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Ein letztes Wort im November

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Ein letztes Wort im November


Ein letztes Wort

mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Herr Weil, Glückwunsch zur Wahl. Sind sie zufrieden?

Vielen Dank. Und ja, ich bin natürlich zufrieden. Sehr!

Aber mit so paar Wermutstropfen, oder?

Ja, während des Wahlkampfs habe ich viele Menschen mit großen Sorgen getroffen, das hat mich schon sehr berührt und lässt mich nicht kalt. Und wir haben leider recht starke Zuwächse der AfD. Verglichen mit den Ergebnissen der AfD im Osten relativiert sich die Zahl natürlich, aber besorgniserregend bleibt sie trotzdem. Wir leben insgesamt in sehr schwierigen Zeiten, 

Ich finde auch die Wahlbeteiligung besorgniserregend. 40 Prozent haben gar nicht gewählt.

Wobei es in Niedersachsen schon schlechtere Werte gab. Aber das ist trotzdem nicht gut, da haben Sie absolut Recht. Viele Leute sind stark verunsichert, es fehlt ihnen das Vertrauen, dass die Politik positive Veränderungen herbeiführen kann. Ich verstehe diese geringe Wahlbeteiligung darum vor allem auch als Auftrag, Klarheit zu schaffen und Vertrauen zurückzugewinnen.

Nach der Wahl ist nun so gar keine Zeit für eine Verschnaufpause, die Probleme werden nicht kleiner. Wir sehen jetzt zum Beispiel wieder stark steigende Flüchtlingszahlen aus der Ukraine. Was mich überrascht ist, dass die Politik darüber überrascht zu sein scheint. Aber dass wir im Winter sehr viele Flüchtlinge bekommen würden, für diese Prognose hätte man nicht unbedingt Prophet sein müssen. Warum hat man sich nicht schon länger darauf vorbereitet?

Wir haben in Niedersachsen momentan etwa 130.000 Geflüchtete, davon rund 100.000 aus der Ukraine, der Rest stammt aus anderen Ländern. Das bekommen wir bis jetzt vielleicht noch hin. Ich befürchte aber, dass wir bald auch wieder diese teilweise improvisierten Sammelzentren errichten müssen, die wir aus 2015/16 in Erinnerung haben. Wir sind zwar besser vorbereitet auf die großen Flüchtlingszahlen als damals, aber es bleibt eine sehr große Herausforderung. Wir haben in diesem Jahr in Niedersachsen ungefähr so viele Menschen aufgenommen wie Göttingen Einwohner*innen hat. Aber da wir im kommenden Winter noch mit mehr Menschen rechnen müssen, die in ihrer Not nach Deutschland kommen, müssen wir wohl leider wieder Messehallen öffnen und andere große Unterkünfte schaffen. Vermeiden würde ich so gut wie möglich, dass wir wieder vielerorts Turnhallen nutzen müssen. Kinder und Jugendliche mussten während der Pandemie schon auf genug verzichten, der Sportunterricht sollte möglichst nicht mehr ausfallen. Aber wir sind davon abhängig, was jetzt weiter in der Ukraine passieren wird und momentan betreibt Putin puren Terrorismus gegen die Zivilbevölkerung.

Er macht die Städte unbewohnbar …

Er zerstört die Energieversorgung und wenn es kalt wird, werden noch mehr Menschen aus der Ukraine bei uns Hilfe suchen. Und das wiederum – so hofft jedenfalls Putin – wird für Instabilität in der deutschen Gesellschaft sorgen. Eine widerliche Strategie.

Noch einmal kurz zur Unterbringung. Aus meiner Sicht sind die Hallen und Kasernen und Hotels, diese Sammelunterkünfte, immer nur die zweitbeste Lösung. Viel besser wäre doch die private Unterbringung. Größere Städte wie Hannover vermitteln aber keinen privaten Wohnraum. Momentan gibt es auf hannover.de bei diesem Stichwort sogar nur einen Link auf „Elinor Network“, was schlicht Unsinn ist. Es gibt dort nichts, wo ich Wohnraum angeben könnte. In kleineren Gemeinden funktioniert die direkte Vermittlung. Warum nicht beispielsweise in Hannover?

Ich bitte um Verständnis, aber ich finde, ich sollte mich als ehemaliger Oberbürgermeister mit Ratschlägen oder Kommentaren zurückhalten. Aber natürlich sind private Unterkünfte eine sehr gute Lösung. Und das passiert glücklicherweise ja auch schon vielfach. Eine große Zahl Menschen sind in Niedersachsen privat untergekommen – auf einem ganz anderen Niveau als 2015/16. Das liegt zum Teil daran, dass es viele private Kontakte in die Ukraine gab und gibt und dass wir mit der ukrainischen Gemeinde in Niedersachsen viele Übersetzer und Botschafter haben. Aber diese Form der Unterbringung ist natürlich auch eine echte Herausforderung für alle Beteiligten. Und keiner kann sagen, wie lange die Hilfe noch nötig sein wird. Das gehört auch zur Wahrheit.

Aber es geht ja im Augenblick zuallererst darum, den Menschen über die kalte Jahreszeit zu helfen.

Das steht absolut im Mittelpunkt. Wir müssen alle gemeinsam verhindern, dass Menschen in der kalten Jahreszeit obdachlos werden.

Ich weiß, dass in vielen niedersächsischen Dörfern sehr viele ältere Menschen ganz allein in sehr großen Häusern wohnen. Eine Person, 250 Quadratmeter Wohnraum. Müsste es nicht Scouts geben, die hier gezielt nach Möglichkeiten suchen. Oder eine Kampagne, mit der Möglichkeit, sich zu melden. Ich könnte mir vorstellen, wenn man die Menschen ein bisschen abholt, gäbe es durchaus sehr viel Bereitschaft. Gibt es schon solche Initiativen?

Solche durchaus sinnvollen Initiativen gibt es in einzelnen Kommunen, aber leider noch nicht flächendeckend. Eine solche Lösung kann für beide Seiten hilfreich sein, die Ukrainerinnen und Ukrainer bringen Leben ins Haus und sie könnten helfen bei täglichen Verrichtungen.

Kommen wir noch einmal zurück zur Strategie Putins. Was mir momentan fehlt, ist in der politischen Diskussion der klare Hinweis, dass jeder bei uns gut untergebrachte Mensch aus der Ukraine ein Stück weit die Strategie Putins zunichtemacht. Stattdessen ist viel von Spaltung die Rede und ein Friedrich Merz spricht von Flüchtlingstouristen. Statt um Solidarität und Menschlichkeit geht es ihm vor allem um unseren Wohlstand.

Da sprechen Sie insofern mit dem Falschen, weil ich genau das in den vergangenen Monaten immer wieder gesagt habe, in vielen Diskussionsveranstaltungen und Bürgerversammlungen. Im Wahlkampf ging es sehr oft um das Thema Energie. Und ich habe immer wieder deutlich gesagt, dass trotz aller Schwierigkeiten klar sein muss, dass wir Deutsche uns nicht mit den Tätern arrangieren, sondern mit den Opfern solidarisieren. Dafür gab es immer viel Beifall und ich bin nach wie vor überzeugt, dass eine große Mehrheit bei uns in Niedersachsen das so sieht. Es gibt natürlich auch diejenigen, die sagen, dass uns dieser Krieg nichts angehe, aber das ist zum Glück eine Minderheit. Und ich hoffe sehr, dass das so bleibt, trotz der steigenden Energiekosten. Aber auch deshalb ist es wichtig, jetzt sehr schnell die staatlichen Entlastungen umzusetzen. Wir müssen den Menschen die Angst nehmen, Angst ist bekanntlich keine gute Ratgeberin. Zumal es stimmt, dass die Herausforderung in den kommenden Monaten mit der kalten Jahreszeit größer werden wird. Die demokratischen Parteien in Deutschland müssen insgesamt ihre Kommunikation in Richtung Solidarität und Menschlichkeit verstärken. In Niedersachsen werden wir das Bündnis „Niedersachsen packt an“ im kommenden Winter wieder reaktivieren. Es gibt noch überall die Strukturen, die wir 2015/16 aufgebaut haben. Wir sind das einzige von 16 Bundesländern, das so ein Dach geschaffen hat. Das ist ein Pfund.

Mir fällt manchmal auf, dass eher abstrakt über die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine und auch aus anderen Ländern gesprochen wird. Dass dort tatsächlich ganz real Familien obdachlos werden, dass Kinder getötet werden, jeden Tag, das wird ausgeklammert, das wird gerne verdrängt. Und dann kommt auch noch ein Friedrich Merz um die Ecke …

Merz bleibt sich eben treu. Er war immer ein Rechtsausleger und ich bin der festen Überzeugung, das wird er auch bleiben. Mehr kann man dazu eigentlich nicht sagen. Und wenn er sich dann hinterher hinstellt und sein Bedauern bekundet, dass er für Missverständnisse Anlass gegeben hätte, dann mag das glauben, wer will. Was ich aber viel wichtiger finde als alle Diskussionen um Friedrich Merz, ist ein konsequentes und schnelles gemeinsames Vorgehen der Vernünftigen im politischen Raum. Wir haben mehrere Krisen, die sich überlagern. Was die Bürger momentan am meisten verunsichert, das sind die Themen Energieversorgung und Energiepreise. Viele befürchten, ihre Rechnungen nicht bezahlen zu können. Die Krisen in den letzten Jahren haben uns gelehrt, wie wichtig es ist, schnell Klarheit zu schaffen. Klarheit aber gibt es nur mit eindeutigen, transparenten Entscheidungen und einer guten Kommunikation. Momentan haben wir an einigen Stellen einen Entscheidungsstau. Diesen Stau müssen wir auflösen, und zwar schnell. Das ist die Hauptaufgabe für die nächsten Wochen.

Interview: Lars Kompa

 

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Editorial 2022-11

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Editorial 2022-11


Lieber Leserinnen und Leser,

ich habe in dieser Ausgabe mit Kaja (19 Jahre) über Zukunft gesprochen. Und natürlich haben wir uns dabei auch über die Gegenwart unterhalten. Was sie mir erzählt hat, war nicht besonders angenehm, es ist schwer, wenn so ein junger Mensch den Finger so konsequent in die Wunde legt. Ein Satz (neben vielen anderen für mich schweren, weil so wahren Sätzen) hat mich tatsächlich regelrecht umgehauen: „Es ist ein Privileg zu sagen, ich habe Angst vor der Zukunft, denn es gibt Menschen, die haben Angst vor der Gegenwart.“

Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass dieser Generation weitaus mehr zugehört wird als bisher. Und dass wir nicht nur zuhören, sondern auch entsprechend umdenken. Ich sehe in den Talkshows ständig Männer und Frauen jenseits der 40, 50 und 60, die in Diskussionen beispielsweise mit Klimaaktivist*innen so eine leicht herablassende, freundlich nachsichtige Haltung annehmen, weil diese jungen Leute ja noch nichts wissen von der Welt, weil sie noch gar keine Erfahrung haben, weil sie noch träumen, während die Realität dann doch ein bisschen anders aussieht. Wohlstand muss man sich auch verdienen, wird dann gesagt, das Geld wächst nicht auf den Bäumen und wir leben nicht im Wolkenkuckucksheim.

Das ist angesichts des zunehmend drastisch sichtbareren Klimawandels ziemlich hässlich und auch dumm. Und ich kann verstehen, wenn bei den nachwachsenden Generationen allmählich die Geduld mit uns zur Neige geht. Wenn sie keine Lust mehr haben auf Lösungen von vorgestern für die Probleme von morgen. Was nützt uns all unser Wohlstand, wenn das Klima kippt, wenn tatsächlich viele Bereiche der Erde unbewohnbar werden? Dieser Frage müssen wir uns endlich ganz nüchtern stellen, denn das Szenario stammt nicht aus irgendeinem Science-Fiction-Film mit Weltuntergangsdramatik, das sagt die Wissenschaft in weltweit überwältigender Einigkeit. Oder anders gesagt, wer heute noch behauptet, dass es nicht in einer Katastrophe endet, wenn wir nicht augenblicklich sehr radikal auf die Bremse treten, ist ein Idiot.

Was für Schlussfolgerungen müssten wir eigentlich ziehen aus den Erkenntnissen der Wissenschaft? Zum Beispiel, dass jedes Prozent mehr Wachstum die Katastrophe für die Welt nur weiter verschärft. Der Earth Overshoot Day, der Welterschöpfungstag, war in diesem Jahr am 28. Juli. Seither verbrauchen wir jeden Tag mehr natürliche Ressourcen als nachwachsen können. Daran wird sich auch durch ein bisschen „grünes“ Wachstum in Deutschland kaum etwas ändern. Es ist, wie es ist, wir dürfen nicht mehr weiter wachsen, im Gegenteil, wir müssen bescheidener werden und Wohlstand ganz anders und neu definieren. Wir müssen wahrscheinlich unseren Kapitalismus ganz neu denken und dabei bitte nicht alten, teils verqueren Ideologien nachhängen. Es gibt viele, altbekannte Lösungen, die momentan gerne propagiert werden. Aber die haben auch in der Vergangenheit alle nicht funktioniert. Klar, man könnte die halbe Menschheit zur Umerziehung ins Arbeitslager sperren, aber ist das wirklich ein tragfähiges Zukunftsmodell? Und klar, man könnte einen ganz hohen Zaun um Deutschland ziehen, sich mit Ackerbau und Viehzucht autark ernähren und auf alle schießen, die über die Grenze kommen, um bei uns Kartoffeln zu klauen. Das ist es irgendwie auch nicht. Aber einfach so darauf zu hoffen, dass der Krieg in der Ukraine endet und sich dann alles wieder beruhigt, um dann wieder zurückzukehren zu unserem alten Geschäftsmodell und nebenbei mit vielen klugen Innovationen (die es alle noch nicht gibt) das Weltklima retten, das ist es leider auch nicht. Das ist nur heiße Luft.

Aber was passiert, wenn sich jemand in die üblichen Talkshows setzt und propagiert, dass unsere Wirtschaft schrumpfen muss? Stellen wir uns dort eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler vor, mit echter Expertise und lauter Fakten im Gepäck. Sie würde ihn grillen. Sie würden an seiner Forschung zweifeln, ihn diskreditieren, und irgendwo würde da auch noch eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler sitzen und das Gegenteil behaupten, wegen der richtigen Balance. Auch wenn diese zweite Meinung in der Wissenschaft total isoliert ist. Man müsste beispielsweise bestimmt 10.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ins Studio bitten, für die der Klimawandel menschengemacht ist, wenn dort ein Klimaskeptiker auftreten soll und man eine „true balance“ zeigen will. Aber egal, was kümmert uns die richtige Balance. Die Hauptsache ist doch, das nicht sein kann, was nicht sein darf. Und kein Wachstum, das darf nicht sein. Dann empören wir uns prognostizieren den Untergang.

Was mich im Gespräch mit Kaja am meisten beeindruckt hat, das ist ihr Optimismus, ihre Zuversicht. Das ist auch ihr Mut. Was mich am meisten bedrückt hat, das ist die Hoffnungslosigkeit, die sich hin und wieder kurz zeigt. Denn ihr ist bei all ihren Forderungen völlig klar, dass kaum etwas davon passieren wird, dass wahrscheinlich erst noch alles viel schlimmer und apokalyptischer werden muss, bis sich in den (älteren) Köpfen wirklich etwas bewegt. Mehr ab Seite 54

Viel Spaß mit dieser Ausgabe
Lars Kompa

Herausgeber Stadtkind

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