Ein letztes Wort im Februar

Herr Weil, wir sprechen Mitte Januar und natürlich über Corona und
Omikron. Wie bewerten Sie die aktuelle Lage?
Wir sind in Niedersachsen vergleichsweise sehr gut durch die vierte Welle gekommen und wir schlagen uns bisher auch in der Omikron-Welle noch achtbar. Aber erwartungsgemäß gehen die Zahlen nun deutlich hoch und die Folgewirkungen sind derzeit noch unklar. Wir wissen einerseits: Omikron ist wesentlich ansteckender als die anderen Virusvarianten, die wir bis jetzt kannten. Aber Omikron ist andererseits anscheinend deutlich weniger gefährlich. Es gibt bislang weniger Einweisungen auf den Intensivstationen. Die Frage ist, ob die hohen Ansteckungszahlen diesen Vorteil wieder zunichtemachen. Das ist heute noch ungewiss und wir warten auf entsprechende wissenschaftliche Ergebnisse. Was die öffentliche Stimmung in Niedersachsen angeht, habe ich den Eindruck, dass wir im Moment eine ganz gute Balance haben. Die Regeln werden akzeptiert, auch weil wir auf praktische Einwände eingegangen sind: Also zum Beispiel in der Gastronomie mit „2G plus“, aber der Möglichkeit, bei einer Kapazitätsreduzierung auf das „plus“ zu verzichten. Wir haben jedoch hohe Unsicherheitsfaktoren. In einer Woche kann die Lage schon wieder ganz anders sein.

Und über Niedersachsen hinaus, wie ist aus Ihrer Sicht die Lage insgesamt in Deutschland?
Ich finde auffällig, dass es bei uns diese Omikron-Wand bisher nicht gab, also keine Infektionskurve mit einem beinahe 90-Grad-Winkel, so wie das in anderen europäischen Ländern zu beobachten war. Bei uns steigt sie ebenfalls, unübersehbar und auch steiler als früher, aber es hat nicht diesen Explosionscharakter. Bis jetzt. Das mag daran liegen, dass wir in Deutschland und noch mehr in Niedersachsen frühzeitig ein höheres Schutzniveau hatten. Auf der anderen Seite: Unsere Impflücke ist nach wie vor zu groß. Da gibt es Licht und Schatten. Wir sind jetzt beim Boostern bei über 50 Prozent in Niedersachen, das ist schon gut. Aber etwa jeder sechste Erwachsene ist noch gar nicht gegen Covid geimpft, das sind noch viel zu viele. Wir brauchen einen wesentlich höheren Impfschutz in der Bevölkerung. Das entscheidet nach meiner Überzeugung auch darüber, ob wir diese Pandemie in den Griff bekommen.

Bis die nächste Variante an die Tür klopft …
Klar, es kann immer richtig schlechte Überraschungen gaben. Und es wird auch neue Virusmutationen geben. Aber wenn wir insgesamt einen hohen Impfschutz haben in unserer Gesellschaft, dann muss uns das nicht so Bange machen. Wenn die Impflücke allerdings zu groß ist, können wir im Herbst wieder vor denselben Problemen stehen.

Womit wir wieder bei dem Problem sind, dass sich viele Leute nach wie vor nicht impfen lassen wollen. Eine sehr heterogene Gruppe, teilweise gut gebildet. Und trotzdem sind die mit sehr seltsamen „Fakten“ unterwegs. Kriegen Sie das zusammen?
Nein, ich verstehe es nicht. Lasse ich mich impfen oder nicht? Aus meiner Sicht ist das eine Frage, die nicht ausschließlich persönlich beantwortet werden kann. Die Frage des Impfschutzes spielt doch insgesamt für die Gesellschaft eine große Rolle. Es gib die Ansteckungen, die Schutzmaßnahmen, die Einschränkungen, das betrifft uns alle. Leider erreichen wir offensichtlich einen Teil der ungeimpften Menschen nicht mit Argumenten.

Es kursieren ja die absurdesten Geschichten über Genmanipulation und Unfruchtbarkeit …
Ja, und genau das berührt natürlich tiefste Ängste. Das ist perfide, das sind teilweise wirklich böswillige Fake News.
Ich habe festgestellt, dass ich mich sehr gut vorbereiten muss, wenn ich mit Corona-Leugnern oder Impfgegnern diskutieren will. Ganz oft sind die sehr im Thema, sie haben sich sozusagen fortgebildet auf YouTube und Co. Und sie argumentieren dann sehr selbstbewusst. Wenn ich etwas entgegensetzen will, muss ich ebenfalls Fakten parat haben. Ich höre das auch oft in meinem Bekanntenkreis, es ist gar nicht so leicht, in den Diskussionen zu bestehen.

Wobei es sehr klare Fakten gibt. Etwa 85 bis 90 Prozent der Corona-Patienten auf den Intensivstationen sind nicht geimpft.
Das ist so, das lässt sich nicht bestreiten. Oder nehmen sie die Forschungen zu Long Covid. Wir haben es nachweisbar mit einem gefährlichen Virus zu tun, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel mehr. Wer das nicht glaubt, der möge den Menschen zuhören, die mit Long Covid zu kämpfen haben. Aus meiner Sicht haben wir nur zwei Möglichkeiten, um die Lage langfristig in den Griff zu bekommen: Entweder, wir ergreifen immer wieder sehr harte Schutzmaßnahmen, was kein Mensch will. Oder wir sind alle miteinander durch die Impfung bestmöglich geschützt. Großbritannien hatte jetzt gerade eine harte Omikron-Welle, das Gesundheitswesen hat das dort aber noch bewältigen können. Warum? Weil man in Großbritannien eine Impfquote hat, die wesentlich höher ist als in Deutschland. Die Faktenlage ist aus meiner Sicht relativ klar. Übrigens auch bei den Impfschäden, die im Vergleich zum Nutzen verschwindend gering sind. Ich möchte nicht wissen, wie viele Menschenleben Corona in Deutschland ohne Impfung gekostet hätte. Wir impfen zielstrebig seit 2021 und können gut vergleichen, welche Todeszahlen es vorher gegeben hat. Bei vielen scheint aber die Erinnerung an Ende 2020, Anfang 2021 schon verblasst zu sein. Gerade in den Alten- und Pflegeeinrichtungen sind damals sehr viele Menschen gestorben, das war ganz furchtbar!

Was immer wieder kommt, ist der Vergleich mit der normalen Grippe. Und gerne wird dann gesagt, dass an Corona nun auch nicht viel mehr Menschen sterben …
Dann stellen wir uns mal kurz vor, es hätte keine umfassenden Schutzmaßnahmen gegeben und keine Impfung. Welche Todeszahlen hätten wir dann? Man kann das ansatzweise in jenen Ländern sehen, die Corona zunächst nicht ernst genommen haben. Das hatte dort teilweise verheerende Folgen. Wir können wirklich von Glück reden, dass wir all diese Schutzmaßnahmen haben. Und die einfachste und wirksamste ist die Impfung. Das hat zuletzt auch wieder eine Krankenhaus-Pflegekraft bei der Kundgebung für Solidarität und gegen Corona-Leugner auf dem Opernplatz sehr eindrücklich geschildert.

Sie sind also sehr klar für eine Impfpflicht?
Ja, das bin ich. Das war ich zunächst ehrlicherweise nicht, weil wir es natürlich mit einem Grundrechtseingriff zu tun haben. Aber spätestens mit Omikron ist mir sehr klar geworden, dass wir einen ständigen Wechsel von neuen Infektionswellen und dazwischen Entspannungsphasen erleben. Und manchmal geben sich die Infektionswellen sogar die Klinke in die Hand, so wie jetzt bei der vierten und fünften Welle. Das zermürbt unsere Gesellschaft, das ist verbunden mit großen gesellschaftlichen Schäden, zum Beispiel bei den Kindern und Jugendlichen. Dieser Gefahr immer neuer Wellen können wir nur mit einem hohen Impfniveau begegnen. Ich bin kein Fan der Impfpflicht, aber sie ist leider nötig.

Sie glauben also nicht, dass sich noch viele Menschen durch Argumente überzeugen lassen.
Wir werden mit aufsuchenden Impfangeboten und intensiver Aufklärung sicherlich noch Menschen erreichen können. Aber nach den vielen Monaten der Überzeugungsarbeit oder zumindest der Versuche, bin ich auch einigermaßen desillusioniert. Es gibt eine ganz große Mehrheit der Gesellschaft, die mit einem sehr klaren Blick einverstanden ist mit den Maßnahmen, aus eigener Einsicht. Und es gibt eine Minderheit, die schottet sich immer mehr ab, die ist für Argumente gar nicht mehr offen. Die ist nicht mehr interessiert an Fakten. Grundsätzlich: Wir leben in einem freien Land und jeder soll seine Meinung haben. In diesem speziellen Fall ist aber die Meinung des einen das Risiko des anderen. Wenn die Gruppe der Ungeimpften zu groß bleibt, dann ist das permanent ein latentes Risiko für alle anderen. Und das ist einfach nicht akzeptabel.

Befürchten Sie nach einer Impfpflicht eine noch größere Radikalisierung?
Das ist sehr schwer abzuschätzen. Wir wissen natürlich aus der Geschichte, dass sich aus größeren Protestbewegungen immer noch radikalere Zweige entwickelt haben. Und bei den momentanen Protesten ist sehr offensichtlich, dass Personen mit rechtsextremen Überzeugungen wirklich beide Füße mit drin haben. Insofern müssen wir an der Stelle sehr achtsam sein. Es ist gut, wenn die Verfassungsschutzbehörden genau hinsehen und beispielsweise auch die Netzaktivitäten sehr sorgfältig überprüfen.

Also mehr Überwachung?
Mehr Vorsicht. Ich bin ein Anhänger einer wehrhaften Demokratie. Wir wollen ein freies Land sein, das gilt es dann auch zu schützen. Olaf Scholz hat mal gesagt, er sei liberal, aber nicht blöd. Das bringt es für mich ganz gut auf den Punkt.
     ● Interview: Lars Kompa


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