Die eiskalte Republik (Titel 2024-05)

Wenn alle zuerst an sich denken …

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Wenn Politikerinnen und Politiker davon erzählen, „was ihnen die Leute so sagen“, dann sind „die Leute“ ziemlich häufig Taxifahrerinnen und Taxifahrer, mit denen man auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel ein kleines Pläuschchen hält. Man fragt ein bisschen ab, worüber die „normalen Menschen“ sich gerade so aufregen, was die Themen sind. Und nach so einem erhellenden Gespräch weiß man dann Bescheid und kann entsprechend gute Politik für die Basis machen. Diese Strategie, den „normalen Menschen auf den Mund zu schauen“, ist natürlich nicht allein Politikerinnen und Politikern vorbehalten, man erzählt sich, dass beispielsweise Populärphilosophen und Populärsoziologen gelegentlich ganze Bücher aufgrund solcher Recherchen an der Basis schreiben. Und auch Menschen, die sich in Stadtmagazinen gerne um Kopf und Kragen reden, greifen hin und wieder auf solche persönlichen Begegnungen zurück, wenn es darum geht, die Stimmungen in der Gesellschaft einzufangen. Neulich hatte ich es sehr eilig und bin ebenfalls in ein Taxi gestiegen – ich hätte meinen Termin sonst nicht rechtzeitig geschafft. Man muss dazu wissen, dass es für Taxifahrerinnen und Taxifahrer in Hannover (und wahrscheinlich überall auf der Welt) eine Art Challenge ist, möglichst zügig durchzukommen, trotz Stau und „irren Ampelschaltungen“. Ich war nach einer rasanten Fahrt pünktlich und hatte ein Gespräch, das zum Monolog wurde. Mein Eindruck: Die Stimmung an der Basis ist ziemlich mies. Warum schreibe ich das alles hier auf? Weil ich gar nicht erst den Eindruck erwecken möchte, dass dieser Text mehr bietet als meinen ganz persönlichen Blick. Vielleicht ist meine folgende kleine Bestandsaufnahme über den Zustand unserer Gesellschaft auch kompletter Blödsinn, vielleicht irre ich mich fundamental. Vielleicht aber auch nicht …

Es könnte sein, dass die bemerkenswert rasante Taxifahrt meinen Eindruck von einer echt mies gelaunten Basis verstärkt hat. Wir waren wahlweise auf der Flucht oder auf der Jagd. Und ich glaube nicht, dass der Taxifahrer während seines Monologs jemanden vergessen hat – er hat alle beschimpft und beleidigt. Die da oben, die Veggies, die Kiffer, die faulen Jugendlichen, die Israelis, die Russen, die Amis, die Reichen, dann die SPD, die ja wohl echt alles verkackt mit diesem Kanzler, den man nicht versteht, die Grünen, diese Besserwisser und Salatfresser, wobei die Grünen in Hannover noch schlimmer sind als die anderen Grünen, die FDP, diese arroganten Idioten, insbesondere diese nervige Oma. Dann die CDU, die jahrelang gar nichts zustande gebracht hat und jetzt so tut, als hätte sie mit der ganzen Misere überhaupt nichts zu tun. Und schließlich noch die AfD. Für den „Arbeitskreis faschistisches Deutschland“ hatte der Taxifahrer ebenfalls keinerlei Sympathie. Ach ja, und ganz zuletzt ein kurzer Kommentar zum Bündnis Sahra Wagenknecht: „Völlig irre, aber schöne Beine.“ Und anschließend ein Exkurs über Komplimente und was man eigentlich noch sagen darf.

Und dann hat mir dieser Taxifahrer etwas gezeigt: „Hier, jetzt kannst du dir mal live ansehen, was falsch läuft in Deutschland.“ Wir fuhren auf der linken Spur, irgendwo vor uns eine Baustelle. Rechts einordnen. „Reißverschluss“ heißt das Zauberwort. „Es fängt an mit den Vollpfosten, die schon rechts reinwollen, obwohl sie noch ein ganzes Stück bis zur Baustelle fahren könnten. Die blockieren dann schon mal die gesamte linke Spur, während sie auf eine Lücke warten. Ich fahre jetzt bis ganz nach vorne und zeige dir mal, was passiert.“ Es passierte leider eine Weile gar nichts, weil niemand uns dazwischen ließ. „Das meine ich. Guck dir das an, das ist doch krank. Und die gucken dich alle nicht an. Die gucken nur stur geradeaus. Wenn sie gucken würden, dann würden sie dich ja wahrnehmen und dann müssten sie sich schämen. So müssen sie sich für gar nichts schämen. Verdammte Arschlöcher!“ Ich kann nicht leugnen, dass ich mich an dieser Stelle der Einschätzung des Taxifahrers anschloss. Mein Eindruck war ganz ähnlich.

Über das Phänomen des nicht funktionierenden Reißverschlusses habe ich schon vorher das eine oder andere Mal gegrübelt. Besonders bemerkenswert finde ich Baustellen auf der Autobahn, wo es erst zweispurig und dann einspurig wird. Da ist es mir schon passiert, dass ich jemanden auf der zweiten Spur fahrend hereingelassen habe, der dann aber gleich eine Lücke genutzt hat, um sich schon mal ganz rechts einzusortieren, und der mich wenig später nicht hereingelassen hat. Er fuhr dazu so dicht auf den Wagen vor ihm auf, dass sich fast die Stoßstangen berührten. Keine Lücke für niemanden! Ich zuerst! Das scheint mir so ein Trend zu sein. Wobei ich gar nicht weiß, ob das ein neuer Trend ist. Vielleicht war es auch schon immer so, vielleicht war früher nicht alle besser. Aber gefühlt war es besser. Gefühl sind die Ellenbogen in unserer Gesellschaft während der letzten Jahre immer spitzer geworden.

Ein ganz ähnliches Beispiel wie die Straßen sind die Schlangen im Supermarkt. Da ich nicht so oft zum Einkaufen komme, habe ich meistens ziemlich viel im Wagen. Und es war für mich immer eine Selbstverständlichkeit, Leute mit nur ein paar Kleinigkeiten vorzulassen. Früher gab es dafür ein freundliches „Dankeschön“. Heute fällt das meistens aus. Man bekommt eher einen mitleidigen Blick und ich bilde mir ein, den Gedanken hinter der Stirn zu hören: „Du Trottel lässt mich also vor … Opfer!“ Ich Trottel lasse aber trotzdem weiter Leute mit ein paar Kleinigkeiten vor, weil man ja nicht auf jeden bescheuerten Trend einsteigen muss. Jetzt erst recht! Ich grüße auch alle Nachbarinnen und Nachbarn freundlich, obwohl ich fast nie zurückgegrüßt werde. Und der älteren Frau mit dem Hund wünsche ich immer ein schönes Wochenende. Meistens sagt sie Danke, aber noch nie hat sie mir auch ein schönes Wochenende gewünscht. Warum? Weil ihr mein Wochenende völlig egal ist. Weil es viel wichtiger ist, dass der Hund jetzt gegenüber in den Grünstreifen kackt. Damit erstmal wieder Ruhe ist. Ich verstehe das.

Was ich nicht verstehe, ist die teils völlige Abwesenheit von Achtsamkeit und Mitgefühl. Da liegt ein Mensch auf der Straße, offensichtlich hat er versucht, sich an einer Straßenlaterne festzuhalten und ist abgerutscht. Er liegt dort und hat die Laterne umarmt. Und er sieht nicht besonders gesund aus. Ich gehe hin, während viele andere eilig vorbeigehen und ein paar Jugendliche sich lustig machen. Der Mann reagiert auf meine Ansprache. Er sagt, es gehe ihm gut und ich gehe beruhigt weiter. Komme aber nur ein Stück weit, denn hinter mir haben die Jugendlichen beschlossen, den Mann mit Müll zu bewerfen. Die Jugendlichen laufen weg, als ich näherkomme. Offensichtlich habe ich irre genug ausgesehen, um ihnen Angst zu machen. Und ich bin ja auch irre. Weil ich nun diesem Mann hochhelfe und ihn zu einer Bank begleite. Weil ich diesen Unberührbaren berühre, einen ungewaschenen, verwahrlosten und sehr betrunkenen Mann. Ich fange ein paar Blicke auf. Eine jüngere Frau scheint angewidert zu sein. Von dem Mann auf der Bank, aber auch von mir. Ich fühle mich unwohl. Der Mann macht es sich gemütlich, die Jugendlichen sind nirgends mehr zu sehen. Ich mache, dass ich wegkomme. Die Situation ist mir unangenehm.

Neulich hatte ich einen Freund dabei und es gab eine ganz ähnliche Situation. Wir haben und zu zweit gekümmert, das war wesentlich einfacher. Und es gab sogar wohlwollende Blicke. Scheinbar macht es einen Unterschied, ob man sich allein kümmert oder ob mehrere sich einmischen. Allein macht man sich wohl irgendwie verdächtig. Nach außen gekehrtes Gutmenschentum. Seht alle her, was ich für ein toller Mensch bin, ich kümmere mich selbstlos um die Gefallenen unserer Gesellschaft! Und dafür möchte ich nun bitte Applaus. Ich habe eine Ahnung davon, mit welchen Vorurteilen es Lokalpolitikerinnen und Lokalpolitiker zu tun haben. Die wollen sich alle nur wichtigmachen. Denen geht es im Grunde nur um das eigene Ego. Die wollen sich größer machen als sie sind. Die arbeiten sich an ihrer Profilneurose ab. Auch viele Ehrenamtliche haben mit solchen Einschätzungen zu tun. Es ist nicht „normal“, sich zu kümmern. Empathie, Mitleid, Achtsamkeit, Mitmenschlichkeit, das alles scheinen inzwischen Begriffe aus der Mottenkiste zu sein. Neulich sagte jemand zu mir, Empathie sei gut für das soziale Konto, man könne sich so in einer Gruppe aufwerten, was sich auch karrieretechnisch auszahlen kann. Super! Wie viel Empathie brauche ich denn, wenn ich eine mittele Beamtenlaufbahn anstrebe, habe ich gefragt. Wahrscheinlich gar keine, war die Antwort. Tja, und ich vermute stark, hier könnte sich ein Problem andeuten.

Ich will nicht die Jugendlichen vergessen. Die Jugendlichen, die einen offensichtlich hilflosen Menschen mit Müll bewerfen. Hier deutet sich schon wieder ein Problem an. Beziehungsweise zwei Probleme. Erstens: Warum zum Teufel tun Jugendliche das? Und teilweise noch viel Schlimmeres? Und zweitens: Warum liest man da eigentlich so drüber weg? Jugendliche bewerfen einen Menschen mit Müll. Schulterzucken. Weil wir uns inzwischen daran gewöhnt haben, dass sie so etwas tun. Solche Geschichten geistern ja jeden Tag durch die Medien. Das regt niemanden mehr auf.

Also, warum tun Jugendliche das? Ich lehne mich mal aus dem Fenster: Sie tun das, weil sie der Spiegel unserer Gesellschaft sind. Sie reproduzieren das, was sie zu Hause erleben und gesagt bekommen und was man ihnen über die Endgeräte in die Hirne spült. Und ihnen wird gesagt, dass sie sich nichts gefallen lassen sollen, dass die Welt ungerecht ist, dass sie sich durchkämpfen müssen, dass die, die auf der Strecke bleiben, selbst schuld sind und dass sie darauf achtgeben sollen, nicht zu kurz zu kommen. Irgendwann vor zig Jahren gab es plötzlich diese Shows im Fernsehen, in denen sich Menschen bei irgendwelchen Gelegenheiten voll auf die Fresse legten, immer mit dem Hinweis zu Beginn, dass bei den kleinen Unfällen natürlich niemand ernsthaft zu Schaden gekommen sei. Ich habe diese Sendungen nie lange ausgehalten. Ich konnte das nicht ertragen. Heute gehören solche Fail-Schnipsel zum medialen Alltag, überall unangenehme blaue Flecken und wenn sich ein junger Mann bei einem Skateboard-Fail nachhaltig die Weichteile schrottet, ist das Gelächter groß. Mitleid? Empathie? Scheint ein bisschen aus der Mode geraten zu sein.

Wenn man Jugendliche fragt, warum sie lachen, bekommt man übrigens sehr oft eine bemerkenswerte Antwort: „Ich kenne die ja nicht.“ Was die komplette Abwesenheit von Empathie rechtfertigt. Und ja, auch darin spiegelt sich aus meiner Sicht unsere Gesellschaft. Wir blicken zuallererst auf uns selbst und dann auf unsere nächsten Verwandten, auf unsere Familie, unsere Kinder. Alle anderen interessieren uns nicht oder nur peripher. Theoretisch ist das natürlich ganz anders und in den Sonntagsreden ebenfalls, aber in der Realität sind unsere Sympathien sehr begrenzt. Und klar, es gibt Ausnahmen. Es gibt viele, die sich für unsere Gesellschaft engagieren, die ehrenamtlich helfen, die teilen. Aber ist das wirklich die Mehrheit, oder hoffen wir nur, dass es viele sind, damit uns ein bisschen wohler zumute ist?

Wie kommt es, dass wir ständig Neiddebatten führen? Wie kommt es, dass die CDU damit punkten kann, den „Faulen“ die Unterstützung zu kürzen? Wie kommt es, dass so viele Menschen die Mittel für die Entwicklungshilfe am liebsten komplett streichen würden, mit dem Hinweis, dass man mit diesem Geld hier bei uns besser die Schulen sanieren sollte? Wie kommt es, dass man den Flüchtlingen die Unterstützung neidet? Vielleicht fehlen stellenweise die Kenntnisse, wozu beispielsweise die Entwicklungshilfe da ist, das erschließt sich ja erst, wenn man in die Thematik ein bisschen tiefer einsteigt. Warum man aber Flüchtlingen, Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, ihre Verwandten, ihre Eltern, die zutiefst traumatisiert sind, warum man solchen Menschen die Unterstützung neidet, warum man an dieser Stelle vergleicht und kleinlich wird, das scheint mir jedoch eher mit der kompletten Abwesenheit von Empathie erklärbar.

Und es ist seltsam, eigentlich müssten wir in dieser Welt, die durch ständigen Wandel geprägt ist, die immer unsicherer und gefährlicher wird, enger zusammenrücken. Wir müssten solidarischer werden, empathischer, wir müssten unseren Blick schärfen für größere Zusammenhänge, wir müssten gemeinsam nach Lösungen suchen, doch stattdessen erleben wir Neid, soziale Kälte, Egoismus, Misstrauen, Konkurrenzdenken, Gleichgültigkeit und sehr viel offenen Hass. Sind wir eigentlich noch zu retten?

LAK

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