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El Kurdis Kolumne im September: Steppende Radieschen

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El Kurdis Kolumne im September: Steppende Radieschen


Wenn es in populären Filmen oder Serien um Theater geht, wird es meistens komplett albern. Letztlich ist das auch vollkommen okay. Whatever gets you through the night – it’s alright. Und doch überrascht es mich immer wieder.

Theater kommt in amerikanischen Komödien gerne als Schultheater-Aufführung vor. In verschiedenen Varianten. Besteht das dramatische Personal aus Jugendlichen, proben diese in der Regel ein aktuelles Musical. Eingebettet sind diese Proben meist in eine Handlung, die vor allem Liebeskummer, hormonbedingte Zusammenbrüche und einen unbeholfenen Alkohol-Missbrauch thematisiert. Bei Kindern im Grundschulalter sehen wir oft eine Thanksgiving-Show oder ein singendes Gemüse-Ballett. Es gibt allerdings auch Kombinationen von Thanksgiving- und Veggie-Shows: Erst zeigt man eine Szene, in denen die frisch in Amerika angekommenen Pilgerväter auf die „Wampanoag“ treffen, ein an der Ostküste lebendes indigenes Volk; beide Gruppen tauschen dann – historisch nur bedingt korrekt – Geschenke aus, plaudern angenehm und sind anderweitig nett zueinander. Anschließend lässt man, passend zum Erntedankfest-Thema, die Früchte des Bodens sprechen. Beziehungsweise singen und steppen. Eine große Rolle spielen dabei meist auch die Ganzkörper-Gemüse-Kostüme der Kinder, die von deren genervten Müttern in aufwendigen Handarbeits-Sessions hergestellt werden müssen.

Zunehmend äußert sich das Bühnen-Gemüse auch zu gesundheitlichen und nährstoff-assoziierten Themen. Zum ersten Mal nahm ich eine solche pädagogisch-theatrale Nahrungsmittel-Darstellung bewusst in der ALF-Folge „It isn’t easy being green“ wahr, in der Brian, der putzige achtjährige Sohn der Tanners, und sein Klassenkamerad Spencer als singende Spargelspitzen auftreten müssen. Die Schulshow trägt den schönen, wortspieligen Titel: „The Nutrition Follies“. In der deutschen Synchronisation singen Brian und Spencer auf der Bühne Zeilen wie: „Wir Spargel sind so grün und lang und schmecken ja so gut/ Wir machen euch ganz fit und schlank. Ihr wisst wie gut das tut.“ Oder: „Spargel, grüner Spargel, der will euch Gesundheit geben / Spargel, grüner Spargel, der verlängert euer Leben“. Das ist Gemüse-Agit-Pop vom Feinsten! Ballaststoff-Indoktrination deluxe!

Kommen in Filmen allerdings Theateraufführungen für Erwachsene vor, sehen wir selten didaktische Singspiele, sondern mitunter raffinierte, oft aber auch sehr schlichte satirische Zuspitzungen von Bühnenkunst aus der Wichtig-wichtig-popichtich-Abteilung. Meist wird dabei vermittelt: Theater ist wahnsinnig anstrengend, öde und bedient sich völlig veralteter und peinlicher Ästhetiken. Die Aufführungsorte sind vornehmlich kleine Kellerbühnen, von deren 50 Sitzplätzen grade mal sieben mit nahen Verwandten oder engen Freunden der Darsteller*innen besetzt sind. Die Schauspieler*innen treten ständig an die Rampe und deklamieren wahlweise nihilistische oder gesellschaftlich anklagende Sätze. Mit der kompromisslosen Inbrunst von Old-School-Lyriklesungen. Oder mit einer existentialistischen 50er-Jahre-Schwarzer-Rollkragenpulli-Haltung. Passend dazu läuft im Hintergrund auch mal Free-Jazz oder Zwölftonmusik. Diese Art von Klischee-Theater hat zwar nichts mit realem zeitgenössischen Schauspiel zu tun, ist aber trotzdem (oder grade deswegen) manchmal sehr komisch.

Meisterhaft und fast paradigmatisch habe ich das zuletzt in der Mini-Serie „Four Seasons“ gesehen. Eine studentische Tochter verwandelt ihren Schmerz über das Auseinanderbrechen der Ehe ihrer Eltern in ein Theaterstück. Sie beginnt den Abend mit dem vom Bühnenrand aus aggressiv-pathetisch und mit starrem Blick ins Publikum geschleuderten Satz: „Vor einiger Zeit zerstörte mein Vater unsere Familie und fing an, eine dumme Schlampe zu daten!“ Logischerweise sitzen der familienflüchtige Vater und seine neue Freundin – die auf der Bühne durch eine Aufblas-Sexpuppe repräsentiert wird – dabei im Publikum. Die beiden schwanken angesichts des Bühnengeschehens zwischen peinlich berührt sein und Wut und Trauer über die Denunziation. Zwischendurch verteidigt der Bühnen-Vater seinen Auszug aus der ehelichen Wohnung mit einem erbärmlichen traurig-trotzigen: „Der Penis will, was der Penis will.“ Im Finale des Familienelend-Stückes wird die Handlung, das Leben und der ganze Rest in einem chorisch gesprochenen Satz zusammengefasst, der gleichzeitig der wahrste Satz des ganzen Films ist: „Wir werden alleine geboren, wir sterben alleine, und zwischendurch lügen wir uns gegenseitig an!“ Black. Vorhang.

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El Kurdis Kolumne im Mai: Und Bob sah, dass es gut war …

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El Kurdis Kolumne im Mai: Und Bob sah, dass es gut war …


In diesem Jahr jährt sich der Todestag von Bob Ross zum dreißigsten Mal. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, dass es Leute gibt, die noch nie von diesem Kunst-Giganten, dem wahrscheinlich größten Maler des 20. Jahrhunderts,

gehört haben. Vielleicht handelt es sich dabei um schnöselige TV-Verweigerer, vielleicht aber sind sie Bob beim Herumvagabundieren im Fernsehprogramm doch schon mal begegnet, haben ihm dreißig Sekunden zugeschaut, zappten dann aber ignorant weiter. Weil sie sich nicht für die Welt, in der sie leben interessieren. Oder weil sie sich nicht dem gnadenlosen journalistischen Credo verpflichtet fühlen, auf das wir Stadtkind-Autor*innen zu Beginn unsere Tätigkeit eingeschworen werden – mit der Hand auf der Gesamtausgabe der Tagesthemen-Moderationen von Hajo Friedrichs. Das Credo lautet: „Wer, wie, was? Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt bleibt dumm!“

Fürs Protokoll: Ich bin kein Fan der dekorativen Landschaftsmalerei. Ich bin auch kein Fan der nicht-dekorativen Landschaftsmalerei. Mich interessiert Malerei eigentlich überhaupt nicht. Was nicht heißt, dass ich diese Kunstform abwerten möchte. Sie spricht mich einfach nicht an. So wie mich auf kulinarischer Ebene Grünkohl und Spargel nicht ansprechen. Oder die geruchsintensive isländische Vorweihnachts-Speise „kæst skata“ – auf Deutsch auch gerne mal „Gammel-Rochen“ genannt. Es handelt sich dabei tatsächlich um verfaulten Fisch. Die Isländer lassen den Rochen vergammeln, weil durch die Fermentierung giftiger Harnstoff – den diese Fischart mangels Harnblase im Blut anreichert – abgebaut wird. Nach vier Wochen Fermentation, ist der Rochen dann zwar nicht mehr giftig, stinkt allerdings wie Hulle. Aber wer’s mag … Isländer stoßen zum „kæst skata“ übrigens mit Milch an, vermutlich weil diese die leicht entzündlichen Fäulnis-Gase neutralisiert. Ansonsten würden jährlich am 23. Dezember unzählige Isländer explodieren.

Zurück zu Bob Ross: Bei einem Maler möchte man vermuten, dass seine künstlerische Hinterlassenschaft aus seinen Gemälden besteht. Nichts könnte in Bobs Fall falscher sein. Das Ross’sche Erbe, sein wahres Œuvre, sind nicht seine Bilder, sondern die 403 Folgen der Fernsehserie „The Joy of Painting“, die bis heute rund um den Globus ständig wiederholt werden. In Deutschland kann man sie z.Z. auf ARD-Alpha sehen. In jeder Episode dieses TV-Kunst-Kurses malt Bob mit Ölfarbe ein neues gegenständliches Bild, obwohl seine Technik eher abstrakt ist. Zwar beherrscht er auch alle klassischen Pinseltechniken, vor allem aber ist Bob ein Meister der Spachtelei. Wählt er etwa ein schilfbewachsenes Teichufer als Motiv, so schmiert er zunächst mit einem Spachtel eine amorphe Fläche aufs Bild und kratzt dann flink mit einer Ecke des mit Restfarbe verunreinigten Werkzeugs die einzelnen Halme auf die Leinwand. Aus der Nähe alles Struktur und Muster, aus der Entfernung fast Fotorealismus.

Noch wichtiger als die Maltechnik war für Bobs Schaffen aber seine Stimme. In seinen Sendungen beschreibt er – während er malt – jeden einzelnen Schritt, jeden Pinselstrich und Spachtelkratzer so meditativ und sanft hauchend, dass dieser Sound bei manchen Menschen ein wohliges Hautkribbeln erzeugt. Eine sogenannte „Autonome sensorische Meridianreaktion“, kurz: ASMR. Menschen, die anfällig für dieses Phänomen sind, erleben das Kribbeln wie sanfte elektrostatische Entladungen – von der Kopfhaut über den Nacken bis in den Schulterbereich. Obwohl Bob Ross in der „tinglecommunity“ immer noch als der „King of ASMR“ gilt, gibt es natürlich noch andere Trigger für diese als beruhigend empfundene Körperreaktion: Geräusche wie Haarebürsten, Finger, die über Stoff streichen, das Umblättern von Buchseiten oder fallender Regen. Das Kribbeln kann auch über visuelle Reize provoziert werden. Es gibt YouTube-Kanäle, die ausschließlich ASMR-Videos zeigen.

Apropos visuelle Reizen: Nicht unerwähnt lassen darf man die optische Krönung des Gesamtkunstwerkes „The Joy of Painting“: Bobs dunkelblonder Fake-Afro! Diesen ließ er sich jahrzehntelang in regelmäßigen Abständen per Dauerwelle auf den Kopf modellieren. Wie eine Gloriole umrahmt er Bobs Gesicht und verpasst ihm so die Aura eines mittelalterlichen Heiligen.

Und ja, tatsächlich geht es hier zumindest um Para-Religion. Bob Ross re-enactet in jeder Folge den göttlichen Schöpfungsakt: Am Anfang ist nichts, dann nach sechs Tagen respektive neunundzwanzig Minuten ist da eine Welt. Und Bob atmet tief ein sagt mit seiner ASMR-Stimme: Es ist sehr gut.

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El Kurdis Kolumne im Oktober: Gendern leicht gemacht: Das muss kasseln!

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El Kurdis Kolumne im Oktober: Gendern leicht gemacht: Das muss kasseln!


In Hannover ist das Gendern in Bezug auf die hier lebende Bevölkerung sehr einfach. Je nachdem, wie inklusiv man sein möchte, spricht oder schreibt man von Hannoveraner*innen oder benutzt die binäre Doppelbezeichnung: Hannoveraner und Hannoveranerinnen. Das ist alles schnell gemacht und meiner Meinung nach keines wutbürgerlichen Aufschreis wert. In den Nachbarstädten Hildesheim und Braunschweig ist das ähnlich simpel und unaufgeregt praktizierbar.

Wer allerdings über die Bevölkerung meiner Heimat- beziehungsweise Aufwachs-Stadt Kassel spricht, steht – was das Gendern betrifft – vor einigen besonderen Problemen. Vor allem, wenn die gendernde Person selbst aus Kassel kommt und daher mit den dortigen Gepflogenheiten und Empfindlichkeiten vertraut ist und versucht, auf diese Rücksicht zu nehmen.

In Kassel sind die Dinge nämlich extrem kompliziert. Dort neigt man seit Jahrhunderten zu kleinteiligen Differenzierungen. Vor allem, wenn das Verhältnis der Bewohner*innen zu ihrer Stadt definiert wird. Traditionell unterscheidet man dort zwischen Kasselern, also Menschen, die irgendwann zugezogen sind, Kasselanern, die dort geboren wurden und Kasselänern, deren Eltern schon in Kassel auf die Welt kamen. So beginnt die Rede einer Politikfachkraft im Nordhessischen in der ungegenderten Variante durchaus mal mit: „Lieber Kasseläner, Kasselaner und Kasseler.“

Nach den zurzeit gängigsten Gender-Regeln müsste man nun aber drei Mal hintereinander das Sternchen sprechen. Beziehungsweise eben nicht sprechen, denn das Sonderzeichen, der „Asterisk“, wird ja akustisch durch den Glottisschlag (im Englischen auch „glottal stop“ genannt) repräsentiert, einem mit den Stimmlippen gebildeten, aber trotzdem stimmlosen Verschlusslaut. Diesen einmal im Satz zu verwenden, ist kein großes Ding und auch nichts wirklich Neues. Man benutzt den Glottisschlag im Deutschen ja auch in Wörtern wie „Theater“, „beachten“ oder in dem schönen Wort „mäandern“. Um die nebeneinander stehenden Vokale zu trennen. Aber dreimal direkt hintereinander kann sich das durchaus anhören, als habe jemand schwere Schluckbeschwerden oder einen Schlaganfall.

Will die in Kassel tätige Politikfachkraft das vermeiden und benutzt stattdessen die männlichen und weiblichen Formen, dabei in Kauf nehmend, dass sie so alle Menschen ignoriert, die sich zwischen diesen Polen sehen, ist die Hälfte des Publikums schon gegangen oder betrunken, bevor die Begrüßung beendet ist: „Lieber Kasseläner und Kasselänerinnen, liebe Kasselaner und Kasselanerinnen, liebe Kasseler und Kasselerinnen …“ Zumal man diese Begrüßungsformel, schnell und mehrfach hintereinander gesprochen, auch in den Kanon der deutschen Zungenbrecher aufnehmen könnte. Gleich nach „Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid“ und „In Ulm, um Ulm und um Ulm herum.“

Ich will hier keineswegs der konservativen Paranoia vor einem angeblichen von oben verordneten „Gender-Wahnsinn“ das Wort reden. Diese rechte Quatsch-Propaganda interessiert mich nicht die Bohne. Menschen, die glauben, Sprache dürfe sich nicht oder nur auf eine bestimmte Art verändern, haben noch nicht mal im Ansatz kapiert, nach welchen Chaos-Regeln Sprache funktioniert. Sprache hat sich immer gewandelt, manchmal freiwillig, manchmal gezwungenermaßen, manchmal aktiv subversiv, manchmal zufällig, manchmal der Obrigkeit folgend, also von oben, von unten, von vorne, von hinten – und manchmal aus allen und in alle Richtungen gleichzeitig.

Trotzdem scheint mir weder „Lieber Kasseläner und Kasselänerinnen, liebe Kasselaner und Kasselanerinnen, liebe Kasseler und Kasselerinnen“ noch „Lieber Kasseläner*innen, liebe Kasselaner*innen, liebe Kasseler*innen“ wirklich sprechbar zu sein. Auch geschrieben – sagen wir: in einem kulturwissenschaftlichen Aufsatz über die Sitten und Gebräuche des urbanen Nordhessens – wären diese den Text durchziehenden Wort-Karawanen dem Leseverständnis eher abträglich.

Was also tun? Gar nicht zu gendern wäre feige. Die einzige Lösung ist für mich ein substantiviertes Partizip/Verb, wie es auch bei „die Studierenden“, „die Wählenden“ oder „die Auszubildenden“ benutzt wird. Das neue Wort hieße: Die Kasselnden. Dazu müsste man zwar erst das Verb „kasseln“ im Sinne von „in Kassel leben“ einführen. Aber das macht meinen Vorschlag für mich um so reizvoller. Wenn ich über meine Vergangenheit spräche, könnte ich dann sagen: „Ich habe früher jahrelang gekasselt.“ Und dann würde ich anfügen: „Aber frag bitte nicht nach Sonnenschein.“
● Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im September: Die wild wuchernden Folgen der Pandemie

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El Kurdis Kolumne im September: Die wild wuchernden Folgen der Pandemie


Allerorten fordern jetzt Menschen, man müsse „die Pandemie aufarbeiten“. Sie meinen damit jedoch keine wertfreie Evaluierung der Maßnahmen, im Sinne von: Was hat funktioniert? Was hat nicht funktioniert? Welche Maßnahmen waren übertrieben und welche zu lasch? Und was lernen wir aus der vergangenen für die nächste Pandemie, die – da sind sich alle seriösen Wissenschaftler*innen sicher – irgendwann kommen wird?

Solche Fragen wären ja tatsächlich klug. In der Realität aber geht es vielen, die jetzt nach „Aufarbeitung“ schreien, eigentlich nur darum zu sagen: „Alles totalitärer linksgrün versiffter CDU-SPD-Grünen-Faschismus! Darf nie wieder passieren! Spahn und Lauterbach in den Knast, Drosten ans Kreuz, Merkel in die eiserne Jungfrau und Scholz über die Planke!“

Dass wir, alles in allem, mit der Politik der beiden beteiligten Bundesregierungen, die sich mal mehr, mal weniger an den Aussagen der führenden Forscher*innen aus Virologie und Epidemiologie orientierten, einigermaßen gut durch den Covid-Sturm gesegelt sind, interessiert die faktenkritische Bevölkerung nicht. Auch nicht, dass wir im Vergleich mit ähnlich strukturierten Ländern fast in allen Phasen sogar eher besser dastanden als diese.

Aber davon abgesehen hat die Pandemie neben den politischen Nachwirkungen auch mediale Spätfolgen. Die scheinen vielleicht nicht so wichtig zu sein, gehen mir aber trotzdem enorm auf den Senkel. Zum Beispiel die Unsitte technisch saubere Interview-Live-Schalten im Fernsehen durch dilettantische Video-Calls zu ersetzen. Während der Pandemie machte man das, damit die Gesprächspartner*innen ihre sicheren vier Wände nicht verlassen mussten, um ein möglicherweise verseuchtes TV-Studio aufzusuchen. Oder um zu verhindern, dass ein vielköpfiges Fernsehteam mitsamt seinem traditionell beachtlichen Virenbestand in die Wohnung einmarschierte. Stattdessen setzte man sich einfach an den Schreibtisch, schaltete den Computer an und laberte in die Webcam.

Dabei ist es nun oft geblieben. Auch ohne Todesgefahr. Weil es billiger ist, schneller geht oder die Sendeanstalten damit Personal einsparen können. Keine Ahnung.

Ich will mich aber noch nicht mal über die oft mäßige Bild- und Tonqualität ereifern. Daran kann man sich genauso gewöhnen wie an die Wiederkehr der Compact-Kassette als Tonträger. Viel katastrophaler sind die ästhetischen Folgen der Unkenntnis der Interviewten

bezüglich der einfachsten Regeln des vor-der-Kamera-Rumsitzens. Und das obwohl es sich dabei oft um gebildete Menschen handelt. Bis hin zu Nobelpreisträger*innen.

Erste Video-Call-Regel: Einen ausreichenden Abstand zur Webcam halten! Merke: Mit fünfzehn Zentimeter Abstand zum Objektiv, nicht abgepudert, von einer Arbeitszimmer-Neonröhre grell beleuchtet sieht einfach jeder und jede kacke aus! Auch George Clooney, Brad Pitt, Lucy Liu oder Jennifer Lawrence. Oder wen immer Sie hübsch finden. Bei diesem Minimalabstand sieht man nur noch reifende Pickel, rotadrige Knollennasen, Nikotin-und Koffein-Gebisse oder kraterartige Hautporen. Selbst wo keine sind. Noch nicht mal im echten Leben möchten man Menschen so nah kommen, außer man ist in sie verknallt und/oder hat ein sexuelles Interesse an ihnen.

Zweite Regel: Den Laptop unbedingt hochstellen! Auf einen Ständer oder meinetwegen einen Stapel Bücher. Das verhindert nämlich, dass die Webcam von unten in die Nasenlöcher zielt. Selbst tippitoppi geputzte und mit Emsersalz-Wasser gespülte Nasen will man so nicht inspizieren. Ist jemand aber bei der Nasenhygiene schludrig, gnade einem Gott! Bei älteren Männern gibt es noch ein anderes Problem: Kürzlich sah ich auf BBC World ein Interview mit einem Nahostexperten. Ich glaube zumindest, dass es einer war, ich konnte mich nämlich nicht auf den Inhalt seiner Aussagen konzentrieren, weil ihm ein ganzes Nasenhaar-Gebüsch beziehungsweise eine Schilflandschaft aus dem Riechkolben wuchs. Ich war so verstört, dass ich, um englischsprachige Nachrichten zu schauen, zwei Wochen lang nur CNN einschaltete. Aus Angst, auf BBC wieder dem Mann mit der wuchernden Nasenflora zu begegnen.

Die einzige Person bei der mich diese Perspektive am Rande interessieren würde, wäre Benjamin von Stuckradt-Barre. Der behauptete nämlich mal in einer Talkshow, er habe aufgrund seines exzessiven Kokain-Genusses keine Nasenscheidewand mehr. Das würde ich doch gerne mal sehen. Vielleicht im direkten Vergleich mit der Nasenscheidewand seines Ex-Kumpels, Springer-Chef Mathias Döpfner. Nur so aus Neugier.

● Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im August: Kaiserliche Teckel-Trauer

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El Kurdis Kolumne im August: Kaiserliche Teckel-Trauer


Kürzlich fuhr ich mal wieder in meine Aufwachsstadt Kassel. Mit dem ICE ist das ja von Hannover aus nur ein schlappes Stündchen. Diese Ausflüge sind für mich eine Art privat-anekdotischer Forschungsreise. Am liebsten unternehme ich sie mit meiner Tochter. Wir latschen dann so herum und labern uns Blutergüsse ans Ohr. Meine Ausführungen spannen logischerweise den Bogen vom Persönlichen zum Allgemeinen, quasi vom Mikro- zum Makrokosmos; meine Tochter ist als Niedersächsin bezüglich Kassel unbelasteter, deswegen ordnet sie die nordhessischen Phänomene ohne private Umwege gleich in den aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskurs ein.

Bei unserer letzten Expedition besuchten wir den „größten und schönsten Bergpark Europas“ den Park Wilhelmshöhe. Das mit dem „größten und schönsten“ war früher Teil der Eigenwerbung Kassels, was nicht unbedingt für die Marketingabteilung der Stadt spricht. „Groß“ kann man ja immerhin noch irgendwie messen, aber wenn man behauptet, man hätte irgendwas „schönstes“, klingt das immer nach provinziellem Minderwertigkeitskomplex. Hannover ist da schlauer. Ist hier von der Eilenriede die Rede, auch offiziell, heißt es immer nur norddeutsch-sachlich: „Der größte Stadtwald Europas.“ Punkt. Hier zählen nur überprüfbare Fakten. Ob der Wald nun schön, schöner oder am schönsten ist, muss schließlich jede*r selbst beurteilen.

Dabei ist der Park Wilhelmhöhe tatsächlich so hübsch, dass man gar keine Vergleichsgröße braucht. Einfach spazieren gehen und genießen reicht. Wir waren diesmal aber auf der Suche nach etwas Besonderem. Nach dem Grab des einzigen Dackels der Welt, der einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat: Erdmann, der Lieblingsdackel von Kaiser Wilhelm II.

Der Kaiser verbrachte nämlich gerne einen Teil seiner Sommerfrische auf Schloss Wilhelmshöhe und ließ sich dabei von diversen Dackeln begleiten. Der Kurzhaarteckel Erdmann aber war ihm wohl der liebste von allen. Es gibt ein Foto, auf dem WilhelmZwo mit Erdmann auf einer Bank sitzt und beide nachdenklich in die Ferne schauen. Man spürt sofort, dass es sich hier um zwei Seelenverwandte handelt, weswegen Erdmanns Tod den Kaiser wohl auch tief getroffen hat. So tief, dass er einen Grabstein für ihn anfertigen ließ, mit den preußisch-knappen, aber in ihrer Kürze umso wuchtigeren Trauer-Worten: „Andenken an meinen treuen Dachshund / Erdmann 1890 – 1901 / W. II.“

Die Inschrift kenne ich allerdings nur aus der Literatur. Früher hatte mir nie jemand von diesem Grab erzählt, und jetzt, als ich davon erfuhr, konnten meine Tochter und ich es trotz intensiver Suche nicht finden. Beim Googeln stieß ich dann aber auf die Info, dass die HKH, die „Hessen Kassel Heritage“ – eine Landeseinrichtung zur Pflege des kulturellen Erbes – regelmäßig einen „Großen Dackelspaziergang“ im Park Wilhelmshöhe anbietet. Eine Park-Rallye mit zehn Stationen, inklusive Erdmann-Grab-Besuch. In Zusammenarbeit mit dem „Deutschen Teckelklub 1888 e.V.“ Die HKH-Homepage verspricht: „Hier kommen sowohl Hund als auch Halter*in auf ihre Kosten. Am Ende winkt eine kleine Anerkennung.“

Die nächste Dackelführung findet am 21. September statt. Ich werde dabei sein. Mit irgendeinem beliebigen Leihhund. Denn erfreulicherweise dürfen nicht nur Dackelbesitzer*innen mit ihren Gefährten am Spaziergang teilnehmen. In der Ankündigung heißt es vorbildhaft diskriminierungsfrei: „ALLE Hunde sind willkommen“. So gefällt mir das.

Ich hoffe, dass dann auch immer noch der „Hundemantel“ von Erdmann im Schloss ausgestellt ist. Der konnte von der HKH im Juni 2020 auf einer Auktion für 3600 Euro ersteigert werden. Im selben Jahr veröffentliche die HKH auch eine Broschüre mit dem Titel „Mit Erdmann durch den Bergpark“. Zitat: „Auf kurzen Dackelbeinen gibt es darin einiges zu sehen“. Der Comic-Hund „Ertl“ entpuppt sich in der Broschüre als „findige Führungskraft“, die offenbar jede noch so versteckte Ecke des Bergparks kennt. Geschrieben hat das Heftchen der HKH-Direktor Prof. Dr. Martin Eberle. Wofür so eine akademische Ausbildung doch manchmal gut ist…

Das hört sich jetzt alles sehr lustig an, aber ich bin heilfroh, dass es Erdmann gibt bzw. gab. Sonst wäre das berühmteste Grab Kassels wohl die Ruhestätte des Neonazis Michael Kühnen. Für die Jüngeren: Kühnen war eine evolutionäre Zwischenstufe zwischen Hitler und Höcke und verstarb 1991 in einem Kasseler Krankenhaus. Er wurde auf dem Westfriedhof urnenbestattet. Man möchte nicht wissen, was für eine Rallye bestimmte Parteien gerne zu dessen Ehre veranstalten würden.

● Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im Juli: Zwischen Seepferdchen und Diplomarbeit: Eine gebrochene Bildungsbiographie

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El Kurdis Kolumne im Juli: Zwischen Seepferdchen und Diplomarbeit: Eine gebrochene Bildungsbiographie


In diesem Jahr jährt sich der Abbruch meines Studiums zum 30. Mal. Offiziell, in der Statistik, gelte ich nämlich als „Studienabbrecher“. Inoffiziell, also quasi heimlich, habe ich selbstverständlich zu Ende studiert. Mit (fast) allem Drum und Dran. Nur zum Äußersten ließ ich es nicht kommen.

Hier die Details: Ende des letzten Jahrtausends absolvierte ich an der Universität Hildesheim ein Studium der „Kulturpädagogik“. Dieser aus der Not der einstmals existierenden Lehrerschwemme geborene Studiengang war der Vorgänger der diversen „Kulturwissenschafts“-Studiengänge, die heute so in Hildesheim angeboten werden. Soweit ich informiert bin, sind die Studieninhalte aber immer noch ähnlich, nur etwas ausdifferenzierter. Ich vermute mal, dass das „Pädagogik“-Anhängsel in der Studiengangbezeichnung den Verantwortlichen irgendwann peinlich war, weil es zu sehr nach „Sozialpädagogik“ und 70er-Jahre klang. Also änderte man den Namen. Mal abgesehen davon, dass das Berufsfeld und die Ausbildung der Sozialpädagog*innen meiner Meinung nach zu Unrecht belächelt werden, hatte unser Studium tatsächlich sehr wenig damit gemein. Man konnte zwar Pädagogikkurse belegen, musste aber nicht, wenn man nicht wollte. Stattdessen konnte man auch Philosophie, Soziologie oder Politik als „Beifach“ zu den künstlerischen Fächern wählen. Oder so tun, als ob.

Wie dem auch sei: Die damalige Kulturpädagogik-Prüfungsordnung verlangte perfiderweise, dass man zunächst seine Abschlussprüfungen machte und erst dann, also im Anschluss, eine Diplom-Arbeit schrieb. Was dazu führte, dass eine erkleckliche Anzahl von Studierenden brav die mündlichen und schriftlichen Prüfungen absolvierte, um sich anschließend sofort und gnadenlos im Leben zu verfranzen. Indem sie ABM-Stellen annahmen, nachts in postmodernen Spelunken kellnerten oder schlicht depressiv wurden, weil die Freundin oder der Freund sich jetzt doch dafür entschieden hatte, lieber mit dem Ralf oder der Petra nach Freiburg zu ziehen.

Welche meine Gründe waren, kann ich nicht mehr genau rekonstruieren. Wahrscheinlich alle drei auf einmal. Vielleicht fand ich es auch einfach albern, diese Arbeit zu schreiben. Mein Lieblingsprofessor sagte in einer meiner mündlichen Prüfungen: „Sie machen den Eindruck, als ob sie es für eine Unverschämtheit halten, überhaupt geprüft zu werden.“ Ich konnte ihm nicht widersprechen. Schließlich hatte ich nicht nur die vorgeschriebenen neun Semester, sondern vor lauter Begeisterung sogar noch zweieinhalb Jahre länger in Seminaren und praktischen Übungen Engagement und neurodiverses Verhalten gezeigt, sogar hin und wieder die übermenschliche Leistung vollbracht, zu Veranstaltungen um 10 Uhr (s.t.) zu erscheinen, hatte mindestens drei Mal in der Woche in der am Bolognese-Tag nach Erbrochenem riechenden Uni-Mensa gegessen und dazu noch in meinem Nebenfach Musik eine Prüfung in „Ensembleleitung“ aka „Dirigieren“ nicht nur nicht verweigert, sondern – au contraire – auch noch bestanden, wofür ich mich heute noch ein bisschen schäme. Und jetzt sollte ich auch noch eine 100-Seiten-Arbeit schreiben? Pardon, irgendwo ist dann auch mal Schluss, finde ich.

Ich gebe das hier auch nur zu Protokoll, damit nicht etwa irgendwann jemand sagt: „Wie bitte? Sie schreiben seit Jahrzehnten eine Stadtmagazin-Kolumne OHNE Hochschulabschluss? Wie können Sie es wagen?! Normalerweise braucht man dafür einen Dr. phil. oder einen PhD! Mindestens einen B.Sc., Sie Hochstapler, Sie!“

Also, ich hab’s ja jetzt zugegeben. Nicht, dass sich da demnächst die Investigativ-Journalisten des SPIEGELS oder der ZEIT dahinterklemmen. Außerdem kann es ja auch sein, dass ich doch noch mal in ein Ministeramt schlittere oder man mich zwingt, auf dem Intendantensessel eines Drei-Sparten-Theaters oder einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Platz zu nehmen. Spätestens bei der Besetzung eines solchen Postens wird ja inzwischen jeder Lebenslauf, jeder Abschluss, jede Doktorarbeit sofort faktengecheckt. Hat man abgeschrieben, falsch zitiert oder aus einem Strandurlaub in Italien ein Erasmus-Semester gemacht: Zack, weg vom Fenster! Damit das jetzt mal endgültig klar ist, liebe Hannoveraner*innen, sehr verehrtes Deutschland: Die einzigen Abschlüsse, die ich besitze, sind: a) Die Fahrradprüfung aus der 4. Klasse und b) ein solides Zweikommairgendwas-Abi. Und natürlich: das Seepferdchen.

Mal sehen, ob ich doch noch zurücktreten muss, von was auch immer, wenn jemand rausfindet, dass das mit dem Seepferdchen gelogen ist.
● Hartmut El Kurdi

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