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Ein letztes Wort im Mai

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Ein letztes Wort im Mai


Moin Herr Weil, gut geschlafen?

Letzte Nacht sehr gut. Danke der Nachfrage.

Ich habe mir ja fast ein bisschen Sorgen gemacht. Mir haben Sie immer gesagt, dass Sie super schlafen.

Das war meine Antwort, wenn sie mich in besonderen Krisenzeiten gefragt haben, ob mir die aktuellen Probleme den Schlaf rauben. Das war zum Glück in der Regel nicht der Fall, aber Schlafprobleme gibt es leider auch außerhalb von Krisenzeiten. Hinzu kommt, dass ich mit Informationen zu meinem Privatleben – und dazu gehört ja auch der Schlaf – immer sehr sparsam umgegangen bin. Ich zähle sicher nicht zu den extrovertiertesten Menschen unter der Sonne.

Das stimmt allerdings, privat war immer kaum etwas zu holen bei Ihnen. Wann haben Sie den Gedanken, sich zurückzuziehen, zum ersten Mal gehabt?

In den Medien wurde ja schon eine Weile spekuliert. Ich habe dort öfter gelesen oder gehört, dass ich mir darüber vielleicht allmählich mal Gedanken machen sollte. Gedanken gemacht habe ich mir dann tatsächlich während des letzten Wahlkampfes. In den ersten Wochen dieses Jahres habe ich die viele Termine zum ersten Mal als besonders anstrengend empfunden. Ich war dann Ende Februar wirklich platt. Und da mir Wahlkämpfe sonst eigentlich immer viel Freude bereitet haben, war das schon ein auffälliger Unterschied zu früher. Und ich finde, man sollte dann auch ehrlich mit sich selbst sein und sich ernsthaft fragen, wie lange man eine wichtige Aufgabe mit einem solchen Aufwand noch gut machen kann. Anders gesagt: Ich bin gesund, aber ich möchte es auch gerne bleiben. Es gab aber noch einen weiteren Gedanken, der mich zu meiner Entscheidung geführt hat. Die politische Lage wird auf absehbare Zeit sehr herausfordernd bleiben – für die Gesellschaft, für unsere Demokratie und für unser Land. Und in einer solchen Lage sollten Menschen in verantwortlichen Positionen sein, die noch einen längeren Atem haben. Insofern war meine Entscheidung zum kleineren Teil auch politisch motiviert.

Friedrich Merz wird jetzt mit 69 Jahren Kanzler, Sie ziehen sich mit 66 Jahren aus der Politik zurück. Ich muss sagen, ich finde Ihre Idee viel besser als die von Friedrich Merz …

Ich habe mir vorgenommen, in nächster Zeit über Friedrich Merz nur noch Gutes zu sagen (lacht). Aber im Ernst, Menschen sind einfach unterschiedlich. Und für mich ist es jetzt an der Zeit, aufzuhören.

Wenn Sie mal zurückblicken, was ist Ihnen gelungen in den vergangenen Jahren?

Ich vermeide lieber diese großen Lebensbilanzen. Es gibt genug Leute, die das noch nach Pro und Contra aufdröseln werden. In meiner Rückschau auf diese zwölf Jahre ist besonders auffällig, dass wir seit 2015 leider eine Krise nach der anderen hatten. Inzwischen ist die Krise schon fast der Normalzustand. Alles in allem glaube ich, dass Niedersachsen vergleichsweise gut durch die schwierigen Zeiten hindurch gekommen ist. Was ich dagegen immer stärker als Problem empfunden habe, ist der Umstand, dass wir politisch nicht immer mit den Herausforderungen und den Veränderungen in der Gesellschaft Schritt halten können. Ein Beispiel ist der Bereich Bildung, in dem wir sehr viel getan haben und auch weiter tun müssen. Wir haben heute beispielsweise viel mehr Lehrerinnen und Lehrer unter Vertrag als jemals zuvor. Aber gleichzeitig stellen wir fest, dass in vielen Familien die Probleme größer geworden sind und viele Kinder und Jugendliche zuhause nicht mehr genug gefördert werden. Damit ist der Bedarf gestiegen, dass der Staat diesen Mangel kompensiert. Manchmal wachsen die Probleme schneller als die Möglichkeiten. Politik muss sich also noch mehr anstrengen und Gesellschaft muss mithelfen. Denn das ist und bleibt die Schlüsselfrage schlechthin: Wie statten wir die nächsten Generationen so aus, dass sie gut durchs Leben kommen?

Noch ein bisschen Rückblick: Was war als Ministerpräsident Ihre schwerste Entscheidung?

Ich habe am Anfang des ersten Corona-Lockdowns mal aus irgendeinem Grund auf der Hildesheimer Straße gestanden. Und auf der Straße war nichts und niemand. Kein Mensch, kein Fahrrad, kein Auto. Einfach nichts. Das war irgendwie ein Schock für mich und ich habe mich gefragt, was wir da jetzt eigentlich angerichtet haben. Gleichzeitig hatten wir aber es mit einem hochgefährlichen Erreger zu tun, gegen den es noch keinen Impfstoff gab. Und wir hatten aus sehr ernsthaften Gründen Angst davor, dass deswegen noch viele Menschen sterben würden und wir zu Verhältnissen kommen könnten, wie wir sie in Norditalien gesehen haben. Die politischen Entscheidungen in der Corona Zeit waren für die Bürgerinnen und Bürger schwer, aber eben auch für diejenigen, die diese Entscheidungen getroffen haben und die Folgen verantworten mussten.

Wir haben im Laufe der Zeit immer mal wieder darüber gesprochen, ob und wie so ein Politikerleben einen Menschen verändert. Wenn Sie heute den Stephan Weil treffen würden, der Sie mit Mitte 20 waren, was würde der an Ihnen kritisieren?

Er würde mich wahrscheinlich für aus seiner Sicht falsche Kompromisse kritisieren. Das ist ja das, was junge Menschen den Repräsentanten der älteren Generation immer vorwerfen. Nicht konsequent genug, zu kompromissbereit, nicht mutig genug. Ich war sicherlich in meinen 20er-Jahren deutlich direkter und ungeduldiger.

Auch linker?

Das weiß ich gar nicht. Ich denke, meine Grundüberzeugungen und Werte haben sich nicht wirklich verändert. Und Linkssein ist für mich in erster Linie eine Frage von Werten. Ich bin Anfang der 1980-Jahre in die SPD eingetreten, während viele meiner Freunde zu den noch sehr jungen Grünen gegangen sind. Ich war immer der Auffassung, dass es besser ist, Schritt für Schritt Fortschritte zu erreichen, als auf den einen großen Schritt zu warten. Das war damals bei den Grünen der Fall und ist im Zweifel fast immer das Kennzeichen der linken Alternativen zur SPD.

Sie würden also sagen, Ihr Kompass hat sich in den Jahren nicht verändert, Ihre Werte sind tatsächlich dieselben geblieben?

Ja, das würde ich schon so sagen. Aber die Welt hat sich gerade in den letzten Jahren stark verändert. Für mich war immer der Gedanke von Frieden und guten internationalen Beziehungen einer der allerwichtigsten. Willy Brandt hat zu Recht gesagt, dass Frieden nicht alles ist, aber dass ohne Frieden alles nichts ist. Und ich bin wirklich erschüttert, dass wir heute in einer Welt leben, in der auch für Europa Kriegsrisiken bestehen könnten. Noch vor wenigen Jahren hätten wir das für undenkbar gehalten. Heute müssen wir uns leider darauf einstellen und deswegen unterstütze ich auch massive Investitionen in die Bundeswehr.

Was sie zu den Werten, vielleicht auch den Idealen sagen, widerspricht ein bisschen dem, was Berufspolitikern gerne vorgeworfen wird. Nämlich, dass irgendwann nur noch der Pragmatismus herrscht, die Politik nach Interessen.

Man sollte Pragmatismus nicht mit einem Defizit an Werten und Idealen gleichsetzen. Ein Pragmatiker bin ich immer gewesen, genau das war damals auch die Grundlage meines Eintritts in die SPD. Dass sich Dinge abschleifen, dass man irgendwann bereit ist, etwas zu akzeptieren, was man vor 30 Jahren sicher nicht akzeptiert hätte, das ist leider so. Womit wir aber wieder beim Generationswechsel sind. Es ist gut, wenn sich Jüngere engagiert einbringen. Auf Kompromisse werden sie sich allerdings einrichten müssen.

Was sind denn Ihre Pläne für den Ruhestand? Ich meine, wenn Sie alle liegengebliebenen Bücher gelesen haben und ganz viel gewandert sind. Wird es dann ein Unruhestand?

Das wird ganz sicher ein Unruhestand. Meine Idee ist es nicht, immer bis 10 Uhr zu schlafen. Ich habe keinen Masterplan, aber der Gedanke, dass ich zu Hause Däumchen drehe, der ist mir fremd.

Freut sich eigentlich Ihre Frau auf Ihren Ruhestand? Für manche Ehen wird es dann ja noch einmal extrem brenzlig …

Meine Frau und ich sind jetzt seit 48 Jahren zusammen und wir hatten bislang noch nie eine Phase, in der wir beide keine dienstliche Pflichten hatten. Das gab es bisher nicht und wird eine neue Erfahrung sein. Aber wir sind finster entschlossen, auch diese Phase erfolgreich gemeinsam zu bewältigen. Ich kenne auch diese Statistiken, auf die Sie anspielen. Das ist die letzte große Klippe, die man nehmen muss. Aber wie gesagt, es wird eher ein Unruhestand. Alles andere würde meiner Frau wahrscheinlich auch Sorgen machen (lacht).

Wissen Sie eigentlich, wie viele Interviews, mit dem heutigen, bisher im Stadtkind zu lesen waren?

Da müsste ich mal rechnen. Es sind viele.

Wir sind 2009 gestartet, heute ist die Nummer 193.

Ehrlich? Fast nicht zu glauben. Dann bin ich wahrscheinlich ihr ältester Mitarbeiter und bekomme sicher demnächst mal eine Ehrennadel.

Ihr Ruhestand kommt ein paar Monate zu früh, ich hätte gerne noch die 200 rund gemacht.

Das liegt ja an Ihnen, wie viele Interviews Sie noch mit mir führen wollen. Mein publizistischer Nutzwert wird jetzt natürlich geringer (lacht).

Das lassen wir jetzt mal als Cliffhanger so stehen …

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Ein letztes Wort im April

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Ein letztes Wort im April


Herr Weil, Sie haben vor der Wahl immer gesagt, dass nach der Wahl die CDU sehr schnell über die Schuldenbremse und über Sondervermögen sprechen würde. Fast ein Prophet. Aber hätten Sie gedacht, dass es so schnell geht? Und was bleibt eigentlich übrig von der Glaubwürdigkeit der Politik? 

Naja, ein großer Prophet hat man dafür nicht sein müssen. Und was die Glaubwürdigkeit angeht – es wäre bestimmt besser und redlicher gewesen, schon vor der Wahl zu sagen, dass das kommen wird. Es gab zwar so ein paar vage Andeutungen von Friedrich Merz, aber der öffentliche Eindruck war ein anderer. Dass über mehr Geld gesprochen werden musste, das ergab sich schon zwingend aus dem Thema Sicherheit. Und der Investitionsbedarf geht ja in der Tat noch viel weiter. Insofern ist das bei der CDU sicher eine Kehrtwende. Aber das ist immer noch besser als aus bloßer Sturheit eine falsche Haltung durchzuziehen und damit großen Schaden anzurichten. Insofern ist für mich das Ergebnis entscheidend. 

Über Christian Lindner müssen wir ja jetzt nicht mehr unbedingt reden …

Ja, es gibt auch den einen oder anderen Lichtblick nach dieser Wahl.

Sprechen wir über die Sicherheit. Mit Trump haben sich offensichtlich alle alten Gewissheiten erledigt. Was mich wundert ist nur, dass drüber viele überrascht waren und es noch sind. 

Dass es in den USA so schnell und so extrem kommen würde, wie es sich momentan abzeichnet, damit haben wohl nur die größten Pessimisten gerechnet. Und es ist bei uns noch immer nicht ganz durchgedrungen, dass sich dort auch innenpolitisch und gesellschaftlich ein tiefgreifender Wandel vollzieht. Ich hatte gerade ein Gespräch mit Wissenschaftlern, die mir berichtet haben, dass momentan zahlreiche Webseiten von Hochschulen und Instituten abgeschaltet werden. In vielen Hochschulen und Instituten geht die nackte Angst um, ob man seinen Job behält. In den USA wird gerade die Wissenschaftsfreiheit zu Grabe getragen. Das sind wirklich verheerende Zeichen für die gesamte Entwicklung. Wir sehen große Veränderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik, die auch uns betreffen, aber die USA wandeln sich auch im Inneren ganz massiv. Das ist nicht weniger beunruhigend. 

Wenn ich mir ansehe, was Trump und Musk dort anrichten, dann gehe ich davon aus, dass sich Amerika unterm Strich ganz immens selbst schadet.

Ja, und es ist ein unverhohlener Angriff auf die Demokratie. Es ist der Versuch, sie durch irgendeine Form von Autokratie zu ersetzen. Und ich frage mich, warum man so wenig Protest sieht von der ansonsten so aktiven und auch starken Zivilgesellschaft in den USA.

Viele Menschen haben wahrscheinlich einfach Angst.

Ganz sicher haben sie das. Und Angst ist auch ein wichtiges Stichwort. Denn wir dürfen in Deutschland und Europa jetzt auf keinen Fall in Angst erstarren. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, was dort passiert und in Europa die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Das geschieht gerade auch bei uns in Deutschland – Sicherheitsmaßnahmen sind künftig weitgehend von der Schuldenbremse ausgenommen. Das ist sehr weitreichend, aber absolut notwendig. Wir werden uns selbst um unsere Sicherheit kümmern müssen und dafür müssen wir leider auch viel Geld in die Hand nehmen.  

Aber kommt diese Erkenntnis nicht reichlich spät?

Sie kommt viel zu spät, darum muss man auch nicht groß herumreden. Bei der Bundeswehr ist viele Jahre lang am falschen Ende gespart worden und jetzt müssen wir das schleunigst aufholen. Wir haben uns bereits vor dem 24. Februar 2022 eine Sicherheit vorgegaukelt, die nicht realistisch war. Das kann man überhaupt nicht bemänteln.

Nach dem 24. Februar gab es immerhin das erste Sondervermögen.

Es gab die Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz und 100 Milliarden Euro. Aber es war klar, dass das noch längst nicht ausreichen würde. Jetzt machen wir den nächsten entschiedenen Schritt. Das ist leider notwendig. Und mir fällt es wirklich nicht leicht, das festzustellen. Ich komme aus der Friedensbewegung und wir hätten uns vor 50 Jahren alles andere vorstellen können, aber nicht das. Aber die Zeiten haben sich grundlegend geändert und es ist höchste Zeit, das zu akzeptieren und darauf klar zu reagieren. 

Man hätte die Augen bereits spätestens nach der Annexion der Krim aufmachen müssen, oder?

Ich sagte ja, wir haben uns definitiv alle viel zu lange in Sicherheit gewogen. Viele sagen heute, dass wir spätestens nach der Annexion der Krim hätten wissen müssen, in welche Richtung Putin geht. Das mag sein, aber ich gebe zu bedenken, dass die Bereitschaft in der Bevölkerung, so einen Kurs zu unterstützen und die Bundeswehr konsequent zu ertüchtigen, damals wahrscheinlich sehr begrenzt gewesen wäre. Es bedurfte vielleicht eines Schocks wie dem 24. Februar 2022. 

Eine Erkenntnis aus all den Entwicklungen der vergangenen Jahre ist für mich, dass wir mehr Europa brauchen und nicht weniges Europa. Da ist aber viel zu wenig passiert. Orban ist zum Beispiel noch immer ein Faktor. 

Europa ist die eigentliche Antwort auf Trump und Putin. In der EU tut sich auch schon eine Menge; es ist deutlich erkennbar, dass Europa nun enger zusammenrückt. Es gibt doch eine unübersehbare Absetzbewegung von Trump mit Blick auf Europa und die NATO. Was daraus folgen muss, ist allen klar. Die EU schließt die Reihen, mit Orban oder ohne. Und ich freue mich, dass auch Großbritannien sich wieder sehr deutlich nach Europa orientiert.

Was mich vor allem erschrocken hat in den letzten Wochen nach Trumps Start, das ist diese völlige Abwesenheit von Moral. Die sogenannten westlichen Werte sind plötzlich Geschichte.

Den Eindruck habe ich auch und es ist leider gar kein Wunder, dass Trump und Putin offensichtlich ganz gut miteinander auskommen. Sie haben einen ähnlichen Wertekanon und der heißt: „Keine Werte.“ Wir sollten mit Europa sehr fest auf der anderen Seite stehen. Und Europa sollte sich auch nicht kleinmachen. Wir haben nach China und Indien den größten Markt der Welt, größer als die Vereinigten Staaten. Wenn Europa sich einig ist, dann ist Europa sehr stark. Wenn Europa sich aber umgekehrt spalten lässt, dann ist Europa schwach – und damit letztlich auch dem internationalen Ganoventum ausgeliefert.

Das trifft es wahrscheinlich ganz gut. Man reibt sich die Augen. Ich habe inzwischen immer schon Angst, überhaupt noch die Nachrichten einzuschalten. Geht es Ihnen da ähnlich?

Spaß macht das jedenfalls meistens nicht, das geht mir auch so. Und die neuen Nachrichten aus Amerika entstehen typischerweise, wenn wir gerade selig schlafen. Da wird jedes Aufstehen zum Abenteuer. Aber das istauch Teil der Strategie: Man versucht, permanent neue Nachrichten zu produzieren, um Reaktionen auf die davorliegenden gar nicht mehr zuzulassen. Das ist alles kein Zufall.

Kann dieses Chaos denn noch lange gutgehen in den USA? Dieses ständige Hin und Her richtet ja bereits auch in der amerikanischen Wirtschaft immensen Schaden an.

Man darf leider die Professionalität bei diesem Chaos nicht unterschätzen. Wir haben es mit ausgesprochenen Glaubenskriegern zu tun, intelligent, mit entsprechenden Netzwerken ausgestattet und finanziell mit unfassbaren Möglichkeiten. Das wird die amerikanische Gesellschaft deutlich zurückwerfen. Aber der Schaden wird auch von Woche zu Woche deutlicher – die Aktienkurse sind massiv zurückgegangen und Trump selbst mag eine Rezession in den USA nicht ausschließen. Wenn die amerikanische Gesellschaft schon nicht auf eine antidemokratische Politik reagiert, dann vielleicht ja auf wirtschaftliche Probleme. 

Was haben Sie gedacht, als Sie die Pressekonferenz mit Selenskyj gesehen haben?

Ich habe das zuerst gar nicht glauben können. Diese Form der inszenierten Demütigung war schwer zu ertragen. Aber immerhin dürften nun auch die letzten europäischen Länder erkannt haben, dass wir uns massiv um unsere eigene Sicherheit kümmern müssen. In Deutschland passiert das ja jetzt auch.

Konnten Sie den Unmut der Grünen bei den Verhandlungen über die Finanzpakete verstehen? Zumal Söder ja am Aschmittwoch noch nachgetreten hatte?

Ja, natürlich. Auf der einen Seite hat man sie in den vergangenen Monaten permanent beschimpft, teils sehr persönlich, und auf der anderen Seite sollten sie auf einmal mitspielen, zum Wohle des Landes. Das war schon eine gewisse Zumutung. Aber es ist gut, dass die Grünen trotzdem bei den Grundgesetzänderungen dabei sind. Sie werden ihrer Verantwortung gerecht und das ist gut für die Demokratie.

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Ein letztes Wort im Mai

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Ein letztes Wort im Mai


Ein letztes Wort

mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

 

Herr Weil, heute sprechen wir für die Mai-Ausgabe. Was machen Sie am 1. Mai?
Ich bin auf einer DGB-Veranstaltung.

Es ist der Tag der Arbeit. Vielleicht erläutern Sie mir mal kurz, warum dieser Feiertag noch zeitgemäß und vielleicht auch wichtig ist.
Wir leben unverändert in einer Arbeitsgesellschaft. Die meisten Menschen in Deutschland und auch weltweit sind abhängig Beschäftigte. Und Menschen in abhängiger Beschäftigung müssen sich zusammentun, um ihre Rechte durchzusetzen. Das klappt in Deutschland noch relativ gut, aber auch bei uns geht die Tarifbindung immer weiter zurück. In anderen Ländern gibt es allerdings noch sehr viel mehr zu tun für die Arbeitnehmerrechte als bei uns. Der internationale Tag der Arbeit ist also wichtig, um uns daran zu erinnern, was bereits erreicht wurde und was noch erreicht werden muss. Ich finde diesen Tag aber noch aus einem anderen Grund wichtig. Ich glaube, dass Arbeit ein ganz entscheidender Faktor für ein glückliches Leben ist. Davon bin ich fest überzeugt. Wer einer Arbeit nachgeht, die zufrieden macht und unter guten Bedingungen stattfindet, hat ein vergleichsweise besseres Leben, als jemand der keine Arbeit hat oder eine unbefriedigende Arbeit, die dennoch kaum zum Leben reicht. Der Tag der Arbeit ist für mich also auch wichtig, um uns an den Wert von guter Arbeit zu erinnern.

Am 1. Mai ist immer viel von Solidarität die Rede. Den Begriff können Sie mir als aufrechter Sozialdemokrat bestimmt wunderbar erklären …
(Lacht) Man hält zusammen, man steht zusammen, man unterstützt sich gegenseitig, man braucht sich gegenseitig. Übrigens ebenfalls eine unabdingbare Voraussetzung für ein zufriedenes Leben. Ich habe diesen Gedanken, dass jeder und jede sich selbst der und die Nächste sein sollte, noch nie so richtig verstanden. Nach dem Motto: wenn alle an sich denken, ist an alle gedacht. Für unsere Gesellschaft ist das kein guter Weg. Gleichwohl scheint es bei uns einen Trend in diese Richtung zu geben. Und das sollten wir im Auge behalten. Es kann einem nur gutgehen, wenn es den anderen auch gut geht.

Solidarität als Kitt für eine gut funktionierende Gesellschaft?
Unbedingt! Gemeinschaft ist wichtig. Und auf die Gefahr hin, dass ich hier Phrasen dresche: Geld allein macht tatsächlich nicht glücklich. Was uns wirklich glücklich macht, das sind Freundschaften, Beziehungen, Austausch, Zusammenarbeit und Begegnungen. Und dies auch bei der Arbeit. Darum bin ich beim Thema Homeoffice vorsichtig. Natürlich erhöht mobiles Arbeiten die Flexibilität der Beschäftigten und kann Vorteile für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bringen. Aber für das kollegiale Miteinander und den inhaltlichen Austausch ist die gemeinsame Arbeit an einem gemeinsamen Arbeitsort unverzichtbar.

Den Begriff der Work-Life-Balance sehe ich deswegen durchaus kritisch. Im Grunde wird durch diese Unterscheidung zwischen Arbeit und Leben signalisiert, dass ein größerer Teil der Lebenszeit offenbar nicht als Teil des Lebens empfunden wird. Das kann doch nicht unser Ernst sein! Ich habe zum Glück immer Arbeit gehabt, die ich als Teil meines Lebens empfunden habe und die für mich auch eine Erfüllung war. Und ich denke, dass es eigentlich darum gehen sollte, so eine Aufgabe zu suchen und zu finden. Im Trend scheint derzeit eher der Wunsch zu sein, möglichst wenig in diesem System eingebunden zu sein und möglichst viel Zeit zur freien Verfügung zu haben. Ich bin nicht überzeugt, dass das alle Menschen gleichermaßen glücklich macht. Und ich fürchte, so funktioniert es unterm Strich auch insgesamt nicht mit unserer Wirtschaft.

Die Forderung nach einem starken Sozialstaat und einer leistungsfähigen öffentlichen Daseinsvorsorge unterschreiben Sie trotzdem ohne Wenn und Aber, richtig?
Ja, natürlich. Es gibt diesen alten Satz aus der Geschichte der Arbeiterbewegung: Nur die Starken können sich einen schwachen Staat leisten. Natürlich kann ein Millionär für fast alle Risiken vorsorgen. Mit einem kleinen, überschaubaren Einkommen kann man das definitiv nicht. Ich halte es für eine große Qualität, dass unser Sozialstaat für so etwas Vorsorge trägt.

In den vergangenen Wochen wurde in Deutschland ja viel über die diversen Streiks diskutiert. Die Gewerkschaften sahen sich der Kritik ausgesetzt, die Gesellschaft in Geiselhaft zu nehmen und Deutschland lahmzulegen. Was sagen Sie diesen kritischen Stimmen?
Streiks sind selbstverständlich absolut notwendig, wenn man im Konfliktfall Einfluss auf Arbeitsbedingungen nehmen will. Schon wieder so ein alter, wahrer Satz: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Da sind wir wieder bei der Solidarität. Typischerweise sind ja die Kräfteverhältnisse so, dass der Arbeitgeber, meist ein Unternehmen, eine größere Macht hat als der oder die einzelne Beschäftigte. Das ändert sich nur durch den Schulterschluss. Ein wirklich historisches Erfolgsrezept.

Ganz davon abgesehen gibt es in Deutschland vergleichsweise wenig Streiks, gerade im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, wie z. B. Frankreich. Das liegt insbesondere auch an der in Deutschland etablierten und erfolgreichen Sozialpartnerschaft. Es gibt natürlich Konflikte zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, aber diese werden meist sehr dialogorientiert gelöst. Ich verstehe natürlich trotzdem, dass für Eltern der Streik in Kitas ein echtes Problem ist, aber ich würde daraus trotzdem nicht die Schlussfolgerung ziehen wollen, dass man über die Berechtigung von Streiks nachdenken sollte. Das würde ich für komplett falsch halten.

Kritische Stimmen zu den Streiks gab es im Bund auch vom Ampelpartner FDP.
Streik ist in Deutschland ein Grundrecht und im Grundgesetz verankert – und dies zurecht. Die Tarifverhandlungen sind Sache der Sozialpartner. Tariferhöhungen einzufordern, gerade vor dem Hintergrund einer hohen Inflation, ist die Aufgabe der Gewerkschaften. Und dies im Zweifel eben auch mit dem legitimen Instrument des Streiks. Würden sie sich anders verhalten, würden sie ihren Job verfehlen.

Wie sieht es denn bei den Gewerkschaften aus, was die Mitgliedszahlen angeht? Das war ja die vergangenen Jahre eher rückläufig …
Das ist bei den einzelnen Gewerkschaften sehr unterschiedlich. Gerade im öffentlichen Dienst und auch im Industriesektor führen Tarifkonflikte aber nicht selten zu einem Mitgliederzuwachs. Hier sind wir auch wieder beim Thema Solidarität. Die Beschäftigten haben in der Vergangenheit im Zweifel immer mehr erreicht, wenn sie sich in Gewerkschaften zusammengetan habe.

Ein massives Problem ist die Tarifflucht, oder?
Ja, das sehe ich mit großer Sorge. Die Zahl der Arbeitsplätze, die tarifgebunden sind, geht stetig zurück. Immer mehr Unternehmen verabschieden sich – in Niedersachsen sind es nur noch knapp über 50 Prozent und damit sind wir in Deutschland sogar über dem Durchschnitt. Wozu das führen kann, das sehen wir beispielsweise in der Altenpflege. Da haben wir traditionell einen ganz schlechten Organisationsgrad. Und es verwundert darum nicht, wenn Arbeitsbedingungen dort problematisch ausfallen. Fest steht, dass sich die Menschen eher keinen Gefallen tun, wenn sie einen Bogen um die Gewerkschaften machen.

Bei den großen, internationalen Unternehmen, die auch in Deutschland Standorte haben, gibt es die Tendenz, die Rechte der Arbeitnehmer*innen nicht ganz so sehr in den Fokus zu stellen, um es mal charmant auszudrücken. Betriebsräte haben es in solchen Unternehmen schwer. Sie waren neulich nicht bei Amazon zu Besuch …
Amazon hatte den Termin kurzfristig ohne Presseöffentlichkeit und Beteiligung des Betriebsrats geplant. Daraufhin habe ich meinen Besuch abgesagt. Es gibt mittlerweile aber eine erneute Einladung von Amazon, der ich demnächst gerne folge, um dann vor Ort unter anderem auch über die Situation der Betriebsräte zu sprechen.

Es gibt bei vielen, gerade auch bei sehr großen Unternehmen diesen Geist, dass Betriebsräte nur stören. Und dann wird ziemlich massiv dagegen gearbeitet.
Ja, das sogenannte Union Busting. Das ist ein Problem. Wir hatten in Deutschland mal eine Tarifbindung von über 70 Prozent. Dabei sind starke Gewerkschaften und Betriebsräte nicht allein ein Vorteil für die Mitglieder, sie sind auch insgesamt für die Gesellschaft sinnvoll, zumindest wenn es mit der Sozialpartnerschaft so läuft wie in Deutschland. Gerade in den Krisen haben auch die Unternehmen nämlich festgestellt, dass die Gewerkschaften eine große Hilfe waren. Beispielsweise während der Weltfinanzkrise 2008/2009. Damals haben die Gewerkschaften alles dafür getan, dass sowohl die Beschäftigten als auch die Betriebe gut durch die Krise kommen. Denn es gibt ja auch ein übergeordnetes gemeinsames Interesse: sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer möchten, dass es dem jeweiligen Unternehmen gut geht.

Interview: Lars Kompa

 

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