Ein letztes Wort im Juni

Herr Weil, wir sprechen Mitte Mai und nach wie vor gibt es keine Aussicht auf Frieden in der Ukraine. Wir werden uns auf einen langen Krieg einstellen müssen. Und allmählich werden auch die Konsequenzen hier bei uns und in der Welt sichtbarer. Die wirtschaftlichen Schäden werden immens sein, viele Menschen in sehr vielen Ländern werden die Folgen zu spüren bekommen. Ich denke da nicht nur an Öl und Gas, sondern auch an Getreide …
Ja, aktuell sieht es leider so aus, dass der Krieg noch lange dauern wird, die Bundesregierung spricht von einem Stellungskrieg. Die Auswirkungen für die Betroffenen in der Ukraine sind dramatisch. Aber Millionen Menschen in vielen anderen Ländern werden auch unter den Folgen des Krieges leiden müssen: Der drohende Getreidemangel wird zu noch viel größeren Hungersnöten führen als es sie ohnehin in vielen Regionen der Welt schon gibt. Dass Putin das Auslaufen von Frachtern, die mit Getreide beladen sind, aus ukrainischen Häfen verhindert, ist eine zynische Grausamkeit.

Dieser Krieg zeigt sehr klar, wie eng inzwischen alles miteinander verwoben ist. Müssen wir die Globalisierung jetzt ein ganzes Stück weit zurückdrehen?
Aus meiner Sicht lässt sich die Globalisierung nicht zurückdrehen, aber wir müssen sie verändern. Sie muss nachhaltiger und krisenfester werden. Staaten müssen schauen, dass besonders wichtige Produkte im Zweifel auch im eigenen Land produziert werden können, denken wir an die Corona-Impfstoffe. Und wenn wir weltweit den Klimaschutz verbessern wollen, muss es auch mehr um lokale Lebensmittel gehen anstelle des irrwitzigen Transports von schicken Obstsorten einmal quer über den Erdball. Die soziale Dimension ist ebenfalls nicht zu vergessen, Stichwort Kinderarbeit. Da ist Deutschland mit dem Lieferkettengesetz und Verpflichtungen von Unternehmen bei einer Produktion im Ausland vorangegangen.

Was wir erleben, ist ja auch in gewissem Sinne ein Krieg der Systeme. Die Demokratien geraten überall auf der Welt zunehmend unter Druck …
Ja, die Demokratie ist das mit Abstand überzeugendste Staatsmodell, aber eben auch empfindlich. Sie muss lebendig gehalten und aktiv von den Bürgerinnen und Bürgern getragen und gestaltet werden. Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Feinde der Demokratie zu viel Raum bekommen. Dazu gehören sicher vertrauenswürdige Politikerinnen und Politiker, die sich eng mit den Bürgerinnen und Bürgern austauschen, sich intensiv um deren Probleme kümmern und die die anstehenden Veränderungen klug und umsichtig gestalten. Aber zu einer lebendigen Demokratie gehören auch Bürgerinnen und Bürger, die sich einbringen, sich engagieren und für die Demokratie werben.

Zuletzt stand es in Frankreich auf der Kippe. Wie erleichtert waren Sie nach der erneuten Wahl Macrons?
Ich war unendlich erleichtert, dass Macron es geschafft hat. Die Möglichkeit, dass eine rechtsextreme Kandidatin Staatschefin in Frankreich hätte werden können, war erschreckend. Deutschland und Frankreich sind wichtige Pfeiler eines solidarischen, sozialen, demokratischen, toleranten und weltoffenen Europas. Aber es gab an diesem Wahlabend auch einen großen Wermutstropfen: Über zweiundvierzig Prozent für Frau Le Pen, das ist ein echtes Alarmzeichen.

Auch in den USA ist die Demokratie unter Druck. Bei der nächsten Wahl geht es dort sozusagen schon wieder um alles …
Wir alle hatten gehofft, dass die Ära Trump endgültig zu Ende sein würde, das ist aber alles andere als sicher. Es ist in den USA nach wie vor nicht gelungen, das starke Gefälle zwischen Ost- und Westküste einerseits und den großen Regionen dazwischen zu reduzieren. Ich wünsche mir sehr, dass die Biden-Regierung da doch noch einiges erreichen wird.

Klar ist, dass Russland, aber auch andere autokratisch geführte Staaten, sehr bewusst und gezielt versucht haben und weiter versuchen, die Demokratien der Welt zu schwächen. Man will zum Beispiel durch gezielte Desinformation destabilisieren. Die Lüge ist in Zeiten des Internets eine wirksame Waffe …
Das stimmt. Zu viele Menschen informieren sich ausschließlich in Echoräumen, zu Ihnen dringen kaum mehr objektive Informationen und harte Fakten durch. Und nicht nur im Internet wird eine offene Diskussion bedroht: Auch in den Wahlkämpfen in Schleswig-Holstein und NRW hat sich gezeigt, dass Kundgebungen und Wahlkämpfe immer häufiger gestört werden von Impfgegnern und anderen Gruppen. Noch einmal: Umso wichtiger ist deswegen das Engagement von denjenigen, die in diesen und anderen Fragen eine breite gesellschaftliche Mehrheit vertreten.

Die Bedeutung einer unabhängigen Presse kann man darum gar nicht genug herausstellen, oder?
Wir merken doch, gerade in schwierigen, verunsichernden Zeiten ist eine qualitativ hochwertig arbeitende freie Presse von enormer Bedeutung. Ich bin dankbar, dass wir in Niedersachsen nach wie vor viele kluge und selbstbewusste Zeitungsmacherinnen und   -macher haben. Ihnen wünsche ich von Herzen eine große, treue und gerne noch wachsende Leserschaft. Gleichzeitig wird immer mehr Menschen in Deutschland bewusst, was sie an dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und seiner verlässlichen fundierten Berichterstattung haben. Aber auch diese Medien werden angegriffen und brauchen Unterstützung.

Schwierig ist, dass es irgendwann kein Richtig oder Falsch mehr zu geben scheint. Die Wahrheit bleibt auf der Strecke …
Doch, es gibt richtig und falsch, es gibt Wahrheit und Lüge. Das ist doch die perfide Vorgehensweise der Trumps dieser Welt – einfach die Realität leugnen. Aber zu viele Menschen schauen und hören nicht mehr genau genug hin. Umso wichtiger bleiben Medien, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlen. Das ist ein echter Beitrag für die Demokratie.

Zur Wahrheit gehört auch, dass sich westliche Demokratien mit der Wahrheit stellenweise ebenfalls schwergetan haben oder noch schwertun. Ich denke da beispielsweise an die USA und den Fall Julian Assange, dessen „Verbrechen“ es ist, amerikanische Kriegsverbrechen öffentlich gemacht zu haben. Wäre es nicht der Anfang einer neuen Ehrlichkeit, auch hier eindeutig Position zu beziehen?
Julian Assange ist ein mutiger Mann, er hat amerikanische Kriegsverbrechen aufgedeckt und veröffentlicht. Er verdient eine faire und rechtsstaatliche Behandlung.

Was halten Sie denn von der Idee, einen Teil des Geldes, das nun in die Rüstung investiert werden soll, in die Pressefreiheit zu investieren? Wie wäre es mit einem russischsprachigen Sender, der sich strikt an die Grundsätze einer unabhängigen und freien Presse hält? Ich denke da an die obersten Gebote der Presse, die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit. Für so einen Sender bräuchte es keine Milliarden.
Das gegeneinander auszuspielen, davon halte ich gar nichts. Und letztlich gibt es das, was sie vorschlagen in gewisser Weise bereits: Die aus Steuermitteln des Bundes finanzierte Deutsche Welle macht nach wie vor ein fundiertes russischsprachiges Online-Angebot. Zwar werden die DW-Webseiten und auch die Facebook-Seite des Senders seit Anfang März dieses Jahres in Russland blockiert. Aber sie dringt weiter durch, es werden offenbar erfolgreich Strategien und Hilfsmittel zur Umgehung von Zensur eingesetzt. Ich freue mich, dass die Informationen der Deutschen Welle in russischer Sprache sowohl in Russland als auch im Rest der Welt seit Kriegsausbruch einen deutlichen Anstieg der Nutzerzahlen verzeichnen.

Aus meiner Sicht ist eine der schärfsten Waffen der Demokratien die Wahrheit. Und ich finde, es ist höchste Zeit, sich mit allen verfügbaren Mitteln gegen die Lügen zu stemmen …
Tolles Schlußwort! Da unterschreibe ich jede Silbe.

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