblichen Verdächtigen, das museumsbesuchende Bildungsbürgertum –, dann sollte man eine solche Ausstellung in ihrem lebensverändernden Potenzial nicht an Berlin verschwenden.

● Hartmut El Kurdi

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