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Titel April: Große Bühne für kleine Geister

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Titel April: Große Bühne für kleine Geister


Über unsere Debattenkultur

Es ist schwieriger geworden, oder? Eine Debatte sollte eigentlich ein fairer, kultivierter Austausch sein, eine Diskussion auf Basis von Fakten, die eventuell unterschiedlich interpretiert und eingeordnet werden. Man hört sich zu, man lässt sich ausreden, man wägt die Argumente und das Ergebnis ist dann bestenfalls ein Kompromiss, mit dem beide Seiten leben können. Bei uns laufen die Debatten inzwischen allerdings häufig ganz anders ab. Und es hapert nicht allein an der Gesprächskultur, oft fehlt einfach die gemeinsame Basis. Wenn auf der einen Seite jemand glaubt, die Erde sei eine Scheibe, dann wird die Debatte mit jemandem, der weiß, dass die Erde ein Rotationsellipsoid ist, nicht sehr fruchtbar sein. Und sehr wahrscheinlich wird die Debatte auch nicht besonders lange dauern. Man wird sich gegenseitig die eigenen, die oft nur gefühlten Fakten entgegenschreien, sich im Anschluss noch ein bisschen beleidigen, manchmal wird es auch körperlich, und dann geht man jeweils eigene Wege und versucht, sich nie wieder zu begegnen. Man cancelt den Andersdenkenden oder besser den Andersglaubenden. Und zieht sich zurück in die eigene Blase, die eigene Komfortzone, in der ähnlich gedacht und argumentiert wird. Meist sind das verschiedene Räume im Internet, diverse Plattformen, auf denen man ganz wunderbar unter sich bleiben kann. Im Zweifel finden hier sehr kleine Geister eine sehr große Bühne …

Das eigentlich Neue ist die Verfügbarkeit dieser Bühne – im Internet kann jeder zum Lautsprecher werden. Bis in die 1990er-Jahre hinein war das noch anders, die Debatten fanden im Fernsehen und in den Zeitungen statt. Und klar, sie wurden auch mal hart geführt. Franz Josef Strauß war zum Beispiel absolut kein Kind von Traurigkeit. „Der wird nie Kanzler werden. Der ist total unfähig; ihm fehlen alle charakterlichen, geistigen und politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles.“ Das hat er seinerzeit über Helmut Kohl gesagt. „Es gibt Irrtümer, Fälschungen und Strauß-Reden“, wusste wiederum Helmut Schmidt über Franz Josef Strauß. Man hat sich damals nichts geschenkt. Auch nicht in den Talkshows vor laufenden Kameras. Und falls es doch mal drohte, zu langweilig oder bieder zu werden, hat man sich einfach Klaus Kinski in die Show geholt …

Heute versammeln sich tagtäglich Tausende Kinskis im Internet. Und was vor wenigen Jahrzehnten der „journalistischen Prüfung“ ins Netz gegangen wäre, was nicht durchgedrungen wäre, weil es erfunden, gelogen, gefälscht, rassistisch, sexistisch war, gelangt heute neben den fundierten Informationen fast gleichberechtigt in die Köpfe. Wenn es um unsere Debattenkultur geht, muss sich der Fokus zuerst vor allem auf unsere Informationsbasis richten. Woher beziehen wir unsere Informationen, was sind die Quellen? Wie werden die Informationen heute für uns aufbereitet?

Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück in die „gute alte Zeit“ ohne Internet. Gab es damals auch schon Lügen, Manipulationen? Selbstverständlich. Aber die ganze Angelegenheit war dennoch sehr viel übersichtlicher. Es gab eine andere Verabredung, es gab mehr Vertrauen in den „guten“, den seriösen Journalismus. Die „Lügenpresse“, das war damals noch die BILD. Und die anderen, die aufrichtigen und investigativen Jounalist*innen, deckten die Skandale auf. Sie recherchierten umfassend, sie nahmen sich Zeit, sie checkten ihre Quellen ganz genau – und machten zum Beispiel die Watergate-Affäre öffentlich. Es gibt eine Vielzahl von Beispielen, wie seriöser Journalismus arbeitet und welche Ergebnisse dabei herauskommen. Wir wissen heute zum Beispiel gesichert Bescheid über zahlreiche Kriegsverbrechen der USA, wir wissen durch geleakte und durch Journalist*innen verifizierte Informationen, was beispielsweise im Irakkrieg geschehen ist und mit welchen Lügen man diesen Krieg gerechtfertigt hat. Wir wissen, dass Tabakkonzerne Studien zu Krebsrisiken manipuliert oder Informationen zurückgehalten haben, wir wissen um die Zustände in der Fleischindustrie bei uns in Deutschland, wir kennen insgesamt die Tricks und Kniffe der Lebensmittelindustrie sehr genau, wir wissen, dass die großen Energiekonzerne massiv versucht haben, die Fakten um den Klimawandel zu verwässern und zu vertuschen, wir wissen, wie Cum-Ex-Geschäfte funktionieren und wir wissen inzwischen auch, dass Vergesslichkeit ein probater Selbstschutz sein kann. Das alles wissen wir, weil gut ausgebildete Journalist*innen ihren Job gemacht haben und ihn permanent machen. Und nun mal kurz die Gegenprobe: Welche Erkenntnisse verdanken wir Karl-Heinz, 56, der sich im Netz „Thetruth“ nennt und zu den „wahren“ Hintergründen zu 9/11 „recherchiert“ hat?

Karl-Heinz, alias Thetruth wird natürlich alle, die seinen Erkenntnissen nichts abgewinnen können, der Lüge und Verschwörung bezichtigen. Und damit ist die Chance zum Diskurs, zur Debatte auch schon dahin. Denn der Vorwurf der Lüge wirkt toxisch. Wenn unterstellt wird, dass man die Unwahrheit sagt, dann ist man grundsätzlich nicht mehr vertrauenswürdig. Eine Kommunikation, die versucht, Fragen oder Probleme rational und verständigungsorientiert zu klären, ist damit so gut wie ausgeschlossen. Karl-Heinz bleibt mit seinen Fans in seiner Echokammer

Aber die gute Nachricht ist: Es gibt ihn noch, den seriösen Journalismus. Es gibt noch immer zahlreiche Quellen, auf die man sich sehr gut verlassen kann. Das Problem: Neben den journalistisch geprüften Informationen findet man in den diversen Onlinequellen viele andere Informationsangebote ohne angemessene Prüfung. Dazu werden die seriösen Formate aktiv angegangen, man versucht, mit „alternativen Fakten“ Zweifel zu streuen, kritische und inzivile Kommentare verstärken die Verunsicherung. Vertrauen muss sich Journalismus sehr hart erarbeiten. Zweifel ist dagegen schnell gesät. Wir wissen inzwischen (ebenfalls durch guten Journalismus aufgedeckt), wie im Internet Meinung manipuliert wird, wie Troll-Fabriken arbeiten, wie Bots funktionieren, wie Fakten gefälscht werden. Russland ist bei diesem Spiel übrigens ganz weit vorne dabei.

Was die Basis für unsere Debatten ebenfalls schwächt, das ist eine fortschreitende Verflachung in Teilen des Journalismus. Wir sehen eine zunehmende Infantilisierung. Nachrichten werden zur Show gemacht, Meinung nicht mehr klar als Meinung gekennzeichnet. Da berichten dann „Journalisten“ über das politische Berlin, als würden sie Bayern gegen Dortmund kommentieren. Der BILD-Stil hat sich in vielen Formaten breitgemacht, immer ein bisschen drüber, gerne ein bisschen verkürzter. Feindbilder werden gepflegt, die Grünen werden beispielsweise immer die Verbotspartei bleiben und in der Partei Die Linke verehren fast alle insgeheim Erich Honecker. Der Grundton darf ruhig ein bisschen aggressiv sein, gerne provokant. Man darf auch ruhig mal ein bisschen mit Ressentiments spielen, ein bisschen zündeln.

Aber kann man „den Medien“ eigentlich verdenken, dass sie um Aufmerksamkeit buhlen, um so auch wirtschaftlich erfolgreich zu sein? Die Zeiten für den guten, den fundierten und professionellen Journalismus sind alles andere als gut. Viele haben den alten Vertrag aufgekündigt, nämlich Geld dafür zu bezahlen, möglichst gesicherte Informationen zu bekommen. Der Qualitätsjournalismus hat es schwer, denn er fordert Zeit und Geld, er ist teuer. Viele Menschen sind aber nicht mehr bereit, für ihre Informationen Geld zu bezahlen. Man puzzelt sich das „Wissen“ lieber umsonst im Internet zusammen. Man recherchiert selbst, und hält das, was dabei herauskommt, im Zweifel dann tatsächlich für gesicherte Wahrheit.

Und dann gibt es da nicht zuletzt noch die Will-Maischberger-Lanz-Illner-Formate im Fernsehen. Solche Sendungen können im Zweifel durchaus ganz erhellend sein. Das hängt aber sehr davon ab, wer jeweils in den Runden sitzt. Leider spielen die rhetorischen Fähigkeiten und auch ganz simpel Äußerlichkeiten eine große Rolle. Wer sich gut verkaufen kann, der punktet. Wer viel weiß, viel zu sagen hätte, aber sich gegen die Lautsprecher nicht durchsetzen kann, der geht in solchen Debatten dagegen gerne unter. Es gibt einfach Talkshow-Talente, die alle Anwesenden förmlich totlabern. Sahra Wagenknecht und Markus Söder sind nur zwei Beispiele. Und noch ein Problem haben diese Shows. Man versucht, eine gewisse Ausgewogenheit in diesen Runden herzustellen. Was bedeutet, dass man letztlich auch extreme Randpositionen einlädt, die dann gleichberechtigt zu Wort kommen. Heraus kommt dann fast immer eine False Balance, da darf dann jemand lautstark den Klimawandel leugnen, weil es diese Meinung ja schließlich auch gibt. Dass in der Wissenschaft aber Konsens herrscht über den menschengemachten Klimawandel, gerät so ins Hintertreffen. Wollte man eine wahre Balance herstellen, dürfte man die Leugner des Klimawandels in den Talkshows viele hundert Jahre gar nicht mehr zu Wort kommen lassen. Und was die Angelegenheit nun noch komplizierter macht, ist die Tatsache, dass viele Politiker*innen und andere Debattenteilnehmer*innen durchaus ihre Hausaufgaben gemacht haben. Wie platziere ich meinen Punkt? Indem ich immer wieder das gleiche behaupte, die permanente Wiederholung bringt zählbare Erfolge. Wobei tatsächlich völlig egal zu sein scheint, welchen Wahrheitsgehalt die Botschaften haben. Eine Lüge, die oft genug erzählt wird, mutiert in vielen Köpfen irgendwann zur Wahrheit. Und dazu werden Nichtigkeiten wichtig. Deutschland hat gerade erst heftig über e-Fuels diskutiert, die für die Zukunft der Mobilität völlig bedeutungslos sind. Schöner Nebeneffekt für Wissing und Lindner: Sie sind beliebter geworden in den Umfragen und viele finden die FDP jetzt technologieoffen. Total gut gelaufen, das Schauspiel.

Wenn nach solchen, im Grunde leeren Debatten genau das der Effekt ist, wenn die Präsenz in den Medien allein schon die Beliebtheit steigert, egal was für einen Schwachsinn man verzapft und wie sehr man der europäischen Idee schadet, kann man es den Politiker*innen dann verdenken, auf diese Karte zu setzen? Bei den Medien geht es um Auflage, um Aufrufe, um Einschaltquoten, bei Politiker*innen um Wähler*innenstimmen. Das ist die Währung. Und wir müssen tatsächlich sehr aufpassen, dass wir nicht auf die falschen Konten einzahlen.

Es ist durchaus ein Kraut gewachsen gegen Desinformation und Manipulation und ebenfalls gegen die Politiker*innen, die gerne populistisch blenden. Man muss sich „nur“ eine tatsächlich fundierte Basis erarbeiten. Das ist zugegeben eine Herausforderung. Die aber jeder annehmen sollte, der in unserer Demokratie mitdiskutieren möchte. Man sollte sich ergebnisoffen den verschiedenen Themen widmen, man sollte für seine Meinung beispielsweise mal versuchsweise nach Gegenargumenten suchen, das ist ein schönes Mittel zur Horizonterweiterung. Wenn ich mich bei meiner Meinungsbildung zum Krieg in der Ukraine nur auf RT und einen „Juri“ verlasse, der als „Insider“ auf Telegram über die Spezial-Operation schreibt, dann habe ich vielleicht ein klitzekleines Informationsdefizit.

Leider hat die Flut von Information, die alltägliche Kakophonie der Themen, weniger den Effekt, dass sich mehr Menschen interessieren und sich einer echten und fundierten Meinungsbildung widmen. Es passiert eher das Gegenteil, viele wenden sich lieber ab, blenden die Nachrichten, zumal die schlechten Nachrichten einfach aus, und kümmern sich lediglich noch um ihre ganz persönlichen Angelegenheiten. Wobei sie natürlich sehr eng auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Was ist anstrengend für mich, was würde Verzicht bedeuten, was würde mir finanziell Probleme machen? Man zieht sich zurück aus den großen Debatten, ein Braindrain, der unsere Debattenkultur schwächt.

Ist das so schlimm? Ist das gefährlich? Ja. Denn wir brauchen ganz dringend viele engagierte, aufmerksame, aufgeklärte und medienkompetente Menschen, die mit ihren Debatten letztlich unsere Demokratie stärken und schützen. Und das wird immer wichtiger, denn die Konkurrenz schläft nicht. Die sozialen Medien sind mit solchen kompetenten Menschen ein Segen, sie werden nur dann zum Fluch, wenn Meinungen unreflektiert konsumiert und nachgeplappert werden. Man kann sehr sicher davon ausgehen, dass der Erfolg des Rechtspopulismus in anderen europäischen Demokratien und auch hierzulande ohne die sozialen Medien nicht möglich gewesen wäre. Das ist eine Erkenntnis, die unbedingt beunruhigen sollte. Zumal es ja durchaus Mächte gibt, denen die Demokratien dieser Welt ein Dorn im Auge sind. Die bereits dabei sind, gezielt zu manipulieren und zu desinformieren, um so Einfluss zu nehmen und die extremen Ränder zu stärken. Wir dürfen uns sehr sicher sein, dass auch alle Möglichkeiten, die KI bietet, künftig für diese Zwecke missbraucht werden. Wehren können wir uns dagegen nur, wenn wir unsere Debattenkultur schützen und bewahren. Und das heißt abwägen, das heißt nachdenken, das heißt offen bleiben und wissen wollen. Nicht mehr, aber bitte auch nicht weniger.

Lars Kompa

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