Tag Archive | "2020-10"

Tonträger im Oktober

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Tonträger im Oktober


The Sonic Weeth Experience :
The Second World Or Love Beats Addiction
Aus Sonic Youth und Das Weeth Experience, den Bands, die den hannoverschen Musiker Matthias Stöckel am stärksten beeinflusst haben, ist der Titel seines Soloprojekts zusammengesetzt. Stöckel, der ansonsten als Bassist mit dem Rudi B. Szymanek Quintett unterwegs ist, versteht seine Musik als „Independent Gitarren Krautrock“.

 

 

 

 

Björn Hahne: Schatten
Der hannoversche Singer-Songwriter singt über Liebe, zerbrochen oder erfüllt, Trauer und Hoffnung – worüber man eben so singt in diesem Genre, das gerade deutschsprachig eine Gratwanderung sein kann zwischen herrlich und grausam. Er wandelt absolut trittsicher auf der richtigen Seite und das unangestrengt und leidenschaftlich, und er spielt dabei auch noch so gut Gitarre, dass es eine Freude ist!

 

 

 

 

The String Theory:
The Los Angeles Suite
Eher internationales Ensemble-Kolletiv als Orchester, liefert das in Berlin und Göteborg angesiedelte Ensemble mit seinem vierten Album eine Mischung aus Elektronik, Pop mit Musical-Einflüssen und moderner Klassik mit leichten Radiohead-Anklängen. Ein rätselhaft überflüssiger Spoken-Words-Track zwischen echten Hits stört ein bisschen den Gesamteindruck.

 

 

 

Everything Everything :
Re-Animator
Stürmisch, hymnisch-jubelnd erobern uns die überwiegend im Falsett vorgetragenen Indie-Synthpop-Knaller der vierköpfigen Band aus Manchester, Newcastle und Kent. „Meine einzige Regel beim Musikmachen war immer, nicht wie irgendjemand sonst zu klingen“, so Sänger Jonathan Higgs unbescheiden, und das gelingt ihm, besonders in der ersten Hälfte des Albums sogar ganz gut.

 

 

 

Susanna: Baudelaire & Piano
Die norwegische, klassisch ausgebildete Pianistin, Sängerin und Komponistin Susanna Wallumrød hat auf der Grundlage von Versen aus „Les Fleurs Du Mal“ des französischen Dichters Charles Baudelaire ein sehr reduziertes, klares Album kreiert: Lediglich Klavier und ihre ätherisch anmutende Stimme schaffen eine fesselnde Grundstimmung, die den einzigartigen Versen ihren Raum lässt.

 

 

 

 

Krief: Chemical Trance
Ein rauschhaftes Album des kanadischen Singer-Songwriters und Multiinstrumentalisten zwischen psychedelischem Stoner Rock und den Flaming Lips: Wer hier nur mal kurz reinhören möchte, tut sich schwer, wieder herauszukommen. Genauso war das geplant von Krief: „Schließe die Augen, und wenn die letzte Note erklingt, musst du neu starten, weil dein Geist in eine andere Ebene abgedriftet ist.“

 

 

 

 

Fantastic Negrito: Have You Lost Your Mind Yet?
Eigentlich möchte man erst mal ein Buch lesen über Xavier Amin Dphrepaulezz, geboren 1968 im Nordwesten der USA. Vom Drogendealer, der irgendwann etwas Legales tun möchte, seinem Vorbild Prince nacheifert und sich mehr oder weniger autodidaktisch eine musikalische Ausbildung zulegte, indem er sich in die Räume der University of California Berkeley schleicht und einfach mitmacht, zum begnadeten Blues-Musiker und Grammy-Preisträger. „Have You Lost Your Mind Yet?“ ist inspiriert von Black Music der späten 1960er bis 70er-Jahre und beschäftigt sich mit der mehr und mehr gebrochenen sozialen und politischen Lage Amerikas mit einem Fokus auf der Komplexität psychischer Erkrankungen. Aber vor allem ist es ein wunderbares Blues-Album mit Elementen von Rock, Funk, Soul, R&B und Hip-Hop. Als Gäste sind der Rapper E-40 und Tarriona „Tank“ Ball von Tank and the Bangas zu hören.

 

Sebastian Maschat & Erlend Øye: Quarantine At El Ganzo
Eigentlich wollten The Whitest Boy Alive einen ihrer seltenen Gigs spielen, auf einem Festival in Mexiko. Es war Mitte März, als die Bandmitglieder dort einzutrudeln versuchten und als das große Corona-Biest ihnen einen fetten Strich durch die Rechnung machte. Denn nur zwei kamen im Hotel El Ganzo an, in dessen Studio die Band ein paar Stunden für Aufnahmen gebucht hatte. Die übrigen blieben aufgrund von plötzlichen Reiseverboten buchstäblich auf der Strecke. Das Festival wurde dann auch noch gecancelt. Was machen nun zwei gestrandete Musiker in einem Hotel mit Studio? Sie ziehen unveröffentlichte Songs aus der Schublade, rekrutieren einen der Hotelbesitzer, der Gitarre spielt, sowie weitere gestrandete Session-Musiker, „erben“ die Studiotage sämtlicher Musiker, die Corona-bedingt ihre Aufnahmen absagen mussten und machen ein wunderbar leichtes, sommerliches Pop-Album.

    ● Annika Bachem

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Der Geschmacksverstärker — Monday Kitchen

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Der Geschmacksverstärker — Monday Kitchen


Seit 2013 kann man in den umgebauten Lagerhallen der Kochschule „Der Geschmacksverstärker“ unter professioneller Anleitung das Löffelschwingen lernen. In einer 110 Quadratmeter großen Küche befinden sich drei geräumige Kücheninseln, die auch für eine private Feier mit eigenem Kochevent miet- und nutzbar sind, dazu gibt es einen kleinen Innenhof, in dem gegrillt werden kann. Im Eingangsbereich bieten zwei Tafeln je bis zu 10 Sitzplätze, in einem weiteren Raum im hinteren Bereich, wo nochmal 60 Gäste platziert werden können, wird nach den Kursen mit mindestens 8 bis zu 80 Teilnehmenden im Industrieloft-Ambiente zusammen getafelt. Auch Kochkurse mit Kunden oder Mitarbeitern als Teamveranstaltung der besonderen Art sind buchbar, mit bis zu 60 Personen kann man sich außerdem klassisch von einem angestellten Koch und/oder Inhaber George Feiter im „Privatrestaurant“ bekochen lassen. Zuvor hatte der studierte Posaunist und Sieger der „Niedersächsischen Hobbykoch-Meisterschaft 2006“ bereits drei Jahre lang eine Kochschule An der Tiefenriede betrieben, kürzlich hat er zusätzlich die Weinbar am Lichtenbergplatz in Linden-Mitte übernommen.
George Feiter ist eine harmonische Verbindung von Essen und Wein besonders wichtig: Zu jedem Gericht werden Weine aus der eigenen Weinhandlung, dem Weinhaus Feiter an der Stephanusstraße, präsentiert. „Monday Kitchen“ bietet die Gelegenheit, wöchentlich variierende 4-Gänge-Menüs inklusive Weinbegleitung und Mineralwasser für 39 Euro zu genießen und passende Geschmacksverstärker aus edlen Trauben zu verschiedenen Speisen kennenzulernen.
Nachdem die Gäste „in der Küche“ Platz genommen haben und die Gläser zum ersten Mal gefüllt sind, stellt Sommelier George Feiter das erste Perlchen vor: Der Messias Brut Metodo Classico ist ein Schaumwein aus Portugal, quasi die portugiesische Antwort auf den französischen Cremant. Mit hellgrüner Farbe und geschmeidigem Charakter, aber recht aggressiver Schaumschlägerei, ist er nicht für jeden was – George findet ihn ehrlich gesprochen „ganz okay“. Zur supercremigen Burrata, einer Frischkäse-Sonderform des Mozzarella aus Kuhmilch, dem Sahne beigegeben wird, serviert der Küchenchef Olivenpesto, Hälften von länglichen Kirschtomaten, Olivenöl und eine deftige Scheibe vermeintlich ähnlicher regionaler Herkunft. Zur italienischen Vorspeise wird ein Ercavio Blanco von Más Que Vinos kredenzt, der am Tisch erste Begeisterungsstürme auslöst: Im Bouquet verzaubern Aromen weißer Blüten und grüner Äpfel, das Ganze vollendet mit einem raffinierten Hauch frischer Kräuter. Die sehr milde Weinsäure dieses 100 % igen Airén ist zudem sehr freundlich am Gaumen.
Persönlich eher begeisterte Esserin, freue ich mich mehr über die folgenden Röllchen aus Aubergine (vor allem, weil die Gemüse-Hülle erfreulich dünn und doppelt gebacken ist), die mit Ricotta gefüllt sind, in dem sich zahlreiche Kräuter tummeln. Mit Tomatenwürfel-Basilikum-Mix und frisch gerösteter Ciabatta-Scheibe eine delikate Bruschetta-Alternative, die jedes Entzücken rechtfertigt. Der dazu eingeschenkte kleine Cantine San Marzano „I Tratturi“ Primitivo Puglia ist von dunkler, rubinroter Farbe – jedoch keineswegs so schwer wie angesichts dessen befürchtet. Violette Reflexe spiegeln intensive Aromen nach Pflaumen und Kirsche, Anklänge nach Rosmarin und Vanille ergänzen die kulinarische Farbpalette von Gericht und Getränk. Auch der folgende Gang kommt gut an, feines Seelachsfilet, das mit einer Knusperkartoffelkrokette und einer witzigen Paste aus Auberginen-Innerem und Pinienkernen serviert wird. Der Clou des Tellers aber ist der Saucenspiegel, der nicht nur im temperamentvollen Kontrast zum türkisgrünen Steingut in sattem Tomaten-Paprika-Orange glänzt, sondern vor allem mit einer individuellen Stern-Anis-Note. Zum kreativen Rezept aus dem Piemont, so Feiter, darf es natürlich nichts Lasches sein, sondern ein spritziger Prosecco – ein Villa Armellina Cuvée Extra Dry aus der Regione del Veneto. Seine schöne Perlage trägt er zu fruchtiger Leichtigkeit: ein exzellent ausbalanciertes Frucht-Säure-Spiel ist Feiter da gelungen. Mit dem Zwetschgen-Crumble-Taler findet das Menü dann einen krönenden Abschluss. Die exquisit sauren Früchte aus Gelas Garten werden von buttrigen Streuseln und einer perfekt gesüßten englischen Vanillecreme umschmeichelt. Dazu passt trefflich ein charmant-lieblicher Tropfen; der goldgelbe Dessertwein Moscato d’Asti mit dem süßen Duft frischer Früchte und feinem Mousseux (auf Französisch das Schäumen des Weins). Ein rundum schöner Abend, an dem Speis und Trank mit Herz und Sachkunde zusammen- und vorgestellt sowie vor- und zubereitet wurden. Gerne so oder in ähnlicher Weise wieder!
● Anke Wittkopp

Monday Kitchen:
Jeden Montag ab 19 Uhr, Deisterstraße 17 B (neben Tandure am Flussufer), 30449 Hannover, Reservierung unter Tel. (0511) 30 07 701 oder per E-Mail an info@der-geschmacksverstaerker.de, mehr Infos unter www.der-geschmacksverstaerker.de.

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Pop-Punk: Paralies

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Pop-Punk: Paralies


Paralies, das sind vier Jungs aus Hannover, die sich 2018 übers Internet kennengelernt und dann in einem Bunker eingeschlossen haben, um eigene Songs zu performen. Jetzt sind sie auf dem Weg, mit ihrem Pop-Punk und Punk-Rock dem alltäglichen Stress den Kampf anzusagen und die Welt unsicher zu machen. Man soll sich in die Musik „fallenlassen“, den Moment genießen und einfach tanzen, Spaß haben und die Welt und alle anderen Probleme für den Augenblick vergessen. Mit diesen Worten beschreibt die Band sich selbst und ihre musikalische Mission. Die vier Musiker, die sich da im Sommer 2018 digital fanden, sind Fiete (Gesang und Gitarre), Jan (Gesang und Gitarre), Gregor (Bass und Background-Gesang) und Denis (Schlagzeug).
Fiete lernte Gitarre, weil er Billy Talent gut fand. Und er fing mit dem Singen an, weil er bei seiner ersten Band das kurze Streichholz gezogen hatte. Jan kam von der klassischen Gitarre über eine Big Band zum Punkrock und wurde von Fiete zum Singen „genötigt“. Gregor stand 2011 nach dem Schützenfest plötzlich mit Restalkohol und einem geliehenen Bass in einem schummrigen Keller und musste sich dort das Bassspielen selbst beibringen. Und Denis ist eigentlich aus der Eifel und damit der einzige Zugezogene der Band. Nach seinem ersten Tote-Hosen-Konzert fing er begeistert an, selbst Schlagzeug zu spielen.
Auf Spotify, Soundcloud, Bandcamp und YouTube finden sich erste Songs von Paralies. Beispielsweise das offizielle Video zur ersten Single aus ihrer Debüt-EP: Das etwa zweieinhalb-minütige Video zu „Suck It (I’m Happy)“ wurde im Mai veröffentlicht. Es zeichnet sich durch eine sehr eingängige und treibende Melodie aus, die mitreißt, in den Körper geht und geradezu zum Headbanging einlädt. Da zu der Zeit nichts mit Auftritten war, hatten die Jungs die Idee, ein Video passend zur Situation zu machen. Als Zeugnis der Coronazeit besteht es aus verschiedenen zusammengepuzzelten Szenen der vier Musiker in Isolation. Wir sehen sie immer einzeln, nie zusammen; beim Duschen, beim Schlagen auf Töpfe und Toilettenpapier, mit Instrumenten auf dem Balkon oder im Garten, im Bett oder zwischen weiterem Musikequipment in ihrem Bunker.
Der Songtext behandelt eine Eltern-Kind-Beziehung, in der das Kind den eigenen Lebensweg nach dem der Eltern richten muss, womit es, also das „lyrische Ich“, nicht zufrieden ist. Es möchte und kann eigene Entscheidungen treffen und den eigenen Lebensweg wählen. Ich bin ich und ich lebe mein Leben wie ich es will – Suck it, I’m happy.
Grundsätzlich schreibt Fiete die Texte, dabei nimmt er aber auch Ideen von allen anderen mit auf. Die zweite Single, „Dreamer“, dreht sich um das Thema Beziehungen und Liebe. Es geht um einen Freund, der noch nicht das Glück hatte, die passende Frau zu finden. Denis kam auf den Intro-Beat, der Rest wurde ausprobiert und der Song ist dann einfach so passiert. Die meisten der Paralies-Songs sind im „Pop-Punk“-Stil gehalten, es gibt aber auch härtere Songs (einer davon wird sich auf der EP wiederfinden, die im Entstehen ist), hauptsächlich wollen die Bandmitglieder aber einfach Musik schreiben, die ihnen selbst Bock aufs Live-Spielen macht und den Leuten Lust am Zuhören bringt.
Am 4. September durfte die Band ausprobieren, wie ein Gig unter Corona-Auflagen funktioniert – auf der Strangriede Stage konnte ein kleines Konzert stattfinden. „Definitiv geil, mal wieder auf der Bühne zu stehen. Kurt von der Strangriede hat da ein super Konzept entwickelt, um das durchzuführen. Allerdings war es auch ein wenig ungewohnt, vor sitzenden Leuten ein Rockkonzert zu spielen. Wenn du selbst auf der Bühne richtig Gas gibst, unten aber alle sitzenbleiben müssen, ist das schon ein wenig merkwürdig. Aber auf jeden Fall eine super Erfahrung, um daraus zu lernen und eine neue Verbindung zum Publikum aufzubauen,“ berichten die Jungs zum Auftritt unter Corona-Bedingungen. Einen festen Termin für den Release können sie noch nicht nennen, aber es wird wohl auf Ende Oktober hinauslaufen: Die EP „Concrete Club“ ist soweit fertig, da müssen nur noch ein paar Kleinigkeiten begradigt werden. Die freie Zeit in den letzten Monaten hat die Band jedenfalls genutzt, um neue Songs zu schreiben – und hätte jetzt theoretisch auch genug für ein Album mit 14 bis 16 Liedern zusammen. Wie und wann das Ganze aufgenommen werden kann, steht zwar ebenfalls noch nicht 100 %ig fest – aber falls alles klappt, gehen die Paralies-Jungs Anfang 2021 ins Studio. Und die Hoffnung, im kommenden Sommer zumindest wieder auf ein paar Festivals spielen zu können, bleibt.
 ● Luka*s Friedland

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Ein letztes Wort im Oktober

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Ein letztes Wort im Oktober


Herr Weil, lassen Sie uns mal kurz über die Geschehnisse am Reichstag sprechen im vergangenen Monat. Das ist jetzt schon wieder eine ganze Weile her, die Aufregung hat sich inzwischen gelegt – trotzdem, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen als Sie diese Bilder gesehen haben?
Das war eine gezielte Provokation. Wenn Rechtsextreme in solche geschützten Bereiche vordringen, begehen sie einen nicht hinnehmbaren Tabubruch. Erst recht, wenn dabei auch noch Reichsflaggen geschwenkt werden. Wenn man sich nur ein bisschen mit der deutschen Geschichte beschäftigt hat, dann weiß man, dass so eine Aktion gerade bei diesem Gebäude eine doppelte Provokation darstellt: Schwarz-Weiß-Rot steht für Obrigkeitsstaat und Diktatur, Schwarz-Rot-Gold steht für Freiheit und Demokratie. Das hätte alles so nicht passieren dürfen.

Hätte man es denn verhindern können?
Das weiß ich nicht. Und ich möchte auch nicht in der Haut des Einsatzleiters bei der Polizei an einem solchen Tag stecken. Davor habe ich wirklich maximalen Respekt – zehntausende Menschen, von denen viele fest entschlossen sind, die Anti-Corona-Regeln zu verletzen, während es die Aufgabe der Polizei ist, diese Regeln durchzusetzen. Aber wir haben gesehen, dass an einem solchen Tag besonders relevante Gebäude auch besonders geschützt werden müssen. Ich denke, dass aus den Vorkommnissen alle, auch wir in den Ländern, die entsprechenden Schlussfolgerungen gezogen haben.

Wie fanden Sie denn die mediale Aufmerksamkeit? War das nicht alles ein bisschen zu viel?
Das ist natürlich immer ein Spagat. Auf der einen Seite will man niemanden aufwerten und auf der anderen Seite war das ein durchaus relevanter und besorgniserregender Vorgang, der diskutiert werden muss in unserer Gesellschaft. Aus meiner Sicht hat dieser Tabubruch aber vielleicht ein bisschen zu viel Aufmerksamkeit bekommen.

Das sind ja inzwischen immer sehr bunte Versammlungen von unterschiedlichsten Gruppierungen bei solchen Demonstrationen. Haben Sie eine kluge Erklärung, warum da plötzlich Esoteriker neben Reichsbürgern demonstrieren?
Da kommen Gruppen zusammen, deren Motivationen sehr verschieden sind. Darum sollte man auch nicht alle unbedingt über einen Kamm scheren. Es sind viele Menschen dabei, die haben tatsächlich die Sorge, dass die Freiheitseinschränkungen aus Anlass von Corona übertrieben sein könnten. Diese Befürchtungen muss ich auch in meinem Amt ernst nehmen und geduldig versuchen, sie durch Argumente und Fakten zu zerstreuen. Dann gibt es eine zweite Gruppe, die hat – das muss ich leider so sagen – ein gestörtes Verhältnis zur Realität. Wenn jemand versucht, die Problematik um das Virus mit Bill Gates in Verbindung zu bringen oder unterstellt, dass Angela Merkel an der Spitze einer Diktatur stehe, dann ist das einfach ganz offenkundig falsch und Unsinn. Und dann gibt es eine dritte Gruppe, die sich an diese Proteste dranhängt und die Demonstrationen für ihre Zwecke instrumentalisieren will, das sind insbesondere die Rechtsextremen und die AfD. Dieses Phänomen gibt es seit Jahren, immer wieder wird versucht, Ängste zu schüren und für sich auszunutzen.

Kommen wir mal zu den anderen Demonstrierenden, die tatsächlich handfeste Gründe haben, auf die Straße zu gehen, zum Beispiel die Kulturbranche.
Das ist für mich etwas völlig anderes, diese Menschen haben wirklich sehr gute Gründe für ihren Protest. Und ich kenne niemanden aus dieser Gruppe, der grundsätzlich das gesundheitliche Risiko durch Corona in Frage stellt. Man kann gar nicht bestreiten, dass die Kulturwirtschaft besonders hart getroffen ist. Und es ist aus meiner Sicht wichtig und richtig, dass sie auf ihre Probleme aufmerksam machen. Eine Selbstverständlichkeit. Punkt. Diese Menschen verkünden ja auch nicht den Untergang der Demokratie und behaupten, dass das alles nur ein riesengroßes Täuschungsmanöver sei. Vielen geht es schlecht und es ist dann völlig in Ordnung, wenn die Kulturbranche auf die Straße geht. Auch wenn sie sich dabei zum Teil gegen meine eigene Politik wenden sollten.

In der Kulturbranche haben momentan natürlich viele schlimmste Befürchtungen. Zum Beispiel, dass nun im Bereich Kultur bei den Budgets zuerst gestrichen wird.
Das ist so ein Klischee, das sich hartnäckig hält. Aber dass in diesen Bereichen zuerst gestrichen wird, insbesondere in Krisen, das stimmt einfach nicht. Ich habe jetzt seit 23 Jahren mit öffentlichen Haushalten zu tun und es hat nie irgendwelche Sonderopfer bei der Kultur gegeben. Allerdings ist dieser Trugschluss gar nicht begrenzt auf die Kultur. Es gibt auch andere Gruppen, die den Eindruck haben, dass immer besonders bei ihnen der Rotstift angesetzt wird. Aber wenn die Kultur sagt, eigentlich bräuchten wir mehr Unterstützung, habe ich dafür alles Verständnis der Welt. Wir müssen nur aktuell ganz unterschiedliche gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigen und haben dafür leider nur eine sehr begrenzte Menge an Mitteln. Trotzdem akzeptiere ich ausdrücklich, wenn die Künstler und Kreativen den Eindruck haben, dass sie besonders hart getroffen sind durch die Krise. Das stimmt schlichtweg. Kunst und Kultur sind nun einmal in der Regel darauf ausgerichtet, möglichst viele Menschen zu erreichen, aber Ansammlungen von vielen Menschen bedeuten in diesen Zeiten eben auch besonders viel Risiko.
Manche sagen ja, Kultur sei eher so ein Luxus, da wären ohnehin größtenteils Lebenskünstler unterwegs, die ihr Hobby zum Beruf gemacht hätten, nice to have, das könne man jetzt aber ruhig mal alles für eine Weile zurückfahren, weil es Wichtigeres gäbe. Man müsse jetzt zum Beispiel erstmal die Arbeitsplätze in der Zulieferer-Industrie retten. Was halten Sie von dieser Argumentation?
Gar nichts. Weil Künstler, weil alle Kulturschaffenden erstens in der Regel hart arbeitende Menschen sind, die oft unter schwierigen und rechtlich kaum geschützten Bedingungen für ihre Existenz sorgen müssen. Und weil ich zweitens dagegen bin, verschiedene Gruppen, die alle ihre eigene Bedeutung haben, gegeneinander auszuspielen.

Wie würden Sie denn den Stellenwert von Kultur in unserer Gesellschaft beschreiben?
Kultur ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Lebensmittel. Kultur will zu einer Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Aspekten unseres Lebens anregen, und das ist in einer lebendigen Demokratie natürlich essenziell. Ich möchte mir keine kulturlose Gesellschaft vorstellen. Auf der anderen Seite funktioniert Kultur in der Gesellschaft nicht nach mathematischen Gleichungen. Also, ich fördere Projekt X und bekomme für die Gesellschaft ein kulturelles Plus in Höhe von Y. Wir haben es in diesem Bereich immer mit sehr differenzierten Prozessen zu tun und das auch noch in einer Zeit, die von gravierenden technischen Veränderungen gekennzeichnet ist, die wiederum Einfluss auf die Kultur nehmen.

Wenn Sie könnten, würden Sie deutlich mehr Geld in die Kultur stecken, mehr fördern?
(Lacht) Wenn ich könnte, sehr, sehr gerne. Wenn ich könnte, würde ich auch noch manche andere Bereiche stärker fördern. Aber die Mittel des Landes sind leider begrenzt, gerade in Krisenzeiten.

In der Kultur haben ja bisher sehr viele Menschen relativ klaglos oft sogar unterhalb des Existenzminimums gearbeitet, momentan ist bei vielen aber die Existenz ganz handfest und akut bedroht, alles, was nicht öffentlich subventioniert ist, hat in diesen Zeiten heftigste Nöte.
Das stimmt, und alle Sorgen sind vollkommen berechtigt. Diese Sorgen gibt es aber aktuell nicht allein im Bereich der Kultur, sondern in vielen anderen Bereichen in ähnlicher Weise. Wir müssen versuchen, all diese Bereiche gleichermaßen im Blick zu haben. Es wird eine wesentliche politische Aufgabe in den kommenden Jahren sein, die Folgeschäden von Corona möglichst überall einzudämmen. In den nächsten Monaten wollen wir vor allem versuchen, das Kulturleben wieder anzukurbeln, denn das hilft Künstlern und Kreativen am meisten: Dass sie wieder arbeiten können.
● Interview: Lars Kompa

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