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Titeltext im Februar: Bruchlinien

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Titeltext im Februar: Bruchlinien


Was uns (noch) eint und was uns spaltet

Es ist wohl beides, es ist einerseits ein Gefühl und andererseits durch Umfragen recht gut belegt, in Deutschland scheiden sich zunehmend die Geister, so zum Beispiel bei der Frage zu Waffenlieferungen in die Ukraine. Mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland sehen das inzwischen skeptisch. Es gibt darüber hinaus zahlreiche weitere Themen, die kontrovers diskutiert werden. Man streitet zum Beispiel über Zuwanderung. Man streitet über Energiekosten. Man streitet über ein Bürgergeld. Und es gibt dabei diesen sehr klaren Trend, auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein, unseren Wohlstand an die erste Stelle zu stellen und andere Themen der Besitzstandswahrung unterzuordnen.
Mir ist das alles nicht sympathisch und nicht geheuer.
Und ich habe die Befürchtung, sehr viel, was da gerade von der Ampel an Kompromissen beschlossen wird, unter Dauerfeuer der CDU/CSU und unter dem Eindruck von irgendwelchen Umfragen, ist langfristig auch gar nicht so klug.
Ich finde, wir führen in Deutschland momentan sehr viele falsche Diskussionen und schließen entsprechend falsche Kompromisse. Und die Diskussionen werden so laut geführt, dass die tatsächlich wichtigen Fragen zunehmend in den Hintergrund geraten.

Die Fragen, die ich meine, die ich wirklich wichtig finde, sind ein bisschen größer.
Mir geht es auch um den Blick über den Tellerrand.
Ich frage mich, wie es der Welt insgesamt besser gehen könnte, wie man es möglich machen könnte, dass es für alle Menschen nachhaltig aufwärts geht.
Wie stoppen wir den Klimawandel und das Artensterben, wie beenden wir den weltweiten Hunger, wie sorgen wir weltweit für mehr Gerechtigkeit?
Klar, ich kenne den Einwand. Diese Fragen seien zu groß, darüber nachzudenken sei pure Zeitverschwendung, weil zu viele Faktoren eine Rolle spielen und zu viele Spieler ein ganz anderes Spiel spielen würden. Ja, das ist so.
Und trotzdem denke ich, dass eine moderne Politik diese großen Fragen in alle Überlegungen mit einbeziehen muss, denn wenn die Krisen der jüngeren Vergangenheit eines ganz klar gezeigt haben, dann, dass wir nicht auf einer Insel leben. Außerdem wäre ein Ausklammern dieser Fragen auch eine Art Kapitulation.
Und ich möchte nicht kapitulieren.

Ich selbst beantworte viele Fragen sehr klar. Ich bin zum Beispiel ganz ausdrücklich für Waffenlieferungen in die Ukraine, ich bin für das Maximum und für eine größtmögliche Schnelligkeit. Ich würde mir wirklich wünschen, dass Deutschland den Rücken durchdrückt und voran geht. Es gibt da für mich keine Fragezeichen. Die Ukraine wurde und wird angegriffen, sie erfährt unendliches Leid, sie muss sich verteidigen dürfen und sie muss dabei ohne Wenn und Aber unterstützt werden. Jedes Zögern und Zaudern, jede Zurückhaltung erscheint mir moralisch fragwürdig und ärgert mich. Zurückhaltung tötet. Es ist so einfach. Und jede Zurückhaltung spielt darüber hinaus Putin und allen anderen Diktatoren und Autokraten dieser Welt langfristig in die Karten. Unsere Schwäche, unsere Zögerlichkeit ist deren Stärke. Aus meiner Sicht gibt es da gar nicht viel zu diskutieren. Ich stelle mir einfach vor, was ich mir wünschen würde, wenn jemand meine Kinder bedroht. Wenn eine „Gruppe Wagner“ vor den Toren Hannovers stehen würde.

Es gibt viele weitere Punkte, die mich umtreiben und bei denen ich ebenfalls eindeutig Stellung beziehe. Ich glaube zum Beispiel, dass wir den Kapitalismus nicht abschaffen, aber stark einhegen müssen, mit einer Begrenzung des möglichen Reichtums, mit ganz anderen Regeln beispielsweise beim Handel mit Nahrungsmitteln (hier darf einfach nicht spekuliert werden), mit einer weitaus stärkeren Kontrolle und Besteuerung von Großunternehmen, usw.
Ich weiß, dass wir auch beim Klima noch wesentlich mehr tun müssen, angefangen damit, dass die lähmende Bürokratie eingefangen wird und dass die dezentrale und private Energiegewinnung bei uns an die erste Stelle rückt. Die großen Energieriesen haben in den vergangenen Jahren unfassbar auf der Bremse gestanden, aus meiner Sicht spricht jetzt alles dafür, den dezentralen Ansatz vor die Klammer zu ziehen.
Und nicht zuletzt treiben mich auch viele soziale Fragen um. Wie gehen wir mit der Schere zwischen Arm und Reich um? Können, dürfen wir das so laufenlassen? Die Abstände werden immer größer. Die Ungerechtigkeit in der Welt und auch in Deutschland wächst. Das alles läuft nicht in die richtige, es läuft in die komplett falsche Richtung. Meine Wunschliste an die Politik ist lang. Und sie wird mit jedem Tag länger.

Und ja, mir ist klar, dass man das alles naiv und blauäugig finden kann. Weil sich eh nichts ändern wird.
Aber ehrlich gesagt: darauf pfeife ich.
Ich kenne all die „Schwächen“ meiner Wunschliste, all die Einwände und Gegenargumente, ich höre das alles und hoffe trotzdem darauf, dass der große Groschen noch irgendwann fällt.
Und manchmal ärgere ich mich. Über Engstirnigkeit, über Lagerdenken, über galoppierenden Egoismus.

Es gibt insbesondere zwei „Argumente“, die ich ziemlich unerträglich finde. Erstens: Wenn du allein etwas änderst, änderst du gar nichts. Und zweitens: Wenn du verzichten musst, überlegst du dir das ganz schnell anders. Großer Blödsinn. Natürlich ändere ich etwas, wenn ich ganz allein handele. Zwar sehr begrenzt, aber ich ändere etwas. Und ich verzichte sehr gerne. Kein Problem. Ich kann mich einschränken und ich schränke mich bereits ein. Wie so viele andere auch. Die beiden Argumente sind keine, es sind lediglich Ausreden, Rechtfertigungen, nichts zu tun. Solche Rechtfertigungen höre ich in letzter Zeit ständig, in diversen Gewändern.

Meistens wird gesagt, dass es angesichts der momentanen Lage nun natürlich in erster Linie darum gehen muss, sich um das Wohl im eigenen Umfeld zu kümmern. Für die ganze Welt würden gerade die Kapazitäten fehlen. Wir können doch jetzt nicht, so heißt es, wegen dieses Krieges unseren gesamten Wohlstand aufs Spiel setzen. Darum sollte die Ukraine jetzt allmählich mal ihre Maximalforderungen zurückstellen und Putin gesichtswahrend ein bisschen Land überlassen, damit endlich wieder Ruhe einkehrt. Ernsthaft? Kann das Falsche jemals richtig sein? Wenn das der Weg Deutschlands ist, wenn das Zögern und Zaudern dazu beitragen soll, die Ukraine zu einem Kompromissfrieden zu zwingen, dann schäme ich mich. Das wäre verdammt hässlich. Wir würden die Ukraine für unseren Wohlstand opfern. Aber der Trend weist leider in diese Richtung. Vielen wird die Ukraine mit steigenden Lebenshaltungskosten zunehmend egaler.
Unsere Gesellschaft wandelt sich.

Sie hat sich aber bereits vor dem Krieg in der Ukraine gedreht. Die Ellenbogen werden bereits seit vielen Jahren immer spitzer, die Empathie hat abgenommen. Man ist besorgt und bemüht um einen kleinen, engen Kreis, um die eigene Familie, vielleicht noch ein paar Freunde, aber dann hört es meistens auch schon auf. Was gehen mich die anderen an?
Es gibt Menschen, die fahren nachts auf der Autobahn ganz selbstverständlich mit Fernlicht, weil sie dann besser sehen können. Dass der Gegenverkehr damit ein Problem hat, kommt ihnen gar nicht in den Sinn. So ähnlich funktioniert (gefühlt) immer mehr unsere Gesellschaft. Man ist sich selbst der Nächste, man muss keine Rücksicht nehmen, man muss sich durchsetzen, der Stärkere sein.
Unser Leben ist selbst im privaten Bereich zum Wettbewerb mutiert. Wir konkurrieren im Netz um den coolsten Auftritt. Bloß keine Schwäche zeigen. Bloß nicht weich sein. Wir haben diesen Wettbewerbsgedanken in unsere Gesellschaft überall implementiert. Und inzwischen konkurrieren wir uns zu Tode.

Was ist das eigentlich für eine Gesellschaft, in der viele Menschen armen Menschen keine direkten Hilfen gönnen, in der manche die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen skeptisch sehen?
Was ist das für eine Gesellschaft, in der ständig über den Klimawandel gesprochen wird, währen immer mehr Leute SUV fahren?
Was ist das für eine Gesellschaft, in der Menschen Toilettenpapier horten? Was sind das für Menschen?
Bei uns werden Geschäftsleute bewundert, die Steuern sparen, die sich geschickt davor drücken, zum Gemeinwohl beizutragen. Solche Menschen sind die Helden ganzer Generationen.
Klar, viele gehen freitags auf die Straße, aber die Mehrheit eben nicht. Eine Mehrheit der Deutschen ist weit davon entfernt, darüber nachzudenken, wie es eigentlich den anderen so geht. Wenn jemand auf der Straße stürzt, gehen viele einfach vorbei.

Ich glaube, dass Gesellschaften nicht ihre Demokratien beerdigen, weil sie zu unpolitisch oder in der Mitte zu träge sind, ich glaube, dass kalte Gesellschaften kippen, Gesellschaften, denen das Menschliche abhandengekommen ist. Und die darum empfänglich werden für unmenschliche Lösungen.
Als Mensch muss ich mir doch eigentlich bei allen Entscheidungen und Handlungen immer eine ganz zentrale Frage stellen: Schade ich jemandem? In unserer Gesellschaft stellen sich viele aber eine völlig andere Frage: Nützt es mir? Und diese Frage steht längst auch im politischen Betrieb an erster Stelle. Nützt es meiner Klientel. Dient es meiner Karriere? Und alles andere tritt in den Hintergrund, auch die Wahrheit. Darum bin ich zum Beispiel momentan gar nicht gut auf Friedrich Merz zu sprechen. Aus meiner Sicht hätte er als Politiker längst abtreten müssen. Er ist eindeutig nicht integer genug für irgendwelche Führungsaufgaben.

Und nun höre ich den Einwand, der gerne von Politiker*innen kommt, wenn man, wie ich, ein bisschen den Teufel an die Wand malt.
Was ist mit all den Ehrenamtlichen, was ist mit den vielen Menschen, die Flüchtlinge aufgenommen haben, was ist mit den Menschen, die jeden Tag in der Pflege schuften, die in den Krankenhäusern Doppelschichten schieben? Da sind sie doch, die guten, die empathischen Menschen. So schlecht kann es also um unsere Gesellschaft gar nicht bestellt sein.
Klar, so kann man natürlich argumentieren, aber nur so lange, bis irgendwann ernsthaft etwas kippt. Ich habe ja nichts dagegen, all jene zu loben, die sich gesellschaftlich engagieren, die sich einsetzen für eine funktionierende Gesellschaft.
Aber wenn man dabei vergisst, auch die wachsenden Schatten unter die Lupe zu nehmen, gibt es irgendwann ganz sicher ein böses Erwachsen

Dass es kippen kann, haben wir nun bereits in mehreren europäischen Ländern gesehen, wie sehr es kippen kann, dafür sind auch die USA leider ein gutes Beispiel. Wir müssen offensichtlich sehr achtsam sein. Noch einen uns mehrheitlich (das zumindest hoffe ich) unsere Werte, noch geben wir etwas auf die Menschenrechte, noch empören wir uns zwischendurch an den richtigen Stellen. Aber der Egoismus spaltet uns zunehmend.
Und er wird weiter befeuert durch ein Wirtschaftssystem, das Egoismus belohnt und Gemeinsinn eher abstraft.
Aus meiner Sicht müssen wir uns ganz schnell besinnen. Wo soll es denn eigentlich hingehen?
Mit Christian Lindners Porsche vor die Wand?
Oder fällt uns da vielleicht doch noch was Besseres ein?

Lars Kompa

 

 

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