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Ein letztes Wort im Februar

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Ein letztes Wort im Februar


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil


Herr Weil, wir haben zuletzt darüber gesprochen, was bei langen Nachtsitzungen in Berlin so herauskommt. Sie haben die Kürzungspläne schon einen Tag nach der sogenannten Einigung im Dezember sehr kritisch kommentiert. Inzwischen ist die Streichung der Kfz-Steuerbefreiung für Landwirtschaftsfahrzeuge wieder vom Tisch und beim Agrardiesel kommen die Streichungen auch nicht von jetzt auf gleich. Erklären Sie mir mal, warum die Bauern danach noch auf die Straße gegangen sind. War die Ampel noch nicht genug eingeknickt?
Da gibt es eine Geschichte hinter der Geschichte. Man konnte sich ja tatsächlich fragen, als es nur noch um den Agrardiesel ging, ob diese große Protestwelle eigentlich verhältnismäßig war. Aber wir sprechen über Prozesse, die schon länger als 20 Jahre laufen. Die Landwirte fühlen sich in einer Sandwich-Situation. Auf der einen Seite haben wir in unserer Gesellschaft immer höhere Erwartungen an unsere Landwirtschaft entwickelt. Und ganz oft enden die auf der Silbe -schutz: Umweltschutz, Tierschutz, Verbraucherschutz, Naturschutz usw. Und bei den Bäuerinnen und Bauern gab es dazu durchaus einen Lernprozess. Viele waren und sind bereit, diese Erwartungen möglichst zu erfüllen. Aber sie sagen eben auch, dass die Gesellschaft gleichermaßen anerkennen muss, dass sie mit ihren Betrieben Teil eines größeren internationalen Marktes sind. Sie können nicht selbst über ihre Erzeugerpreise bestimmen, das tun leider andere. Diese Sandwich-Situation ist ein strukturelles Problem in der Landwirtschaft. Und jetzt fordern sie schlicht Planungssicherheit. Und stellen eine berechtigte Frage: Wenn wir mehr leisten sollen – okay. Aber wie sollen wir dafür entsprechend das Geld verdienen? Gibt es dazu Perspektiven und Ideen? Sie fordern außerdem Verlässlichkeit in der Politik. Sie machen Stallumbauten und werden wenig später mit neuen und schärferen Anforderungen konfrontiert. Das ist natürlich problematisch bis existenzgefährdend. An dieser Stelle haben die Bauern ausdrücklich Recht. Das ist nur ein Beispiel. Sehr viel ist in den vergangenen zwanzig Jahren schlecht gelaufen. Und die drohenden Kürzungen waren jetzt einfach der berühmte Tropfen.

Beim Thema Landwirtschaft liegen also viele Fragen ungelöst seit zwanzig Jahren auf dem Tisch. Und man hat das bisher weitgehend ignoriert, obwohl die Kreuze ja schon seit einigen Jahren auf den Äckern stehen und auf die Situation der Betriebe hinweisen.
Ja, diese grünen Kreuze sieht man auch in Niedersachsen häufig. Viele niedersächsische Dörfer hatten früher fünf oder sechs Vollerwerbshöfe. Heute finden Sie in ganz vielen Dörfern nur noch einen größeren Betrieb, der die gesamte Fläche bewirtschaftet. Es gab über viele Jahre hinweg diese, wie ich finde, verhängnisvolle Strategie: Wachsen oder Weichen. Damit hat sich die Landwirtschaft deutlich verändert. Und jetzt sind es vor allem die übrigen, kleinen und mittleren Betriebe, die nicht wissen, wie sie ihre Zukunft planen sollen. Darum haben auch viele Kinder von Landwirten ihre Zweifel, ob sie den Betrieb übernehmen möchten. Und das ist für die Eltern schwer. Viele sitzen seit etlichen Generationen auf derselben Hofstelle. Und noch etwas hält die nachwachsenden Generationen ab: Es geschieht nicht selten, dass die Landwirtschaft als Umweltsünderin diskreditiert wird. Ohne dass gesellschaftlich anerkannt wäre, dass dort harte und verantwortungsvolle Arbeit geleistet wird.

Ein Problem ist der Handel. Die Preise sind einfach viel zu niedrig, oder?
Ja. Und problematisch ist auch, dass man gar nicht weiß, wo die Zutaten für die Produkte herkommen. Wenn Sie zum Beispiel Nudeln oder Fertiggerichte kaufen und es sind darin Eier verarbeitet, dann wissen Sie nicht, woher diese stammen und unter welchen Bedingungen die Hühner gehalten werden. Da kommt die internationale Konkurrenz ins Spiel. Viele Bauern empfinden den Markt als unfair, und da ist eine Menge dran. Es gibt politischen Handlungsbedarf. Und dazu: Wenn die Gesellschaft mehr Forderungen an die Landwirte hat, dann muss sie auch bereit sein, selbst mehr zu leisten, also mehr zu bezahlen. Tierwohl hat einen konkreten Preis. Tatsächlich ist es aber so, dass am Wochenende an der Fleischtheke im Supermarkt dann doch das Sonderangebot nachgefragt wird. Zu Spottpreisen.

Was müsste denn dringend passieren?
Es gibt gute Vorschläge, zum Beispiel von der Borchert-Kommission zur Tierhaltung. Das sind alles keine neuen Erkenntnisse. Trotzdem gibt es keine entsprechenden Entscheidungen. Und genau das macht die Bäuerinnen und Bauern zunehmend wütend. Bei den jüngsten Beschlüssen war es nun so, dass sich alle gewachsenen Vorbehalte gegenüber der Politik voll bestätigt haben. Niemand hat vorher mit den Landwirten geredet, es wurden einfach Entscheidungen getroffen. Und auch die Rücknahme von Entscheidungen fand nicht statt auf der Basis eines Gesprächs, sondern wiederum einseitig. Ich finde, man kann daraus eine Menge lernen.

Ich finde, man hätte schon längst etwas lernen können. Beziehungsweise hätte man es wissen müssen. Ich habe wirklich gegrübelt, wie man als Ampel eigentlich noch mehr ins offene Messer laufen kann, so richtig mit Ansage. Gibt es da keine Berater*innen?
Es ist ja bekannt, dass da ein sehr kleiner Kreis zusammengesessen hat. Bei dem beispielsweise der Bundeslandwirtschaftsminister nicht involviert war. Er hat klar gesagt, dass er dringend abgeraten hätte. Aber das ist jetzt vergossene Milch, um im Bild zu bleiben.

Wenn ich mir die vergangenen Jahre ansehe, mit all den Landwirtschaftsminister*innen der CSU/CDU, von Seehofer bis Klöckner, dann habe ich in Erinnerung, dass es eher eine Allianz gab mit den Landwirten. Die Stoßrichtung war immer eher zukunftsabgewandt. Bloß keine Veränderungen.
Nun, es gab in Berlin auch große Bauerndemos gegen die Politik von Klöckner und anderen. Sicherlich waren vor zehn Jahren noch weniger Landwirte veränderungsbereit. Aber die Landwirte wissen heute genau, dass es Entwicklungen geben muss. Sie erleben ja den Klimawandel hautnah, Stichwort Dürresommer. Veränderungen sind unumgänglich. Und das haben die Landwirte auch beim Tierwohl längst erkannt. Ich habe mal während eines eintägigen Praktikums auf einem großen Milchviehhof festgestellt, dass man sich sehr gut um die Tiere gekümmert hat. Und der Eigentümer hat das auch begründet. Wenn es den Tieren gutgehe, dann gehe es auch ihm gut, weil die Tiere so höhere Erträge brächten.

Wobei es auf der anderen Seite auch schon viele Skandale gab, und nach wie vor viel Mist passiert in der Landwirtschaft, um auch im Bild zu bleiben.
Ja, wobei man deshalb nicht immer eine ganze Branche in Mithaftung nehmen sollte. Und es hat sich auch viel getan. Heute sehen wir beispielsweise Freiluftställe mit Melkrobotern. Die Kühe können sich frei bewegen und selbst bestimmen, wann sie gemolken werden.

Wenn ich auf das Thema Landwirtschaft blicke, dann entdecke ich eine Parallele zu anderen Themen, die wir in Deutschland haben. Die Probleme sind schon Jahre bekannt, aber Lösungen gibt es nicht. Bei der Bildung, beim Verkehr, beim Wohnungsbau, bei der Gesundheit und Pflege, beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Die Liste ist lang. Die Versäumnisse sind stellenweise atemberaubend. Und dann blicke ich auf die Performance der Ampel und auf die Bereitschaft der einzelnen Akteure, konstruktiv miteinander zu arbeiten. Und was ich sehe, lässt mich ratlos zurück. Haben Sie Hoffnung, dass sich das demnächst noch mal positiv dreht?
Da würde ich zuerst gerne ein bisschen Wein in das von Ihnen dargebotene Wasser gießen. Erstens gab es noch keine Regierung, die so viel mit von außen kommenden Krisen zu tun hatte, vom ersten Tag an. Zweitens sind viele der Strukturprobleme, die Sie eben genannt haben, wesentlich älter als die Ampel. Sie werden nur jetzt immer offensichtlicher. Diese Strukturprobleme, die über Jahre gewachsen sind, lassen sich leider nicht von heute auf morgen lösen. Eine schnelle Reparatur ist einfach nicht realistisch. Und drittens leben in unserer Gesellschaft viele, viele Menschen unter ziemlich auskömmlichen Bedingungen. Nicht alle, das will ich ausdrücklich dazusagen. Aber wenn man sich anschaut, wie unsere Großeltern gelebt haben und wie Menschen in vielen anderen Teilen der Welt leben, dann kann schon feststellen, dass heute bei uns nicht alles schlecht ist.

Okay, es ist nicht alles schlecht.
Na, immerhin.

Aber trotzdem …
Das war ja auch nur die Vorbemerkung zu Ihrer Vorbemerkung. Generell muss Politik die Probleme anpacken und lösen, völlig klar. Ich finde, dass sich die Ampel erstens das Leben selbst sehr schwer macht, weil sie in vielen Fällen durchaus vernünftige Arbeit geleistet hat und weiterhin leistet. Leider bekommt das nur vor lauter öffentlichem Streit kaum noch jemand mit. Zweitens würde ich es sehr begrüßen, wenn man realistische Ziele kommunizieren würde. Sonst weckt man Erwartungen, die einfach nicht zu erfüllen sind. Und drittens wünsche ich mir, dass sich die demokratischen Kräfte in Deutschland jetzt miteinander verständigen und die Reihen schließen. Das ist vielleicht sogar das Wichtigste, angesichts der Entwicklungen um die AfD.

Interview: Lars Kompa

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Ein letztes Wort im Dezember

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Ein letztes Wort im Dezember


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Herr Weil, wir sprechen natürlich über die Geschehnisse in Israel. Und über das, was wir in der Folge nun in Deutschland sehen und erleben. Aber beginnen wir mit dem 7. Oktober. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
Wir kamen an dem Tag zurück von einer Delegationsreise nach Vietnam. Schon morgens am Flughafen gingen beunruhigende Push-Meldungen ein. Zunächst konnte ich die Berichte nicht wirklich einordnen. Aber es wurde dann im Laufe des Tages leider immer klarer, dass es sich um mehrere geplante, äußerst grausame und unbarmherzige Angriffe handelte, die vor allem gegen die Zivilbevölkerung in Israel geführt wurden. Eine neue, abscheuliche Art systematischer Kriegsführung.

Wann war Ihnen das ganze Ausmaß klar?
Eigentlich erst am nächsten Tag. Vielleicht weil sich alles in einem sträubt, eine Brutalität solchen Ausmaßes zu erfassen und als neue, bittere Wirklichkeit zu akzeptieren. Und auch, weil sich die Informationen erst mit der Zeit weiter verdichtet haben. Erst nach und nach wurde klar, wie hoch die Zahlen der Getöteten und Verletzten aber auch der Verschleppten waren – eine ganz besonders widerliche Facette dieses entsetzlichen Terrors. Diese Grausamkeit macht einen fassungslos. Für Israel war der 7. Oktober so etwas wie 9/11 für Amerika.

Der Terror richtet sich gezielt gegen Familien, gegen Kinder …
Ein extremer Terror, der sich am Vorgehen des IS orientiert. Und ich kann gut verstehen, warum die Israelis sagen, dass diese Art von Terror nie wieder passieren darf, dass sie nicht weiter unter einer ständigen Terrorbedrohung leben können. Es ist nicht akzeptabel, wenn jemand wie Erdoğan sagt, die Hamas sei im Grunde so etwas wie eine Befreiungsorganisation. Die Hamas ist eine Terrororganisation, eine Bande von Verbrechern und Mördern.

Die Hamas herrscht in diesem Landstrich seit Jahren mit unerbittlicher Härte, sie haben sich Gaza sozusagen unter den Nagel gerissen …
Das ist so, und die Opfer unter der Zivilbevölkerung in Gaza sind Teil einer zynischen Gesamtkalkulation. Es handelt sich um einen seit Jahrzehnten fortgeschleppten Konflikt, der danach schreit, dass es endlich doch eine friedliche Lösung gibt. Ein wesentliches Element einer solchen Lösung ist unabdingbar das Existenzrecht und die Sicherheit Israels. Der Terror muss aufhören.

Seit Rabin ist nicht mehr viel in dieser Richtung passiert. Und nun ist es vollends eskaliert. Israel war kurz in Schockstarre und schlägt jetzt unerbittlich zurück. Von Beginn an begleitet von Ressentiments, von Unterstellungen, von Hass, von Antisemitismus.
Israel hat das Recht, sich zu verteidigen. Und auch das Recht, die Wurzeln dieses Terrors zu beseitigen. Aber Israel hat dabei natürlich die Verpflichtung, die Zahl der Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung so gering wie irgend möglich zu halten. Tote Kinder sind furchtbar, ganz egal auf welcher Seite der Grenze.

Wir erleben weltweit und auch in Deutschland nun ein Aufflammen von Antisemitismus …
Es ist wirklich beschämend, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Angst haben, sich mit Symbolen ihres Glaubens in der Öffentlichkeit zu bewegen. Dagegen muss der Staat tun, was er tun kann, aber am Ende auch alle Bürgerinnen und Bürger. Wir müssen uns allerdings vor kollektiven Zuschreibungen hüten. Es gibt beispielsweise in der arabischen Community eine große Mehrheit, die mit Terrorismus und Antisemitismus rein gar nichts am Hut hat, denen es aber gleichzeitig tief unter die Haut geht, mit anzusehen, dass von 2,2 Millionen Menschen im Gazastreifen nun anderthalb Millionen auf der Flucht sind. Es sind dort inzwischen viele tausend Opfer zu beklagen, auch viele Kinder und Jugendliche. Das lässt niemanden kalt. Auch mich nicht. Es gehört zum Kalkül der Hamas, die Zivilbevölkerung zu missbrauchen und viele Opfer in Kauf zu nehmen. Und es ist nicht leicht für Israel, unter diesen Bedingungen die Verhältnismäßigkeit zu wahren, aber das müssen wir fordern. Und wir brauchen endlich eine dauerhafte Lösung, einen echten Frieden. Was soll entstehen in einem Gazastreifen, der zu weiten Teilen nur noch ein Trümmerhaufen ist? Wir kann man verhindern, dass daraus neuer Hass entsteht? Diese furchtbare Spirale muss endlich durchbrochen werden.

Eine friedliche Lösung hätte nur mit großer internationaler Anstrengung ganz vieler Staaten eine Chance und man müsste insbesondere dafür sorgen, dass die Unterstützung von Terrororganisationen aufhört.
In der Tat muss sich die internationale Gemeinschaft stark engagieren für einen Frieden in Nahost. Man muss jetzt zu einer echten Friedensordnung kommen. Auch ich halte – wie der Bundeskanzler – trotz oder vielleicht sogar gerade wegen dieses Krieges – eine Zweistaatenlösung für dringend notwendig. Mit breiten internationalen Sicherheitsgarantien für Israel müsste gewährleistet sein, dass von einem palästinensischen Staat für Israel keine Bedrohung mehr ausgeht. Gleichzeitig wäre eine Unterstützung für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Entwicklung in Palästina erforderlich.

Das klingt immerhin nach einer Möglichkeit.
Jedenfalls ist meine Fantasie ansonsten sehr begrenzt.

Meine Fantasie ist dahingehend begrenzt, ob das mit der Netanjahu-Regierung in Israel möglich sein wird.
Jedenfalls ist Israel eine sehr gefestigte Demokratie, übriges die einzige im Nahen und Mittleren Osten. Eine Demokratie, in der es sehr lebendige innenpolitische Auseinandersetzungen gibt. Das haben wir ja in den letzten Monaten gesehen bei dem wirklich beeindruckenden zivilgesellschaftlichen Protest gegen die Pläne für eine sehr problematische Justizreform. Ich habe großes Vertrauen in die demokratischen Prozesse in Israel. Wir hören doch, wie es um das Vertrauen in die amtierende Regierung bestellt ist. Insofern bin ich zuversichtlich, dass man in Israel die richtigen Schritte gehen wird. Dass sich die politisch Verantwortlichen in Israel in dem aktuellen Kriegszustand aber zunächst auf eine Einheitsregierung verständigt haben, kann ich gut nachvollziehen.

Israel ist momentan, und im Grunde ja schon seit vielen Jahren, in einem Dilemma, sie haben diesen Druck, sich human zu verhalten, aber man hat dort auch gelernt, dass es durch ein Zurückweichen nie besser geworden ist, sondern oft nur bedrohlicher …
Es gibt dieses Dilemma. Israel fühlt sich dem Völkerrecht verpflichtet, die Hamas aber nicht. Ein Rechtsstaat gegen eine Terrorbande. Dennoch muss Israel sich fortwährend prüfen, ob es den Erwartungen an einen Rechtsstaat und seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen entspricht.

Was denken Sie, wenn Sie die Demonstrationen in Deutschland sehen, teils offen antisemitisch?
Wir sehen momentan drei verschiedene Demonstrationsformen. Es gibt die Demonstrationen zur Unterstützung Israels und zur Solidarität mit den Jüdinnen und Juden in aller Welt. Es gibt jene, mit denen die Organisatoren ihre tiefe Betroffenheit über die zivilen Opfer im Gazastreifen ausdrücken, aber nicht mehr. Und dann gibt es Demonstrationen, die antiisraelisch und judenfeindlich sind. Letztere werden in Niedersachsen konsequent verboten. Wir wollen an dieser Stelle überhaupt keinen Zweifel aufkommen lassen, wo der deutsche Staat steht. Bei uns darf man seine Meinung frei äußern, aber im Rahmen der allgemeinen Gesetze.

Es hat sich gezeigt, dass wir in Deutschland anscheinend ein vielschichtiges Problem mit Antisemitismus haben …
Wir haben Rechtsextremismus in Deutschland, und von dem geht, auch nach den Verfassungsschutzberichten, die größte Gefahr aus. Wir haben aber Ressentiments gegen Jüdinnen und Juden leider auch bis in die Mitte unserer Gesellschaft hinein. Und natürlich haben wir den vielzitierten zugewanderten Antisemitismus. Gar keine Frage. Aber ich habe das hier mal bewusst in dieser Reihenfolge gesagt, denn wir haben nicht nur unsere Hausaufgaben hinsichtlich der letztgenannten Form von Antisemitismus zu erledigen. Wir müssen uns auch um die beiden anderen Formen kümmern. Das ist eine Aufgabe für alle Bürgerinnen und Bürger, für die ganze Gesellschaft. Wir müssen überall laut und deutlich widersprechen, in der Kneipe, in den Schulen, in den Vereinen, überall.

Interview: Lars Kompa

(Das Interview wurde bereits im November 2023 geführt)

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Ein letztes Wort im November

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Ein letztes Wort im November


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Herr Weil, wir treffen uns am 11. Oktober, wenige Tage nach dem Angriff der Hamas auf Israel …

Und es ist unfassbar, was dort geschehen ist. Fürchterliche Terrorangriffe, Grausamkeiten, die wirklich sprachlos machen. Mich hat das alles, wie viele andere, zutiefst erschüttert. Es ist völlig klar, dass wir in einer solchen Situation an der Seite Israels stehen. Und wir werden in Niedersachsen Sympathiebekundungen für den Terror der Hamas konsequent unterbinden. Israel hat das Recht, sich zu verteidigen. Das Ende des Terrors ist auch die Voraussetzung dafür, dass es für die Menschen in Gaza wieder zu einigermaßen erträglichen Lebensbedingungen kommt.

Es fällt schwer, so ein Thema in unserem Gespräch auszuklammern, aber wenn das November-Stadtkind in gut zwei Wochen erscheint, haben wir wahrscheinlich schon wieder eine ganz andere Situation in Israel. Wie es dort weitergeht, darüber könnten wir jetzt nur spekulieren. Darum zurück nach Deutschland und zu den aus SPD-Sicht sicher traurigen Wahlen in Hessen und Bayern. In Bayern waren es für die SPD noch 8,4 Prozent …

Ich war drei Tage unterwegs, um in beiden Ländern den Wahlkampf zu unterstützen, und ich muss ehrlich zugeben, dass mich die Ergebnisse dann nicht mehr überrascht haben. Die Stimmung war für die SPD in beiden Ländern spürbar schlecht. Aber was mir in Bayern besondere Sorgen macht, das ist einerseits eine starke AfD mit 14,6 Prozent und dazu die Freien Wähler mit 15,8 Prozent. Das sind zusammen über 30 Prozent! Und hinzu kommt noch eine CSU mit 37 Prozent, die unter diesen Bedingungen dann schon die Partei der Mitte ist. Und weniger als 30 Prozent für Liberale, SPD und Grüne – das beunruhigt mich sehr. Mich haben auch schon die Reaktionen auf die Affäre-Aiwanger erschrocken. Verfehlungen, die vor 35 Jahren geschehen sind, sind natürlich schon lange her, aber wenn so etwas passiert ist, dann muss man wenigstens anständig damit umgehen. Glaubt wirklich irgendjemand, dass Herr Aiwanger die Wahrheit gesagt hat? Und trotzdem fühlen sich viele von ihm nicht etwa hinters Licht geführt, sondern solidarisieren sich mit ihm. Was ist da los? Ich fürchte, dass in unserer Gesellschaft teilweise ein paar moralische Grundlagen verloren zu gehen drohen.

In Hessen waren es für die SPD 15,1 Prozent, weit hinter der CDU mit 34,6 Prozent und auch hinter der AfD mit 18,4 Prozent …

In Hessen müssen wir einfach einen großen Erfolg der CDU konstatieren. Und die SPD dort ist noch mehr als in Bayern in die Bundesdiskussion mit reingezogen worden. Die Stimmung der Ampel gegenüber ist wirklich nicht gut. Hinzu kommt, dass wir tatsächlich zu hohe Zuwanderungszahlen haben. Und die Bundesinnenministerin steckte als Spitzenkandidatin mitten in dieser Debatte. Das hat sicherlich eine Rolle gespielt.

Für die SPD waren die Wahlen ein Desaster.

Da ist so.

Würde es in Niedersachsen am kommenden Sonntag anders aussehen?

Die letzte Umfrage für Niedersachsen gab es im Juli, da war das Ergebnis für die SPD noch sehr passabel. Aber wir werden demnächst zum einjährigen Bestehen der Landesregierung sicher neue Umfragen bekommen. Mal sehen, wie die ausgehen. Niedersachsen ist keine Insel, aber wir sind in Niedersachsen – so mein Eindruck – auf einem wesentlich gefestigteren Boden unterwegs.

Wir sehen in Deutschland ganz eindeutig einen Rechtsruck. Und mich wundert das gar nicht. Denn was ich feststelle, ist, dass sich die demokratischen Parteien allesamt immer wieder vor den Karren der AfD spannen lassen. Die AfD setzt die Themen und treibt die anderen Parteien. Und plötzlich klingen im Sound alle fast gleich. Ich habe mir neulich mal einen Vergleich der europäischen Länder angesehen. Wie werden Flüchtlinge, Asylbewerber*innen, Migrant*innen bei uns behandelt, wie werden sie in anderen Ländern behandelt? Das Ergebnis: In vielen anderen Ländern geht man schäbig mit diesen Menschen um. Sie werden in erbärmlichen Behausungen untergebracht, sie werden schlecht behandelt, sie bekommen keine Unterstützung, keine Freundlichkeit. Nichts. Während wir in Deutschland uns bisher immerhin größte Mühe geben. Bei der Unterbringung, bei der Integration. Da ist sicher Luft nach oben, doch vergleichsweise verhalten wir uns bisher wirklich human, menschlich. Aber sind wir darauf stolz? Sehen wir das positiv? Nein, stattdessen gibt es inzwischen einen Wettbewerb, wie wir es den anderen Ländern nachmachen können, wie auch wir es diesen Menschen, die zum Teil zutiefst traumatisiert sind, möglichst noch schwerer machen können. Das kann es doch nicht sein. Kleine, längere Ansprache, Entschuldigung.

Zum Teil haben sie recht. Wir müssen aber – egal was die AfD sagt – auch einfach feststellen, dass wir in vielen Städten und Gemeinden riesige Probleme mit der Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten haben. Wir sind kaum noch in der Lage, grundlegende Integrationsleistungen so zu erbringen, wie wir das für notwendig erachten. Die Situation ist schwieriger als 2015/16, weil der Sockel wesentlich höher ist. Schon im letzten Jahr waren wir deutschlandweit bereits bei etwa 250.000 Menschen, bis Endes des Jahres werden wahrscheinlich noch einmal 300.000 dazukommen. Ganz zu schweigen von den Aufnahmen in den Vorjahren. Hinzu kommen in Niedersachsen noch etwa 130.000 Menschen aus der Ukraine, die bei uns Zuflucht gefunden haben. Die allwöchentlich große Zahl neuer Geflüchteter macht insbesondere den Kommunen große Sorgen. Es hat leider schon einen Grund, wenn die allgemeine Verunsicherung wächst. Und beim Thema Migration wird dann verständlicherweise die Frage gestellt, warum wir acht Jahre nach dem Herbst 2015 noch keine kontrollierte Migration haben. Wir brauchen keine Politik der Schikane, aber wir brauchen eine Kombination aus europäischen und nationalen Maßnahmen, um Menschen ohne Bleibeperspektive zügig zurückschicken und denjenigen, die vor Krieg, Verfolgung und Vertreibung fliehen, effektiv Schutz gewähren zu können.

Und dann kommt Friedrich Merz und spricht davon, dass sich die Leute hier die Zähne machen lassen. Der Chef der Partei mit dem „C“ im Namen. Das ist doch AfD pur und hat mit der Suche nach Lösungen rein gar nichts zu tun.

Das war unterirdisch, da gebe ich Ihnen Recht. Und ja, das war AfD-Sprech, das hilft auch der CDU nicht. Wir müssen die echten Probleme klar benennen und gute Lösungen finden. Der Sound verantwortungsbewusster Politikerinnen und Politiker muss ein anderer sein. Wenn wir Handlungsfähigkeit beweisen, werden wir auch Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen.

Mir fehlt dazu trotzdem eine Art Perspektivwechsel. Wir werden unsere Gesellschaft nicht zusammenhalten, wenn wir Neiddebatten führen, Angst verbreiten, Missgunst sähen, sondern wenn wir uns daran erinnern, dass wir solidarisch und human sein sollten, dass wir über Menschen sprechen, und dass wir nach wie vor ein starker Staat sind, der sehr viel leisten kann. Diese Ansprache fehlt mir momentan.

Aber neben schönen Ansprachen wollen die Menschen auch Taten sehen. Machen wir uns nichts vor, wir brauchen jetzt kontrollierte Verfahren und spürbare Verbesserungen in Europa und in Deutschland. Klar ist, dass wir das Grundrecht auf Asyl schützen und bewahren wollen. Und wir wollen unsere humanitären Verpflichtungen erfüllen. Auch deshalb müssen Menschen, die kein Schutzrecht haben, unser Land wieder verlassen. Geflüchtete aus Nordafrika haben beispielsweise eine Anerkennungsquote von unter einem Prozent. Wir können nicht alle Menschen bei uns aufzunehmen, die sich das wünschen, auch wenn viele Motive nachvollziehbar sind. Ich tue mich schwer mit der Vorstellung, dass Europa sich an seinen Grenzen abriegelt, aber ich halte das inzwischen für notwendig. Und es ist wohl leider auch notwendig, bereits an den Außengrenzen der EU über die Bleibeperspektive zu entscheiden. Und für Deutschland ist es besonders wichtig, dass wir eine gleichmäßige Verteilung über ganz Europa hinbekommen. Das alles ist noch ein dickes Brett, aber zumindest bin ich inzwischen zuversichtlich, dass wir zum ersten Mal zu einer europäischen Asylpolitik kommen. Das wäre ein ganz wichtiger Schritt.

Interview: Lars Kompa

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Ein letztes Wort im August

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Ein letztes Wort im August


 mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Herr Weil, es geht in die politische Sommerpause und ich bin ganz erleichtert – zwei Monate kein Ampel-Streit. Danach fetzen sich dann wieder alle ausgeruht wie die Kesselflicker, oder erwarten Sie, dass sich an der Performance demnächst wirklich etwas ändert? Hat man dazugelernt?

Menschen sind lernfähig und wir lernen alle täglich dazu. Dass von der ja in vielen Bereichen guten Arbeit der Bundesregierung derzeit primär die Streitigkeiten wahrgenommen werden, ist bitter. Die Ampel in Berlin hat viel bewegt in schwierigen Zeiten: der Mindestlohn ist gestiegen, das Kindergeld auch, die Energiekrise ist zumindest einstweilen überwunden, erneuerbare Energien werden jetzt schneller ausgebaut, die Bundeswehr wird ertüchtigt und die Ukraine unterstützt. Der allzu häufige Streit in der Koalition aber führt leider dazu, dass all das, was sie richtig gut macht, nicht mehr durchdringt. Darunter leidet das Ansehen einer Regierung und das ist gerade in diesen herausfordernden Zeiten schlecht für die Demokratie. Darum wünsche ich mir wirklich, dass alle Beteiligten in den Sommerferien sehr intensiv darüber nachdenken, wie man trotz unterschiedlicher Auffassungen ruhig und freundlich miteinander Politik machen kann. Es wird immer Themen geben, über die man sich streiten muss, aber bitte in Zukunft doch lieber intern. Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht darauf, dass die politische Führung eines Landes konstruktiv an den für sie relevanten Themen arbeitet und dass sie zu plausiblen Lösungen kommt, die die Menschen mittragen können. Das Heizungsgesetz war ein Beispiel, wie man es nicht machen sollte. Am Ende ist niemand mehr durchgestiegen und viele Menschen wissen nicht mehr, was die jetzt in der Regierung geeinten Regelungen für sie persönlich bedeuten. De facto ist es übrigens so, dass der jetzt auf dem Tisch der Abgeordneten liegende Entwurf wesentlich besser ist als die Ausgangsfassung. Aber das hat infolge der aufgeheizten öffentlichen Debatte kaum jemand gemerkt. Also, langer Rede, kurzer Sinn, ich hoffe auf die Sommerpause als Nachdenkpause.

Bisschen wandern, übers Nebelmeer gucken, nachdenken …

So in etwa. Das würde ich mir wünschen.

Vor allem während der ersten Monate des Krieges in der Ukraine hatte ich den Eindruck, dass die Ampel letztlich recht pragmatisch zu Entscheidungen gekommen ist. Man war sich ein bisschen uneinig über die Geschwindigkeit bei den Waffenlieferungen, aber es ging dann doch insgesamt ganz gut voran. War das einfach der Druck der Krise?

Das war sicherlich der Druck der Krise, aber auch Mut und Entschlossenheit der Bundesregierung. Aber jetzt sind wir in einer ganz anderen und vielleicht deutlich schwierigeren Phase.

Jetzt muss es ums Gestalten gehen, um die Umsetzung von Zukunftsideen, um die richtigen Weichenstellungen?

Jetzt kommt die Phase, in der wir alle organisieren müssen, wie es in den nächsten Jahren und Jahrzehnten unter schwierigeren Bedingungen weitergehen kann. Es gibt zahlreiche sich überlagernde Probleme und parallele Herausforderungen. Wir können uns beispielsweise nicht beim Klimaschutz eine Auszeit nehmen, bis der Krieg in der Ukraine zu einem Ende kommt. Die Menschen spüren die sehr grundlegenden Veränderungen, sie werden unruhig und machen sich Sorgen. Gerade in solchen Zeiten ist es umso wichtiger, dass Politikerinnen und Politiker deutlich machen: Wir wissen, was wir tun und wir werden gemeinsam einen guten Weg finden; jede und jeder einzelne ist gefordert, aber wir setzen alles daran, dass keiner überfordert wird. Ich bin zuversichtlich, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger bereit sind, die aktuellen Probleme mit anzugehen und die aktuellen Krisen mit der Politik und der Wirtschaft zusammen zu überwinden. Das aktuell geringer werdende Grundvertrauen in die Politik in Berlin, macht es leider extremen Parteien allzu leicht, sich mit plumpen Parolen und ohne eigene Lösungsansätze als Ventil anzubieten.

Wenn es jetzt um die Weichenstellungen geht, dann sitzen da aber leider drei Parteien in der Koalition, die teilweise völlig unterschiedliche, entgegengesetzte Grundüberzeugungen haben. Das kann doch auf Dauer nicht funktionieren, oder?

Mir fehlt da die Erfahrung, ich hatte bisher immer das Glück, in Zweierkonstellationen regieren zu können. Das ist natürlich wesentlich leichter. Und ich habe es auch bislang immer mit Koalitionspartnern zu tun gehabt, die ebenfalls lösungsorientiert gearbeitet haben. Das war auch mit der CDU während der vergangenen Legislaturperiode so. Wir waren uns einig, dass wir nicht den Eindruck von Zerstrittenheit vermitteln dürfen, weil das die Menschen in schwierigen Zeiten zusätzlich verunsichert und unsere demokratischen Strukturen schwächt. Mit den Grünen läuft das jetzt ähnlich, nur noch einmal konstruktiver und dynamischer. Natürlich haben wir auch immer mal wieder unterschiedliche Positionen, aber die Diskussionen werden weit überwiegend intern geführt. Auch bei im Einzelnen unterschiedlicher Auffassungen kann man zu gemeinsamen Entscheidungen kommen, wenn man sich darauf besinnt, worum es eigentlich geht. Beim Klimaschutz zum Beispiel um nicht weniger als den Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen.

Man sollte sich also gelegentlich an die größeren Ziele erinnern?

Ja, wobei das alleine natürlich nicht reicht. Bei dem Heizungsgesetz geht es unzweifelhaft um einen ganz wichtigen Schritt hin zu mehr Klimaschutz. Diesen Schritt haben viele frühere Regierungen nicht gewagt und es ist gut und richtig, dass die Ampel sich dieser Herausforderung stellt. Dabei gibt es dann theoretisch zwei mögliche Lösungswege. Man könnte versuchen, alles über den CO₂-Preis zu regeln, also den CO₂-Preis so lange zu erhöhen, bis die Menschen ihre Heizungen erneuern. Von diesem Weg rate ich dringend ab, weil er Menschen mit kleinem Einkommen überfordert – sie können irgendwann die Energie nicht mehr bezahlen, aber auch nicht den Umstieg bei ihrer Heizung. Klüger ist in der Tat ein ordnungspolitisches Vorgehen, also klare Vorgaben zum Betrieb von Heizungen. Dabei müssen dann aber von vornherein alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen eng mit eingebunden werden, die Kommunen beispielsweise, die Energieunternehmen und die Handwerker, die die neuen Heizungssysteme einbauen sollen. Das ist leider am Anfang komplett unterblieben und hat sich bitter gerächt. Ganz sicher wäre bei einer solchen frühen Beteiligung u.a. der Hinweis auf den Vorrang kommunaler Wärmenetze gekommen. Hätte man eine kluge kommunale Wärmeplanung schon beim ersten Gesetzentwurf in den Mittelpunkt gestellt, wäre viel Ärger vermieden worden. Man sieht daran: Vernünftige Ordnungspolitik ist eigentlich kein Hexenwerk.

Und so bekommt man die Dinge geräuschlos auf die Strecke?

Mindestens wesentlich leichter. Weil eben schon im Vorfeld viele Risiken und Fallstricke identifiziert werden.

Wenn ich so meine Analyse dieser Dreierkonstellation mache, dann stelle ich fest: die FDP kocht ständig ihr eigenes Süppchen und ein Ende der Ampel wird es trotzdem nicht geben, weil die Umfragen nichts Gutes verheißen. Ist da was dran?

Das weiß ich nicht, da müssen Sie die FDP fragen. Aber ohne gemeinsame Überzeugungen geht es in keinem Fall. Die Ampel hat in ihrem Koalitionsvertrag eigentlich einen richtig guten Kompass vereinbart, dazu muss man zurückkehren. Es kommen jedoch bedauerlicherweise insbesondere aus den Reihen der Liberalen immer wieder sehr destruktive Äußerungen in die Diskussion auf Bundesebene. Das mag gut sein für kurzfristige Profilierungen, aber der dadurch angerichtete Schaden ist nachhaltig.

Was ich bei all dem nicht verstehe, ist die Strategie von Olaf Scholz. Sich aus allem herauszuhalten, bis die Lage zwischen den kleineren Koalitionspartnern eskaliert, um es dann auf den letzten Metern nur so halbwegs einzufangen, scheint mir ebenfalls nicht besonders konstruktiv.

Diesen Eindruck teile ich nicht.

Die Antwort hatte ich erwartet.

Natürlich mischt sich Olaf Scholz ein. Aber die berühmten Machtworte, nach denen immer gerufen wird, ersetzen keine gemeinsame Überzeugung und kein gemeinsames Verantwortungsgefühl. Ein Regierungschef könnte noch so oft mit der Faust auf den Tisch hauen, er könnte gute Zusammenarbeit und gemeinsame verantwortungsvolle Politik nicht erzwingen. Und um an den Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurückzukehren: mein Wunsch wäre es wirklich, dass die Koalitionäre in Berlin aus der Sommerpause mit der Einsicht zurückkehren, dass man eine gemeinsame Verantwortung hat und dieser auch gemeinsam gerecht werden will.

Mir fehlt bei Olaf Scholz trotzdem Führung, Klarheit, Kommunikation, Nahbarkeit.

Auch da widerspreche Ihnen aus vollem Herzen. Wir alle kommunizieren unterschiedlich. Olaf Scholz ist sich selbst treu geblieben – über viele Jahre hinweg. Er ist authentisch und hat mit seiner Politik viel Gutes bewirkt. Und er hat immer wieder Wahlen gewonnen. Ganz falsch kann er also nicht liegen.

Interview: Lars Kompa

(18.07.2023)

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Ein letztes Wort im Juli

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Ein letztes Wort im Juli


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil


Herr Weil, wir haben das Thema bei unseren letzten Gesprächen schon zwangsläufig gestreift – die AfD liegt momentan bei fast 20 Prozent. Über dieses Thema würde ich mich gerne mit Ihnen unterhalten, und zwar auch und gerade als SPD-Landesvorsitzender und nicht primär als Ministerpräsident. Erleben wir in Deutschland jetzt eine ähnliche Entwicklung wie in Italien, Schweden oder Polen?

Wenn man ein bisschen genauer hinschaut, dann stellt man fest, dass etwa zwei Drittel derjenigen, die jetzt angeben, die AfD wählen zu wollen, das nicht aus besonderer Sympathie zur AfD tun würden und auch nicht, weil sie sich von der AfD Antworten auf drängende gesellschaftliche Fragen erwarten. Nein, sie wollen in erster Linie ihren Protest gegenüber der aktuellen Politik ausdrücken. Die richtige Antwort auf solche Umfragewerte ist also vor allem eine Politik, die Sicherheit und Vertrauen schafft. Das gilt ganz generell, aber im Moment besonders. Diese Herausforderung gab es bereits bei den Landtagswahlen im vergangenen Jahr. Damals ist es uns zwar leider nicht gelungen, die AfD aus dem Landtag herauszuhalten, aber mit elf Prozent sind die Bäume eben auch nicht in den Himmel gewachsen. Das ist nach wie vor überall in Deutschland möglich, davon bin ich überzeugt. Eine Entwicklung wie in den von Ihnen genannten anderen Ländern ist alles andere als zwangsläufig. Das hängt von der Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft der demokratischen Parteien ab und von denjenigen, die in diesem Land Verantwortung tragen.

Insbesondere im Osten Deutschlands sind die Zustimmungswerte teilweise noch deutlich höher. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Das fällt mir schwer – ich bin ja nun wirklich ein Wessi und wenn ich etwas gelernt habe, dann, dass ich als solcher nicht so tun sollte, als wäre ich Experte zu Fragen über Ostdeutschland. Bei ziemlich vielen Fragen stellen wir inzwischen fest, dass die Einstellungen der Westdeutschen und Ostdeutschen auseinanderdriften. Wenn man dagegen allein auf Kennziffern schaut, wie beispielsweise auf die Arbeitslosigkeit etc., dann gibt es nicht mehr die ganz großen Unterschiede. Und auch ansonsten haben sich die Lebensbedingungen im Osten in den letzten 33 Jahren sicherlich massiv verbessert. Gleichwohl ist die Stimmung dort offenkundig eine andere. Sicher spielen dabei die Erfahrungen seit der Einheit eine Rolle, aber so richtig erklären kann ich mir diese wachsende Distanz nicht.

Offenbar wird es immer salonfähiger, die AfD zu wählen.

Ja, ein Unterstützen der AfD verliert leider langsam den Status, anrüchig zu sein. Und in Thüringen ist das besonders besorgniserregend, weil man es dort mit der rechtsextremen Höcke-AfD zu tun hat.

Mich wundert diese „Normalisierung“ nicht, denn auch Politiker*innen anderer Parteien klingen zunehmend ganz ähnlich, der Sound wird rechter. Markus Söder ist da nur ein Beispiel. Ich sehe überall zunehmenden Populismus. Sie auch?

In der Tat neigen sowohl Markus Söder als auch Friedrich Merz mitunter zu populistischen Äußerungen. Da kann man aber nur dringend warnen. Es ist eine alte Erfahrung: Wer die Themen von politischen Gegnern stark macht, sollte nicht glauben, davon etwas zu haben. Am Ende wählen die Leute das Original.

Aus den Reihen der Ampel höre ich inzwischen gelegentlich auch recht absurde Einlassungen. Zum Beispiel von Seiten der FDP …

Vielleicht ist das aber gar nicht unbedingt Populismus. Ich habe nichts gegen lebhafte Diskussionen innerhalb einer Koalition, zumal wenn die Koalitionäre aus sehr unterschiedlichen Richtungen kommen. Und in einer Dreier-Koalition sind Einigungen deutlich schwieriger als in einer Zweier-Koalition. Differenzen müssen aber doch nicht in epischer Breite auf offener Bühne austragen werden. Das verunsichert viele Menschen und beschädigt das Vertrauen in die Politik.

Ich habe immer meine Probleme mit der Aussage, dass man die Sorgen und Ängste „der Menschen“ ernst nehmen müsse. Viele dieser Ängste sind irrational oder bewusst geschürt. Wie kann eine Berücksichtigung solcher Gefühle dann Ausgangspunkt für vernünftige politische Entscheidungen sein?

Man muss schon darauf schauen, was die Menschen umtreibt, die vor einem sitzen. Bürgerinnen und Bürger müssen den berechtigten Eindruck haben, dass sich die Politik um ‚ihre‘ Probleme kümmert. Es gibt oft keine einfachen Lösungen und auch das muss dann erklärt werden. Überhaupt muss viel und geduldig begründet werden, gerade bei umstrittenen Themen. Das Heizungsgesetz zum Beispiel soll dem Klimaschutz dienen und ist erst einmal kein Beispiel für einen übergriffigen Staat.

Beim Thema Heizung gab es ja eine regelrechte Kampagne, der Heizungs-Hammer, befördert durch die BILD, Populismus pur.

Ja, das stimmt, aber da sind in der Kommunikation auch vorher viele Fehler gemacht worden. Statt Medienschelte zu betreiben, würde ich mir eher die Frage stellen, wie es passieren konnte, dass ein so wichtiges Thema angegangen wurde, ohne diejenigen zu beteiligen, die die Umsetzung sicherstellen müssen, wie etwa Wärmepumpen-Hersteller oder Handwerksbetriebe. Das hat die Diskussion von Anfang an belastet.

Wenn ich jemanden treffe, der kompletten Unsinn erzählt, faktisch falsch, dazu vielleicht noch rassistisch und/oder sexistisch, dann sage ich dem, dass ich nicht mit ihm diskutieren kann, weil seine Basis verquer ist. Trotzdem mit solchen Menschen zu sprechen, zu diskutieren, halte ich inzwischen für ziemlich nutzlos. Man gibt den meist nur gefühlten Wahrheiten so womöglich nur mehr Gewicht …

Ich wäre da sehr vorsichtig, denn es ist ausgesprochen fragwürdig, jemandem zu sagen, dass er oder sie falsch fühlt. Etwas was Sie oder ich nicht als Problem wahrnehmen, kann von anderen sehr wohl als problematisch empfunden werden. Ich mache ja seit vielen Jahren öffentliche Bürgerversammlungen und habe gelernt, dass es wichtig ist, mit der Antwort da anzusetzen, wo die Fragestellenden sich befinden. Von da aus kann es dann argumentativ weitergehen. Das ist aber wesentlich erfolgreicher, wenn die Menschen zunächst den Eindruck haben, dass ich verstanden habe, um was es ihnen geht.

Gleichwohl haben Sie mir mal gesagt, im Zuge der Diskussionen um die Corona-Impfungen, dass wir sprechen und diskutieren können, wenn wir uns grundsätzlich einig sind, dass Corona eine lebensbedrohliche Krankheit ist. Sonst gäbe es keine Basis.

Ja, aber dennoch gebe ich mir überall dort, wo es nicht um plumpe Schuldzuweisungen oder Beschimpfungen geht, Mühe, auf die Leute einzugehen. Wenn sie aus meiner Sicht falsch liegen, versuche ich, ihnen das auf eine vernünftige Art und Weise zu vermitteln.

Wenn jemand sagt, es gibt den Klimawandel nicht und falls doch, ist er jedenfalls nicht menschengemacht …

Da kann man dann in der Tat nicht mehr vernünftig diskutieren, der Klimawandel ist Realität, die Erkenntnisse der Wissenschaft lassen gar keinen anderen Schluss mehr zu.

Und trotzdem bekommen solche Klimawandel-Leugner immer wieder eine Bühne. Neulich saßen bei Markus Lanz der Klimaforscher Prof. Mojib Latif und Steffen Kotré, energiepolitischer Sprecher der AfD-Fraktion, nebeneinander. Und Steffen Kotré hat wirklich hanebüchenen Unsinn erzählt, völlig unhaltbares, dummes Zeug. Aber er hatte dort seinen Auftritt und wird einige Menschen erreicht haben. Muss man solchen Leuten diese Bühne geben?

Muss man nicht, kann man aber, das gehört zur Pressefreiheit dazu. Und vielleicht kann man aus solchen Talkshows Anregungen mitnehmen für vergleichbare Diskussionen im eigenen Umfeld.

Auf der anderen Seite haben wir dann das Problem der False Balance. Es scheint so, als säßen dort Gesprächspartner mit ähnlicher Expertise nebeneinander. Und das erzeugt völlig falsche Bilder und Eindrücke.

Ich habe auch schon öffentlich mit Leuten diskutiert, die aus meiner Sicht komplett auf dem falschen Dampfer waren. Dennoch hatte ich auch dann ziemlich oft den Eindruck, mich mit meinen Argumenten am Ende durchgesetzt zu haben. Aber solche Settings liegen in der Verantwortung der Medienmacher*innen. Und wäre es eine Alternative, bestimmte Themen und bestimmte Menschen gar nicht mehr zuzulassen? Würde man dann nicht gerade den Vorwurf dieser Leute bestätigen, ausgegrenzt zu werden? Menschen mit extremen, inakzeptablen Vorstellungen inszenieren sich ja gerne als politisch Geächtete, deren Meinung nicht gehört wird. Ich glaube, es ist besser, zu versuchen, diese Leute argumentativ zu stellen. Das ist gelegentlich anstrengend, aber das ist unsere Aufgabe.

Interview: Lars Kompa

 

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Ein letztes Wort im Mai

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Ein letztes Wort im Mai


Ein letztes Wort

mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

 

Herr Weil, heute sprechen wir für die Mai-Ausgabe. Was machen Sie am 1. Mai?
Ich bin auf einer DGB-Veranstaltung.

Es ist der Tag der Arbeit. Vielleicht erläutern Sie mir mal kurz, warum dieser Feiertag noch zeitgemäß und vielleicht auch wichtig ist.
Wir leben unverändert in einer Arbeitsgesellschaft. Die meisten Menschen in Deutschland und auch weltweit sind abhängig Beschäftigte. Und Menschen in abhängiger Beschäftigung müssen sich zusammentun, um ihre Rechte durchzusetzen. Das klappt in Deutschland noch relativ gut, aber auch bei uns geht die Tarifbindung immer weiter zurück. In anderen Ländern gibt es allerdings noch sehr viel mehr zu tun für die Arbeitnehmerrechte als bei uns. Der internationale Tag der Arbeit ist also wichtig, um uns daran zu erinnern, was bereits erreicht wurde und was noch erreicht werden muss. Ich finde diesen Tag aber noch aus einem anderen Grund wichtig. Ich glaube, dass Arbeit ein ganz entscheidender Faktor für ein glückliches Leben ist. Davon bin ich fest überzeugt. Wer einer Arbeit nachgeht, die zufrieden macht und unter guten Bedingungen stattfindet, hat ein vergleichsweise besseres Leben, als jemand der keine Arbeit hat oder eine unbefriedigende Arbeit, die dennoch kaum zum Leben reicht. Der Tag der Arbeit ist für mich also auch wichtig, um uns an den Wert von guter Arbeit zu erinnern.

Am 1. Mai ist immer viel von Solidarität die Rede. Den Begriff können Sie mir als aufrechter Sozialdemokrat bestimmt wunderbar erklären …
(Lacht) Man hält zusammen, man steht zusammen, man unterstützt sich gegenseitig, man braucht sich gegenseitig. Übrigens ebenfalls eine unabdingbare Voraussetzung für ein zufriedenes Leben. Ich habe diesen Gedanken, dass jeder und jede sich selbst der und die Nächste sein sollte, noch nie so richtig verstanden. Nach dem Motto: wenn alle an sich denken, ist an alle gedacht. Für unsere Gesellschaft ist das kein guter Weg. Gleichwohl scheint es bei uns einen Trend in diese Richtung zu geben. Und das sollten wir im Auge behalten. Es kann einem nur gutgehen, wenn es den anderen auch gut geht.

Solidarität als Kitt für eine gut funktionierende Gesellschaft?
Unbedingt! Gemeinschaft ist wichtig. Und auf die Gefahr hin, dass ich hier Phrasen dresche: Geld allein macht tatsächlich nicht glücklich. Was uns wirklich glücklich macht, das sind Freundschaften, Beziehungen, Austausch, Zusammenarbeit und Begegnungen. Und dies auch bei der Arbeit. Darum bin ich beim Thema Homeoffice vorsichtig. Natürlich erhöht mobiles Arbeiten die Flexibilität der Beschäftigten und kann Vorteile für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bringen. Aber für das kollegiale Miteinander und den inhaltlichen Austausch ist die gemeinsame Arbeit an einem gemeinsamen Arbeitsort unverzichtbar.

Den Begriff der Work-Life-Balance sehe ich deswegen durchaus kritisch. Im Grunde wird durch diese Unterscheidung zwischen Arbeit und Leben signalisiert, dass ein größerer Teil der Lebenszeit offenbar nicht als Teil des Lebens empfunden wird. Das kann doch nicht unser Ernst sein! Ich habe zum Glück immer Arbeit gehabt, die ich als Teil meines Lebens empfunden habe und die für mich auch eine Erfüllung war. Und ich denke, dass es eigentlich darum gehen sollte, so eine Aufgabe zu suchen und zu finden. Im Trend scheint derzeit eher der Wunsch zu sein, möglichst wenig in diesem System eingebunden zu sein und möglichst viel Zeit zur freien Verfügung zu haben. Ich bin nicht überzeugt, dass das alle Menschen gleichermaßen glücklich macht. Und ich fürchte, so funktioniert es unterm Strich auch insgesamt nicht mit unserer Wirtschaft.

Die Forderung nach einem starken Sozialstaat und einer leistungsfähigen öffentlichen Daseinsvorsorge unterschreiben Sie trotzdem ohne Wenn und Aber, richtig?
Ja, natürlich. Es gibt diesen alten Satz aus der Geschichte der Arbeiterbewegung: Nur die Starken können sich einen schwachen Staat leisten. Natürlich kann ein Millionär für fast alle Risiken vorsorgen. Mit einem kleinen, überschaubaren Einkommen kann man das definitiv nicht. Ich halte es für eine große Qualität, dass unser Sozialstaat für so etwas Vorsorge trägt.

In den vergangenen Wochen wurde in Deutschland ja viel über die diversen Streiks diskutiert. Die Gewerkschaften sahen sich der Kritik ausgesetzt, die Gesellschaft in Geiselhaft zu nehmen und Deutschland lahmzulegen. Was sagen Sie diesen kritischen Stimmen?
Streiks sind selbstverständlich absolut notwendig, wenn man im Konfliktfall Einfluss auf Arbeitsbedingungen nehmen will. Schon wieder so ein alter, wahrer Satz: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Da sind wir wieder bei der Solidarität. Typischerweise sind ja die Kräfteverhältnisse so, dass der Arbeitgeber, meist ein Unternehmen, eine größere Macht hat als der oder die einzelne Beschäftigte. Das ändert sich nur durch den Schulterschluss. Ein wirklich historisches Erfolgsrezept.

Ganz davon abgesehen gibt es in Deutschland vergleichsweise wenig Streiks, gerade im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, wie z. B. Frankreich. Das liegt insbesondere auch an der in Deutschland etablierten und erfolgreichen Sozialpartnerschaft. Es gibt natürlich Konflikte zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, aber diese werden meist sehr dialogorientiert gelöst. Ich verstehe natürlich trotzdem, dass für Eltern der Streik in Kitas ein echtes Problem ist, aber ich würde daraus trotzdem nicht die Schlussfolgerung ziehen wollen, dass man über die Berechtigung von Streiks nachdenken sollte. Das würde ich für komplett falsch halten.

Kritische Stimmen zu den Streiks gab es im Bund auch vom Ampelpartner FDP.
Streik ist in Deutschland ein Grundrecht und im Grundgesetz verankert – und dies zurecht. Die Tarifverhandlungen sind Sache der Sozialpartner. Tariferhöhungen einzufordern, gerade vor dem Hintergrund einer hohen Inflation, ist die Aufgabe der Gewerkschaften. Und dies im Zweifel eben auch mit dem legitimen Instrument des Streiks. Würden sie sich anders verhalten, würden sie ihren Job verfehlen.

Wie sieht es denn bei den Gewerkschaften aus, was die Mitgliedszahlen angeht? Das war ja die vergangenen Jahre eher rückläufig …
Das ist bei den einzelnen Gewerkschaften sehr unterschiedlich. Gerade im öffentlichen Dienst und auch im Industriesektor führen Tarifkonflikte aber nicht selten zu einem Mitgliederzuwachs. Hier sind wir auch wieder beim Thema Solidarität. Die Beschäftigten haben in der Vergangenheit im Zweifel immer mehr erreicht, wenn sie sich in Gewerkschaften zusammengetan habe.

Ein massives Problem ist die Tarifflucht, oder?
Ja, das sehe ich mit großer Sorge. Die Zahl der Arbeitsplätze, die tarifgebunden sind, geht stetig zurück. Immer mehr Unternehmen verabschieden sich – in Niedersachsen sind es nur noch knapp über 50 Prozent und damit sind wir in Deutschland sogar über dem Durchschnitt. Wozu das führen kann, das sehen wir beispielsweise in der Altenpflege. Da haben wir traditionell einen ganz schlechten Organisationsgrad. Und es verwundert darum nicht, wenn Arbeitsbedingungen dort problematisch ausfallen. Fest steht, dass sich die Menschen eher keinen Gefallen tun, wenn sie einen Bogen um die Gewerkschaften machen.

Bei den großen, internationalen Unternehmen, die auch in Deutschland Standorte haben, gibt es die Tendenz, die Rechte der Arbeitnehmer*innen nicht ganz so sehr in den Fokus zu stellen, um es mal charmant auszudrücken. Betriebsräte haben es in solchen Unternehmen schwer. Sie waren neulich nicht bei Amazon zu Besuch …
Amazon hatte den Termin kurzfristig ohne Presseöffentlichkeit und Beteiligung des Betriebsrats geplant. Daraufhin habe ich meinen Besuch abgesagt. Es gibt mittlerweile aber eine erneute Einladung von Amazon, der ich demnächst gerne folge, um dann vor Ort unter anderem auch über die Situation der Betriebsräte zu sprechen.

Es gibt bei vielen, gerade auch bei sehr großen Unternehmen diesen Geist, dass Betriebsräte nur stören. Und dann wird ziemlich massiv dagegen gearbeitet.
Ja, das sogenannte Union Busting. Das ist ein Problem. Wir hatten in Deutschland mal eine Tarifbindung von über 70 Prozent. Dabei sind starke Gewerkschaften und Betriebsräte nicht allein ein Vorteil für die Mitglieder, sie sind auch insgesamt für die Gesellschaft sinnvoll, zumindest wenn es mit der Sozialpartnerschaft so läuft wie in Deutschland. Gerade in den Krisen haben auch die Unternehmen nämlich festgestellt, dass die Gewerkschaften eine große Hilfe waren. Beispielsweise während der Weltfinanzkrise 2008/2009. Damals haben die Gewerkschaften alles dafür getan, dass sowohl die Beschäftigten als auch die Betriebe gut durch die Krise kommen. Denn es gibt ja auch ein übergeordnetes gemeinsames Interesse: sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer möchten, dass es dem jeweiligen Unternehmen gut geht.

Interview: Lars Kompa

 

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