Ein letztes Wort im Dezember

mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Herr Weil, wir sprechen natürlich über die Geschehnisse in Israel. Und über das, was wir in der Folge nun in Deutschland sehen und erleben. Aber beginnen wir mit dem 7. Oktober. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
Wir kamen an dem Tag zurück von einer Delegationsreise nach Vietnam. Schon morgens am Flughafen gingen beunruhigende Push-Meldungen ein. Zunächst konnte ich die Berichte nicht wirklich einordnen. Aber es wurde dann im Laufe des Tages leider immer klarer, dass es sich um mehrere geplante, äußerst grausame und unbarmherzige Angriffe handelte, die vor allem gegen die Zivilbevölkerung in Israel geführt wurden. Eine neue, abscheuliche Art systematischer Kriegsführung.

Wann war Ihnen das ganze Ausmaß klar?
Eigentlich erst am nächsten Tag. Vielleicht weil sich alles in einem sträubt, eine Brutalität solchen Ausmaßes zu erfassen und als neue, bittere Wirklichkeit zu akzeptieren. Und auch, weil sich die Informationen erst mit der Zeit weiter verdichtet haben. Erst nach und nach wurde klar, wie hoch die Zahlen der Getöteten und Verletzten aber auch der Verschleppten waren – eine ganz besonders widerliche Facette dieses entsetzlichen Terrors. Diese Grausamkeit macht einen fassungslos. Für Israel war der 7. Oktober so etwas wie 9/11 für Amerika.

Der Terror richtet sich gezielt gegen Familien, gegen Kinder …
Ein extremer Terror, der sich am Vorgehen des IS orientiert. Und ich kann gut verstehen, warum die Israelis sagen, dass diese Art von Terror nie wieder passieren darf, dass sie nicht weiter unter einer ständigen Terrorbedrohung leben können. Es ist nicht akzeptabel, wenn jemand wie Erdoğan sagt, die Hamas sei im Grunde so etwas wie eine Befreiungsorganisation. Die Hamas ist eine Terrororganisation, eine Bande von Verbrechern und Mördern.

Die Hamas herrscht in diesem Landstrich seit Jahren mit unerbittlicher Härte, sie haben sich Gaza sozusagen unter den Nagel gerissen …
Das ist so, und die Opfer unter der Zivilbevölkerung in Gaza sind Teil einer zynischen Gesamtkalkulation. Es handelt sich um einen seit Jahrzehnten fortgeschleppten Konflikt, der danach schreit, dass es endlich doch eine friedliche Lösung gibt. Ein wesentliches Element einer solchen Lösung ist unabdingbar das Existenzrecht und die Sicherheit Israels. Der Terror muss aufhören.

Seit Rabin ist nicht mehr viel in dieser Richtung passiert. Und nun ist es vollends eskaliert. Israel war kurz in Schockstarre und schlägt jetzt unerbittlich zurück. Von Beginn an begleitet von Ressentiments, von Unterstellungen, von Hass, von Antisemitismus.
Israel hat das Recht, sich zu verteidigen. Und auch das Recht, die Wurzeln dieses Terrors zu beseitigen. Aber Israel hat dabei natürlich die Verpflichtung, die Zahl der Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung so gering wie irgend möglich zu halten. Tote Kinder sind furchtbar, ganz egal auf welcher Seite der Grenze.

Wir erleben weltweit und auch in Deutschland nun ein Aufflammen von Antisemitismus …
Es ist wirklich beschämend, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Angst haben, sich mit Symbolen ihres Glaubens in der Öffentlichkeit zu bewegen. Dagegen muss der Staat tun, was er tun kann, aber am Ende auch alle Bürgerinnen und Bürger. Wir müssen uns allerdings vor kollektiven Zuschreibungen hüten. Es gibt beispielsweise in der arabischen Community eine große Mehrheit, die mit Terrorismus und Antisemitismus rein gar nichts am Hut hat, denen es aber gleichzeitig tief unter die Haut geht, mit anzusehen, dass von 2,2 Millionen Menschen im Gazastreifen nun anderthalb Millionen auf der Flucht sind. Es sind dort inzwischen viele tausend Opfer zu beklagen, auch viele Kinder und Jugendliche. Das lässt niemanden kalt. Auch mich nicht. Es gehört zum Kalkül der Hamas, die Zivilbevölkerung zu missbrauchen und viele Opfer in Kauf zu nehmen. Und es ist nicht leicht für Israel, unter diesen Bedingungen die Verhältnismäßigkeit zu wahren, aber das müssen wir fordern. Und wir brauchen endlich eine dauerhafte Lösung, einen echten Frieden. Was soll entstehen in einem Gazastreifen, der zu weiten Teilen nur noch ein Trümmerhaufen ist? Wir kann man verhindern, dass daraus neuer Hass entsteht? Diese furchtbare Spirale muss endlich durchbrochen werden.

Eine friedliche Lösung hätte nur mit großer internationaler Anstrengung ganz vieler Staaten eine Chance und man müsste insbesondere dafür sorgen, dass die Unterstützung von Terrororganisationen aufhört.
In der Tat muss sich die internationale Gemeinschaft stark engagieren für einen Frieden in Nahost. Man muss jetzt zu einer echten Friedensordnung kommen. Auch ich halte – wie der Bundeskanzler – trotz oder vielleicht sogar gerade wegen dieses Krieges – eine Zweistaatenlösung für dringend notwendig. Mit breiten internationalen Sicherheitsgarantien für Israel müsste gewährleistet sein, dass von einem palästinensischen Staat für Israel keine Bedrohung mehr ausgeht. Gleichzeitig wäre eine Unterstützung für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Entwicklung in Palästina erforderlich.

Das klingt immerhin nach einer Möglichkeit.
Jedenfalls ist meine Fantasie ansonsten sehr begrenzt.

Meine Fantasie ist dahingehend begrenzt, ob das mit der Netanjahu-Regierung in Israel möglich sein wird.
Jedenfalls ist Israel eine sehr gefestigte Demokratie, übriges die einzige im Nahen und Mittleren Osten. Eine Demokratie, in der es sehr lebendige innenpolitische Auseinandersetzungen gibt. Das haben wir ja in den letzten Monaten gesehen bei dem wirklich beeindruckenden zivilgesellschaftlichen Protest gegen die Pläne für eine sehr problematische Justizreform. Ich habe großes Vertrauen in die demokratischen Prozesse in Israel. Wir hören doch, wie es um das Vertrauen in die amtierende Regierung bestellt ist. Insofern bin ich zuversichtlich, dass man in Israel die richtigen Schritte gehen wird. Dass sich die politisch Verantwortlichen in Israel in dem aktuellen Kriegszustand aber zunächst auf eine Einheitsregierung verständigt haben, kann ich gut nachvollziehen.

Israel ist momentan, und im Grunde ja schon seit vielen Jahren, in einem Dilemma, sie haben diesen Druck, sich human zu verhalten, aber man hat dort auch gelernt, dass es durch ein Zurückweichen nie besser geworden ist, sondern oft nur bedrohlicher …
Es gibt dieses Dilemma. Israel fühlt sich dem Völkerrecht verpflichtet, die Hamas aber nicht. Ein Rechtsstaat gegen eine Terrorbande. Dennoch muss Israel sich fortwährend prüfen, ob es den Erwartungen an einen Rechtsstaat und seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen entspricht.

Was denken Sie, wenn Sie die Demonstrationen in Deutschland sehen, teils offen antisemitisch?
Wir sehen momentan drei verschiedene Demonstrationsformen. Es gibt die Demonstrationen zur Unterstützung Israels und zur Solidarität mit den Jüdinnen und Juden in aller Welt. Es gibt jene, mit denen die Organisatoren ihre tiefe Betroffenheit über die zivilen Opfer im Gazastreifen ausdrücken, aber nicht mehr. Und dann gibt es Demonstrationen, die antiisraelisch und judenfeindlich sind. Letztere werden in Niedersachsen konsequent verboten. Wir wollen an dieser Stelle überhaupt keinen Zweifel aufkommen lassen, wo der deutsche Staat steht. Bei uns darf man seine Meinung frei äußern, aber im Rahmen der allgemeinen Gesetze.

Es hat sich gezeigt, dass wir in Deutschland anscheinend ein vielschichtiges Problem mit Antisemitismus haben …
Wir haben Rechtsextremismus in Deutschland, und von dem geht, auch nach den Verfassungsschutzberichten, die größte Gefahr aus. Wir haben aber Ressentiments gegen Jüdinnen und Juden leider auch bis in die Mitte unserer Gesellschaft hinein. Und natürlich haben wir den vielzitierten zugewanderten Antisemitismus. Gar keine Frage. Aber ich habe das hier mal bewusst in dieser Reihenfolge gesagt, denn wir haben nicht nur unsere Hausaufgaben hinsichtlich der letztgenannten Form von Antisemitismus zu erledigen. Wir müssen uns auch um die beiden anderen Formen kümmern. Das ist eine Aufgabe für alle Bürgerinnen und Bürger, für die ganze Gesellschaft. Wir müssen überall laut und deutlich widersprechen, in der Kneipe, in den Schulen, in den Vereinen, überall.

Interview: Lars Kompa

(Das Interview wurde bereits im November 2023 geführt)


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