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Reicht das, Deutschland? (Titel 2024-02)

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Reicht das, Deutschland? (Titel 2024-02)


Ein Zwischenruf

Ja, das war ein gutes Gefühl, mit all diesen Menschen auf der Straße zu sein, gegen Rechtsextremismus, für eine offene Demokratie, versammelt hinter diesem einen gemeinsamen Gedanken: Nie wieder! Es war schön, sich zuzunicken, zu wissen, dass da noch andere sind, dass da viele sind. Ausgelöst hatte die bundesweiten Demonstrationen ein Treffen von Rechtsextremisten in Potsdam. Martin Sellner, ehemaliger Sprecher der Identitären Bewegung Österreich, hat dort seinen „Masterplan zur Remigration“ vorgestellt, anwesend waren unter anderem Mitglieder von AfD, CDU, Werteunion und der Identitären Bewegung. Und anwesend war glücklicherweise auch das Redaktionsnetzwerk Correctiv. Was nach deren Enthüllungen über dieses Treffen folgte, war eine breite Welle der Empörung in ganz Deutschland. In Hannover versammelten sich nach einer ersten Demonstration in Linden noch einmal rund 35.000 Menschen auf dem Opernplatz. Und das war ein gutes Signal! Aber schon auf dem Rückweg kommen mir Zweifel. Reicht das? Wird das etwas ändern in den Köpfen derjenigen, die demnächst ihr Kreuz bei der AfD machen wollen? In Thüringen und Sachsen wird am 1. September ein neuer Landtag gewählt, am 22. September folgt Brandenburg. Wahlen, die sehr viel verändern können in Deutschland, denn die AfD droht in den drei Ländern mit Abstand stärkste Kraft zu werden, sie liegt stabil bei 30 Prozent und drüber. Manche hoffen, dass die neue Wagenknecht-Partei der AfD einige Stimmen abnehmen könnte, vielleicht wird auch die Werteunion ein paar AfD-Stimmen abgreifen – aber ernsthaft, würde das irgendetwas besser machen? Wir werden im Osten Deutschlands ganz sicher einen deutlichen Rechtsruck erleben, so oder so. Es müssten schon einige Wunder passieren, um das noch abzuwenden. Und auch die Demonstrationen – und es dürfen gerne noch viele sein – werden daran kaum etwas ändern. Also nein, es reicht nicht. Aber was muss denn passieren? Eine Menge!

Ich möchte diesen Text ganz bewusst sehr persönlich und offen schreiben, ich möchte subjektiv unter anderem auch über meine Stimmung und meine Ängste, meine Gefühle nachdenken. Ich glaube, es ist höchste Zeit, sich für unsere Demokratie, unsere Werte, unsere Freiheit ganz weit aus dem Fenster zu lehnen, auch wenn das Widerspruch und Kritik provoziert, vielleicht sogar gefährlich ist, weil manche Rechte längst radikalisiert sind. Ich bin überzeugt, dass Offenheit ein Weg ist, wir müssen wieder miteinander ins direkte Gespräch kommen (allerdings klammere ich hier bewusst ein paar Menschen aus, dazu später mehr), wir müssen diskutieren, wir müssen uns wieder kümmern, um unsere Gesellschaft, unsere Demokratie, um die Frage, wie wir miteinander leben wollen.

Ich hatte nur eine Stunde auf dem Opernplatz, dann ging es zurück ins Büro und wie gesagt, ich habe schon unterwegs gezweifelt. Vielleicht lag es daran, was ich links und rechts so gehört habe. „Was wollen die Parteien hier? Die von der SPD? Die von der CDU? Und die anderen? Die haben es doch versaut. Und jetzt kapern sie unseren Protest.“ Jemand fragt bei der Rede von Yasmin Fahimi, ob diese Demo vielleicht doch eher eine Werbeveranstaltung der Gewerkschaften sei. Ich höre im Vorbeigehen, wie jemand über Landesbischof Ralf Meister lästert. „Was zum Teufel hat denn die Kirche hier zu suchen? Auch das noch.“

Ich finde die Stimmung auf dem Opernplatz seltsam. Da ist einerseits diese düstere, ernste Entschlossenheit, ein deutliches Zeichen zu setzen. Es wird nicht so viel gelacht wie auf anderen Demos. Die Sache ist zu ernst. Von Weimar ist viel die Rede. Kann das wieder passieren? Kann es noch einmal so einen Bruch mit der Zivilisation in Deutschland geben? Wenn man hört und liest, was Martin Sellner absondert und auf welchen fruchtbaren Boden seine Ideen bei Teilen der Bevölkerung in Deutschland treffen, dann muss man leider konstatieren, dass wir uns unserer Demokratie eben nicht sicher sein können. Also Farbe bekennen gegen die AfD, gegen Nazis, da sind sich auf dem Opernplatz alle einig.

Doch die Stimmung ist trotzdem ambivalent. Man hat sich versammelt, um gegen etwas zu sein. Ich bin mir sicher, würde man die versammelten Menschen mal fragen, wofür sie sind, würden die Antworten sehr unterschiedlich ausfallen. Für Demokratie sein, das ist leicht gesagt. Aber wie ist man denn eigentlich für Demokratie? Wie stärkt man die Demokratie? Indem man in eine Partei eintritt? Da winken viele sofort ab. „In welche denn?“ „Das ist doch alles eine Suppe.“ „Das bringt doch nichts.“ Indem man wenigstens zur Wahl geht? Den Glauben daran, dass die eigene Stimme etwas verändern kann, haben viele Menschen in Deutschland inzwischen ebenfalls verloren. Was mir in vielen Gesprächen immer wieder begegnet, ist Ratlosigkeit und Hoffnungslosigkeit, sogar Verzweiflung und Resignation. Sind darum so viele Menschen auf der Straße? Weil sie sich endlich mal wieder ganz eindeutig positionieren können, gegen rechts? Endlich wieder Schwarz und Weiß? Vielleicht. Und es wäre nachvollziehbar, denn es ist ein gutes Gefühl, mit so vielen Menschen gemeinsam auf der richtigen Seite zu stehen. „Fuck AfD!“ Abends in den Talkshows hört man dann schon wieder andere Töne. Man könne nicht alle, die AfD wählen, über einen Kamm scheren. Nicht alle seien rechts. Man müsse die Sorgen und Ängste ernst nehmen. Man kann diesen Menschen nicht sagen, dass ihre Gefühle falsch sind. So die Einlassungen der Politiker*innen quer durch alle Parteien. Ich bin nicht dieser Meinung. Ich glaube, man muss den Menschen, die rechts wählen, immer wieder sagen, dass ihre Gefühle falsch sind. Und ich finde, es ist ein Desaster, dass sich genau das Politik nicht mehr traut.

Mir scheint, dass unsere Demokratie momentan von zwei Seiten unter Druck gerät. Wir sehen in den vergangenen Jahren deutliche Veränderungen in der Politik. Und wir sehen, dass sich auch die Menschen in Deutschland in den vergangenen Jahren und vielleicht sogar schon Jahrzehnten verändert haben.

Zunächst zur Politik. Und ich warne schon mal vor, wer sich meinen kleinen Abgesang auf die politische Kultur lieber ersparen möchte, der sollte die nächsten Zeilen überspringen. Aus meiner Sicht kränkelt die Politik bereits seit Jahren und nicht erst seit der Ampel. Und ich lasse hier jetzt mal die üblichen Bedenken zu Lobbyismus und Co. beiseite und komme gleich zum Kern meiner Kritik. Die Politik ist zur bloßen Show verkommen. Die Bühne ist Berlin und die Bühne sind vor allem die Talkshows. Hier werden Wahlen gewonnen oder verloren. Wer sich gut verkaufen kann, wer gut „herunterbrechen“ kann, wer gut „zuspitzen“ kann, der punktet und bekommt Applaus. Das zumindest scheinen viele Politiker*innen verinnerlicht zu haben. Momentan erleben wir neben der ohnehin polarisierenden AfD eine CDU, die in Sachen Zuspitzung alles gibt, da wird ein Jens Spahn gerne mal zum Brandbeschleuniger, der darf nach den leicht schrägen „Zuspitzungen“ von Friedrich Merz jetzt öfter mal ran, während Carsten Linnemann mit einer neuen, alten Leitkultur jongliert. Genüsslich wird die Ampel aufs Korn genommen, ganz egal, welchen Schaden man für die gesamte Politik anrichtet. Während die Ampel tatsächlich ein desaströses Bild abgibt, obwohl man ihr zugutehalten muss, dass sie vom Start weg mit Krisen und immer mehr Krisen umgehen musste. Die Regierung scheint getrieben, da ist eigentlich niemand mehr, der sich mal ein bisschen aus dem Theaterbetrieb ausklinkt und sich auf die wichtigen Themen besinnt. Wir haben einen zögernden und zaudernden Kanzler, der nicht kommunizieren kann, und eine SPD, die an diesem Kanzler leidet, wir haben eine FDP, die Deutschland mit gestrigen, neoliberalen Brettern vorm Kopf in Geiselhaft nimmt, wir haben die Grünen, die zutiefst verunsichert sind, weil sie derart viel Ablehnung und Hass auf sich ziehen, wir haben neuerdings eine rechtslinke Sahra Wagenknecht, die mit ein bisschen inhaltsleerem Wünsch-Dir-Was punkten möchte, wir bekommen auch noch eine Werteunion und, ach ja, wir haben eine Linke, die noch immer keine Waffen an die Ukraine liefern will und Diplomatie fordert.

Tja, und was soll man da jetzt wählen? In welche Partei soll man eintreten? Man blickt auf diesen politischen Betrieb und trifft alte Bekannte: Die Ratlosigkeit, die Hoffnungslosigkeit, die Verzweiflung und die Resignation. Bei mir regt sich dazu in letzter Zeit noch ein anderes Gefühl: Die Wut. Denn in einer Sache scheinen sich die Parteien einig zu sein. Man muss die Stimmungen im Land aufnehmen. Und dann das eigene Fähnchen entsprechend in den Wind hängen. Die einzige Partei, die darauf noch weitgehend verzichtet, sind die Grünen. Die nun von den Bauern mit der Mistgabel durchs Dorf getrieben werden. Sie sind inzwischen der Sündenbock der Nation, während sich die anderen einen schlanken Fuß gemacht haben. Die Menschen wollen weniger Einwanderung, sagen die Umfragen. Scheißegal, ob es dafür rationale Gründe gibt, dann bekommen sie halt weniger Einwanderung. Die Menschen wollen, dass mehr abgeschoben wird? Scheißegal, dass das ein absolut bedeutungsloses Randthema ist. Das hat Symbolkraft, also lässt man sich für den Spiegel-Titel fotografieren mit dem schönen Zitat: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“ Super, Olaf. Damit hast du der AfD ja mal so richtig den Wind aus den Segeln genommen. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man über dieses ganze Theater fast lachen. Über den „Doppelwumms“ und „You’ll never walk alone“ oder über das „neue Deutschland-Tempo“. Was würde wohl Helmut Schmidt dazu sagen? Es ist traurig, denn wir haben in Deutschland viele, sehr viele ungelöste Probleme. Wohnungsbau, Bildung, Integration, Sicherheit, Krankenversorgung, Bürokratie, Pflege, Digitalisierung, Infrastruktur, Klimaschutz, Artenschutz – und nebenbei geht die Schere zwischen arm und reich auch bei uns immer weiter auseinander.

Ich verstehe nicht, warum nicht nur gefühlt so wenig passiert. Sitzen unsere Politiker*innen vielleicht zu viel in den diversen Talkshows und zu wenig mit Fachleuten an großen, runden Tischen? Warum gibt es keinen Doppelwumms für die Bildung, warum kommt nicht wenigstens demnächst ein Tempolimit, warum orientiert man sich bei der Bildung nicht an jenen Ländern, die sich bei der Pisa-Studie regelmäßig ganz oben finden? Und warum geraten die „Lösungen“ regelmäßig zu bürokratischen Monstern? Wir ersticken in Deutschland an unserer Bürokratie. Sie nimmt vor allem den kleinen und mittelständischen Unternehmen die Luft zum Atmen. Und sie vertreibt verlässlich die Lust, selbstständig zu sein. Für mich war eine Geschichte während der vergangenen Wochen ganz bezeichnend für die seltsame Misere, in der wir feststecken. Christian Lindner hat den Landwirten quasi als Ausgleich für die auslaufenden Subventionen Bürokratieabbau angeboten. Warum, verdammt noch mal, wird nicht schon seit Jahren an diesem Bürokratieabbau gearbeitet? Was ist das für eine schräge Logik? Ratlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Resignation.

Was die Politik erledigen müsste, liegt für mich eigentlich auf der Hand. Alle demokratischen Parteien könnten sich zunächst mal dazu verabreden, keine Talkshows mehr zu besuchen. Und dann wird gearbeitet. Wegen mir in Hinterzimmern. Ohne großes Trara. Und ohne mit einem Auge ständig auf irgendwelche Umfragen zu schielen. Oder hat man als Politiker*in heutzutage keine eigene Agenda mehr, keinen eigenen Kompass? Gibt es keine Überzeugungen mehr?

Dazu habe ich noch eine Idee. Wie wäre es, wenn alle Politiker*innen gemeinsam eine selbstverpflichtende Erklärung unterschreiben, in der sie versichern, niemals wissentlich die Unwahrheit zu sagen, auf Zuspitzungen und Populismus zu verzichten, nicht wissentlich Ängste zu schüren, sich ausschließlich faktenbasiert zu äußern, ihre Bezüge sowie ihre Kontakte zu Lobbyisten vollständig offenzulegen usw. Man kann diese Liste bestimmt noch um einige Punkte erweitern. Und wer nicht unterschreibt oder diese Regeln bricht, der ist raus. Ich vermute, wir hätten eine ganz andere Demokratie. Okay, das ist natürlich alles nur ein frommer Wunsch. Was soll beispielsweise die CDU machen, wenn sie nicht mehr polemisch zuspitzen darf? Sie müsste dann mit eigenen Ideen punkten. Schwierig. Dann lieber galoppierender Populismus, dann lieber dem Volk aufs Maul schauen und fordern, was sich „die Menschen“ wünschen.

Was sich „die Menschen“ vielleicht wirklich wünschen, aber was jedenfalls ich mir wünsche, das sind hochgekrempelte Ärmel und klare Kante. Führung heißt, Überzeugungen haben und für diese Überzeugungen einstehen. Ich möchte viel weniger Söder und viel mehr Pistorius. Schluss mit der Blenderei, macht einfach euren Job!

So, und jetzt noch schnell zu uns Wählenden. Was ich in den letzten Jahren immer wieder gehört habe und was bis heute gebetsmühlenartig wiederholt wird, wenn es um jene Leute geht, die AfD wählen, ist die Meinung, dass man deren Sorgen und Ängste ernst nehmen müsse. Tut mir leid, ich finde das falsch. Wenn ich jemanden treffe, der mir erzählt, dass die Erde eine Scheibe ist, von der man herunterfallen kann, und dass er darum keine langen Reisen unternimmt, weil er große Angst hat, dann nehme ich die Angst dieses Menschen nicht ernst. Die Angst hat keine Grundlage. Es fehlt die Basis für eine ernsthafte Diskussion. Und mit Menschen, bei denen die Basis fehlt, muss ich nicht weiter diskutieren. Ich muss zum Beispiel nicht mit Nazis über Rassismus diskutieren. Das kann ich mir sparen. Ich kann einfach sagen, dass diese Leute für mich nicht alle Latten am Zaun haben mit ihrer Angst vor dem Fremden. Was für jämmerliche, erbärmliche Gestalten! Und ich habe auch keine Lust mehr, mit Menschen zu diskutieren, die die AfD wählen. Aus meiner Sicht haben diese Leute ihren Verstand gegen Hass und Hetze oder was auch immer getauscht. Man wählt keine rechten Parteien. Punkt. Ich erzähle manchmal spaßeshalber, dass es für mich bei den Menschen nur zwei Kategorien gibt: die Arschlöcher und die anderen. AfD-Wähler*innen gehören für mich zur ersten Kategorie. Und mit der zweiten Kategorie möchte ich gerne konstruktiv mehr ins Gespräch kommen, mit dieser zweiten Kategorie sollten wir unsere Gesellschaft gestalten.

Es ist ja richtig, unsere Demokratie krankt an all dem, was ich oben beschrieben habe, das ganze Theater ist teilweise kaum auszuhalten. Aber das ist trotzdem noch lange kein Grund, rechts zu wählen. Besinnt euch! Lest Bücher. Plappert nicht jeden Scheiß aus dem Netz nach. Bemüht euren eigenen Verstand, auch wenn der vielleicht ein bisschen eingerostet ist. Fragt euch, ob und warum ihr neidisch seid. Warum ihr Menschen hasst, die euch irgendwie fremd scheinen. Warum es euch so gut gefällt, Schuldige zu entdecken. Fragt euch, wer euch eure Ängste eintrichtert. Warum ihr ausflippt, wenn jemand gendert. Warum ihr ausflippt, wenn jemand bei euch in der Kantine einen vegetarischen Tag einführen will. Fragt euch, warum ihr bereit seid, ein Land untergehen zu lassen, für billiges Gas. Was ist bloß mit euch los?

Wenn ich mir unsere Gesellschaft ansehe, dann machen mir die Demonstrationen zwar Hoffnung. Aber ich sehe auch viele Menschen, die sehr bewusst nicht auf die Straße gehen. Und sich lieber im Netz darüber informieren, wie wohl die Bilder und Videos von den vielen Demonstrierenden gefälscht worden sind. Ich mache mir Sorgen. Denn ein ganzes Stück weit stecken wir schon mittendrin im „Masterplan zur Remigration“ von Martin Sellner. In Teilen Deutschlands ist es für Menschen, die „nicht deutsch genug“ aussehen, inzwischen brandgefährlich. Die Menschen laufen dort ganz von allein weg. Wir sind momentan dabei, uns als Einwanderungsland immer unattraktiver zu machen. Wenn wir nicht endlich wieder einen anderen Sound hinbekommen, quer durch alle Parteien, dann geht der Schuss irgendwann fürchterlich nach hinten los. Wir müssen endlich begreifen, dass Einwanderung kein Problem, sondern eine Chance ist, ein Teil der Lösung. Es wäre gut, wenn sich zumindest die demokratischen Parteien Deutschlands an diesem Punkt besinnen und nicht mehr der AfD das Wort reden. Früher in der Schule gab es immer den einen großmäuligen Spinner von der letzten Bank. Der hatte bei uns aus guten Gründen keine Lobby, eher im Gegenteil. Also, lasst bitte nicht die Idioten von der letzten Bank ans Ruder. Ihr dürft alle gerne rechts fahren, aber rechts wählen, das solltet ihr euch sparen.

LAK

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60 Jahre jung… das Neue Theater

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60 Jahre jung… das Neue Theater


Es gibt Erfolgsgeschichten, die beginnen nicht mit klugen Businessplänen und Marktanalysen, die sind nicht von langer Hand geplant, die haben ihren Ursprung einfach in einer eher spontanen Entscheidung aus dem Bauch heraus. Dann begegnen sich zwei und schmieden Pläne, man verliebt sich in eine Idee, erkennt eine Gelegenheit, greift zu – und legt den Grundstein für Hannovers ältestes Privattheater, das sich bis heute über insgesamt annähernd zwei Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer freuen durfte. Allein in den vergangenen zehn Jahren waren es rund 370.000 …

Im Oktober 1961 traf James von Berlepsch in einer Kneipe den Betreiber des „Ateliertheaters“ in der Bahnhofstraße, Heinz Könnecke, der im November in der Mehlstraße das „Kleine Theater“ eröffnen wollte. James von Berlepsch war damals 26 und (ein sehr guter) Schauspieler, aber ohne Engagement. Ihm fehlte in Hannover einfach die passende Bühne, die seinen Vorstellungen von Theater entsprach. Und da hatten sich zwei gefunden. Nach durchzechter Nacht hatte von Berlepsch die männliche Hauptrolle im Stück „Die respektvolle Dirne“. Leider machte das Bauamt den beiden einen Strich durch die Rechnung. Im neuen „Kleinen Theater“ fehlte eine Feuerleiter als Notausgang und die Premiere fiel aus. Nicht aber die Premierenfeier im Treppenhaus mit den geladenen Gästen und kalten Platten …

In der Folge kam es dann jedoch zum Streit zwischen Heinz Könnecke und dem Vermieter Warneke. Könnecke stieg aus – und James von Berlepsch hatte seine Hauptrolle, aber kein Theater mehr. Zumindest für eine kurze Weile. Denn der Vermieter hatte reichlich in die Räume investiert und wollte das Projekt nicht einfach sterben lassen und James von Berlepsch war natürlich weiter Feuer und Flamme. Also machte Warneke ihn kurzerhand zum neuen Theaterleiter, gegen 25 Prozent Umsatzmiete. Und so gab es sie dann doch noch, die Premiere im „Kleinen Theater“, ein paar Monate später, am 16. Mai 1962, mit James von Berlepsch auf der Bühne, einem ausverkauften Haus und guten Kritiken. Dieser 16. Mai war die Geburtsstunde eines neuen Boulevardtheaters in Hannover und auch für das Team des Neuen Theaters ist dieser Tag in der Mehlstraße bis heute der eigentliche Startpunkt. James von Berlepsch hatte hier „seine“ Bühne, hier konnte er seine Ideen von Unterhaltung und Humor umsetzen – er hatte sich sozusagen seine eigenen Bretter erschaffen. Und das lief gut. So gut, dass Begehrlichkeiten geweckt wurden …

Da hat damals nach einer Weile jemand gedacht, dass man mit so einem Theater Geld verdienen könnte“, sagt Christopher von Berlepsch, ältester Sohn von James von Berlepsch und bis heute Geschäftsführer, und schmunzelt, denn er weiß nur zu gut aus eigener Erfahrung, dass dem ganz und gar nicht so ist, dass ganz viel Herzblut dazugehört und immer auch ein gute Portion Selbstausbeutung. Damals hatte Warneke die Idee, das Theater zu vergrößern – und sich für die Räume in der Georgstraße 54 interessiert, die ehemals das Bankhaus Basse beherbergten. Doch es krachte in der Folge gewaltig zwischen ihm und James von Berlepsch. Warneke wollte im neuen Haus einen neuen Theaterleiter einsetzen, was James von Berlepsch natürlich gar nicht gefiel. Er trickste Warneke aus und unterschrieb selbst den Mietvertrag – was selbstverständlich Rechtsstreitigkeiten nach sich zog. Das „Kleine Theater“ sollte nicht weiter „Kleines Theater“ heißen. Von Berlepsch verlor diesen Rechtsstreit und musste sein Theater umbenennen. Kein Beinbruch. Ein Neustart in größeren, neuen Räumen, der Name lag auf der Hand, das „Neue Theater“ war geboren. Am 1. Mai 1964 eröffnete es mit „Arsen und Spitzenhäubchen“.

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten war James von Berlepsch ganz in seinem Element, er stand selbst auf der Bühne, führte Regie und leitete das Theater, er brannte für sein Haus. Und es lief ganz gut, aber eben auch mit schwächeren Phasen, wenn Stücke nicht wie gedacht funktionierten. Große Sprünge hat das Theater nie machen können. Berlepsch agierte immer ein bisschen Spitz auf Knopf. Und machte das Neue Theater über die Jahre und letztlich über vier Jahrzehnte dennoch zu einer echten Institution in Hannover, mit einem treuen Stammpublikum. Nur zu gerne hätte er seine Leidenschaft an seine beiden Söhne weitergegeben, doch wie es manchmal so ist, seine Söhne hatten eigene Pläne, Christopher von Berlepsch fühlte sich wohl in der Immobilienbranche und Roderick hatte in der Gastronomie seine Passion gefunden – sein „Zauberlehrling“ in der Südstadt wird vielen in Hannover noch in bester Erinnerung sein. Gesucht wurde also ein Kandidat für ziemlich große künstlerische Fußspuren: Zeit für den Auftritt Florian Battermanns.

Wenn Florian Battermann von seinem Einstieg beim Neuen Theater erzählt, kann man sich die Szenarien ganz wunderbar ausmalen. Fast eine Komödie … Die erste Verbindung gab es bereits 1990, Battermann war damals in der elften Klasse eines Gymnasiums. Und bekam mit, dass dem Neuen Theater die Subventionen gestrichen wurden. Er hatte zu jenem Zeitpunkt noch nie ein Stück im „Neuen Theater“ besucht (nach Ansicht seiner Eltern waren die Vorstellungen um 20.30 Uhr zu spät), aber dass man ausgerechnet dem kleinsten Privattheater in Hannover mit rund 150 Plätzen die Subventionen strich, erschien im trotzdem als große Ungerechtigkeit. Und so sammelte er an seiner Schule in Letter fleißig Unterschriften gegen die Streichung, über 700, denn sie mussten natürlich alle unterschreiben. Und diese Unterschriften schickte er dem Oberbürgermeister und dem Kulturdezernenten. Das war der erste Berührungspunkt.

Und ein paar Jahre später nahm Battermann den Faden wieder auf. Er begann zu studieren, Germanistik und Geschichte, lernte eine Schauspielerin kennen und die sagte, wenn er Unterhaltungstheater machen wolle, solle er doch mal eine Regieassistenz bei „dem Berlepsch“ machen. Das klang für Battermann spannend und er erkundigte sich bei der Schauspielerin nach den Voraussetzungen. Der fielen keine ein, was Florian Battermann perfekt fand – und so erkundigte er sich mit einem ersten Anruf nach einer möglichen Assistenz. Und stieß auf Granit, die Prokuristin am Telefon hatte keine Zeit. Er solle später wieder anrufen, sagte sie – was Battermann eifrig erledigte, jeden Monat aufs Neue. Bis es nach fünf Monaten dann passte: „Ja, jetzt suchen wir jemanden, dann kommen Sie halt, in Gottes Namen …“

So kam Florian Battermann zum Vorstellungsgespräch mit James von Berlepsch, der ihn nach seiner Zeit fragte, die Battermann nicht an diesem Tag und auch an keinem anderen hatte, weil er ja eigentlich studierte, war er natürlich nicht sagte. Klar, er hatte Zeit. Und so verfrachtete ihn von Berlepsch gleich mal auf seinen Schreibtischstuhl und sagte: „Schreiben Sie einen Text zum neuen Stück!“ Weg war James von Berlepsch. Während Florian Battermann am Chefschreibtisch saß und schrieb und jene Dame, mit der er zuvor monatelang hartnäckig telefoniert hatte, ihm seinen Tee brachte. Florian Battermann fühlte sich wohl – und blieb, mit kurzen Unterbrechungen bis heute.
Am 13. August 2008 ist James von Berlepsch gestorben. Bereits 2007 hatte Christopher von Berlepsch die Geschäftsführung übernommen und Florian Battermann hatte 2008 weitgehend die künstlerische Leitung inne. 2008 hat auch Mirja Schröder im Bereich Marketing angefangen, seit 2014 leitet sie nun den Betrieb in der Georgstraße. 2008 war also ein ganz zentrales, entscheidendes Jahr für das Neue Theater. Entscheidend auch, weil das Theater zu jenem Zeitpunkt in einer tiefen Krise steckte. Die Stücke fanden nicht mehr ausreichend Publikum, die Auslastung lag um 30 Prozent, der gesamte Betrieb stand auf der Kippe. Veränderungen waren dringend notwendig, allen war klar, dass es frischere Stücke brauchte für ein Publikum Richtung Ü-40 und nicht mehr so sehr Richtung Ü-60. Zudem hatte es nie ein richtiges Marketing gegeben.

Kurz vor dem Tod von James von Berlepsch hatte dann „Ladies Night“ im Neuen Theater Premiere, ein Stück, dass James von Berlepsch in früheren Zeiten wohl niemals zugelassen hätte, dem er nun aber sehr einsichtig und ganz ausdrücklich seinen Segen gab, angesichts der prekären Lage. Und mit dem Erfolg dieses Stücks schlug das Pendel in Richtung „weitermachen“. „Es ist manchmal gar nicht so schlecht, sich ein bisschen wohlwollend zu verrechnen“, sagt Christopher von Berlepsch heute zu dieser Entscheidung.

Über die Jahre schaffte man es dann mit vereinten Kräften, die Finanzen als nicht subventioniertes Theater zu konsolidieren, bis heute finanziert sich das Theater zu 90 Prozent aus den Einnahmen an der Kasse. Sehr wichtig ist dazu die Unterstützung durch den 1974 gegründeten Verein der Förderer des Neuen Theaters.

Landeier – oder Bauern suchen Frauen

Ein echter Schlag ins Kontor war dann natürlich die Pandemie. Kurz zuvor, 2020, hatte das Team das große Ziel erreicht, der letzte Kredit war abgetragen, das dicke Minus aus dem Jahr 2008 erledigt. Das Theater hatte sich seit 2008 kontinuierlich mit einem guten Mix aus neuen Stücken und bewährten Evergreens weiterentwickelt, es ist vom Boulevardtheater zu einem Unterhaltungstheater im besten Sinne geworden. Immer wieder hat man auch mit dem Engagement bekannter Namen überrascht, so standen bereits Stefan Bockelmann, Manon Straché, Andreas Elsholz, Michaela Schaffrath, Tanja Schumann oder Gisa Zach auf der Bühne. Und zwischendurch gab es echte Publikumsmagneten. „Landeier oder Bauern suchen Frauen“ sowie „Der Mustergatte“ sind mit über 90 Prozent Auslastung gelaufen. Und dann plötzlich Corona und verschlossene Türen. Ein Schock. 16 Monate Schließzeit, 500 ausgefallene Vorstellungen.

Zum Glück gab es ein paar Rücklagen und die Corona-Hilfen, sonst hätte Hannovers ältestes Privattheater die Pandemie wohl nicht überlegt. Auch die Flucht nach vorn, beziehungsweise in diesem Fall nach draußen, hat ihren Teil zur Rettung beigetragen. 2021 spielte das Neue Theater auf einem ehemaligen Tennisplatz beim VFL Eintracht Hannover. Sehr viel Herzblut, sehr viel Energie war nötig, denn die bürokratischen Hürden waren immens. In diesem Jahr wird es das Sommer-Theater leider nicht geben, die Kosten sind – auch eine Folge des Krieges in der Ukraine – insgesamt um ein Vielfaches gestiegen, der Spielbetrieb würde sich bei den aktuellen Voraussetzungen schlicht nicht rechnen.

So konzentriert sich das Team um Christopher von Berlepsch, Mirja Schröder und Florian Battermann nun ganz auf die kommende Spielzeit. Aktuell und bis zum 28. August läuft nach zehn Jahren noch einmal das Erfolgsstück „Landeier oder Bauern suchen Frauen“, fast in Originalbesetzung. Bis zur eigentlichen Spielzeiteröffnung am 22. September ist dann „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ zu sehen. Und im Anschluss startet das Neue Theater in die nächste Saison mit „Camping forever“, eine Komödie von Frederik Holtkamp mit Tanja Schumann in der Hauptrolle. Ab dem 24. November geht es weiter mit „Oma wird verkauft“ von Anton Hamik, ein Spin-off der Erfolgskomödie „Opa wird verkauft“. Und ab dem 9. Februar sorgt mal wieder Manon Straché in „Ich hasse dich, heirate mich“ für Lachtränen. Die Komödie von Florian Battermann ist bereits sehr erfolgreich in seiner „Komödie am Altstadtmarkt“ gelaufen. Das letzte Stück der Spielzeit ist dann schließlich „Auf Herz und Niere“ von Stefan Vögel. Dazu ergänzen natürlich zwischendurch immer wieder die etablierten Gastspiele das Programm, unter anderem die Spezial-Abende zu Heinz Erhardt mit Jörn Brede und „Die Frank Sinatra-Story“ mit Christoph Schobesberger. Auch Jan Matheis wird wieder als Bauchredner auf der Bühne stehen. Ganz viel gute Unterhaltung in Zeiten, in denen alle gemeinsam ein paar positive Erlebnisse zwischendurch gut gebrauchen können.
Wir drücken beide Daumen für die nächsten 60 Jahre!

Lars Kompa
Fotos: O. Vosshage
www.neuestheater-hannover.de

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Über Öffentlichkeit – ein Gespräch mit Bettina Wulff

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Über Öffentlichkeit – ein Gespräch mit Bettina Wulff


Bettina Wulff

Bettina Wulff muss man wahrscheinlich nicht groß vorstellen … Ein Satz, den man mal schnell so hinschreibt. Aber stimmt das eigentlich? Sie war an der Seite von Christian Wulff zuerst „die Neue“ des Ministerpräsidenten und später die First Lady im Schloss Bellevue, bis Christian Wulff zurückgetreten ist, sie war über Jahre ein „Lieblingsthema“ der Medienwelt, man hat sie geliebt und gehasst, man hat sie gelobt und beleidigt, bewundert und diffamiert. Man hat ihr Arroganz unterstellt, man fand sie berechnend, kaltherzig. Man hat ihr immer wieder neue Stempel verpasst, sie in immer neue Schubladen gesteckt. Aber wer ist Bettina Wulff? Was haben all die Geschichten, all die „News“ eigentlich mit der echten Bettina Wulff zu tun? Es lag nahe, mit ihr „über Öffentlichkeit“ zu sprechen, denn Bettina Wulff war eine ganze Weile, ob nun gewollt oder ungewollt, ein sehr öffentlicher Mensch. Wie begegnen wir uns eigentlich in diesen Zeiten eines medialen Lautsprechers namens Internet, wie fair und wahrhaftig ist das alles und was kann diese Öffentlichkeitsmaschine anrichten? Wie gehen wir miteinander um, wie gehen wir mit Prominenten, mit „öffentlichen Menschen“ um …?

Frau Wulff, ich weiß ganz viel über Sie, aber ich habe den Verdacht, ich weiß im Grunde gar nichts. Wir fangen also am besten ganz vorne an. Sie haben als Kind öfter auf der Bühne gestanden, sozusagen in der Öffentlichkeit …

Tatsächlich habe ich zum ersten Mal mit dem Kinderchor auf der Bühne gestanden, mit den Fleutjepiepern in Großburgwedel. Ich war schätzungsweise neun Jahre alt, habe Sopran gesungen und war tierisch aufgeregt. Aber ich fand das auch irgendwie ganz großartig. Ich habe als Kind sehr viel Musik gemacht, als Mädchen intensiv Blockflöte gespielt. Da gab es dann alle zwei Wochen freitags in der Musikschule ein Vorspielen für die Eltern – und wer sich sonst noch quälen lassen wollte. Und es war ganz ähnlich, war immer fürchterlich aufgeregt, aber letztlich fand ich es auch immer ganz toll. Ich durfte zeigen, was ich konnte. Und ich habe früh gelernt, dass man eher gemocht wird, wenn man etwas Gutes abliefert.

Gab es in Ihrer Familie so ein Leistungsprinzip?

Niemals ausgesprochen, aber das gab es schon. Ich muss dazu sagen, dass ich eine sehr schöne Kindheit hatte, ich habe damals nicht darunter gelitten, auf der Bühne zu stehen, es gab keinen Druck in dem Sinne. Aber ich habe schon gemerkt, dass für ein gutes Funktionieren eher gelobt wurde. Das war sicherlich Ansporn, in der Musik und im Sport leistungsorientiert unterwegs zu sein. Beim Sport war mein Vater immer Vorbild. Er war ein sehr guter Fußballer bei 96 und ist damals in der A-Jugend Deutscher Meister geworden. Letztlich hat er dann aber mit dem Leistungssport aufgehört, das fand ich als Kind sehr schade.


In der Schule waren Sie wahrscheinlich Klassensprecherin?

Ja, Schulsprecherin auch. Man könnte auf der anderen Seite jetzt natürlich sagen, sie haben eine Doofe gesucht und mich gefunden (lacht). Für mich war Gerechtigkeit schon immer ein Thema, und wenn ich das Gefühl hatte, dass jemand ungerecht behandelt wurde, im Miteinander, aber auch bei den Noten, dann habe ich mich eingesetzt. Und mir an der Tür zum Lehrerzimmer den einen oder anderen Schlagabtausch geliefert. Ich wurde dann auch regelmäßig losgeschickt, um Dinge anzusprechen und zu klären. Das war wahrscheinlich ziemlich nervig für die Lehrer*innen. Aber es gab glücklicherweise auch welche, die fanden das gut. Und diese zwei oder drei Lehrer*innen waren auch genau die, die mich gefördert haben. Ich war von der siebten bis zur zehnten Klasse auf einer Realschule, vorher zwei Jahre auf der Orientierungsstufe, die gab es damals noch. Das Gymnasium bei uns hat dann nicht so recht gepasst zu meinem „Auftritt“ in der Orientierungsstufe und für den Besuch eines Gymnasiums in Hannover fanden mich meine Eltern noch zu jung und zu klein, also bin ich auf die Realschule gegangen – und hatte dort wirklich großartige Jahre mit ein paar großartigen Lehrern, die mich gefördert und gepuscht haben, eine Deutschlehrerin, ein Mathelehrer. Mir hat die Realschule sehr viel Freiheit verschafft, der Druck war nicht so groß, ich hatte viel Freizeit und ich konnte anderen Dingen nachgehen, die mir damals sonst noch wichtig waren.


Was war wichtig?

Ganz viel Sport, Basketball. Und dazu die Musik. Ich habe immer in Chören gesungen, im Kinderchor, im Schulchor. Und ich habe mich eine lange Zeit tatsächlich voll aufs Blockflöte spielen konzentriert als klassisches Instrument. Parallel leistungsorientiert Basketball. Das gab natürlich Gezerre. Der Basketballtrainer wollte, dass ich noch ein paar Trainingseinheiten mehr mache und dafür die Blockflöte an die Seite lege, meine Blockflötenlehrerin wollte, dass ich mit diesem Sport aufhöre. Wegen der Gefahr, der dauernd angeschwollenen Finger. Das gab es natürlich öfter. Sie wollten immer, dass ich mich entscheide. Aber ich wollte immer beides machen, mir war beides wichtig und ich wollte nicht das eine gegen das andere eintauschen. Beides hat sich dann erst im Studium schlagartig erledigt. Ich habe Medienmanagement, angewandte Kommunikationswissenschaften in Hannover studiert, und das war so verschult und darum so zeitintensiv, dass sowohl für Basketball als auch für Musik kein Platz mehr war. Darum habe ich leider aufhören müssen. Sehr schade.

Bleiben wir noch kurz auf der Realschule. Schülersprecherin, Chor, Auftritte – haben Sie gerne im Mittelpunkt gestanden?

Es hat mir Spaß gemacht, mich für etwas einzusetzen und mir etwas zu erarbeiten. Obwohl ich immer unglaublich aufgeregt war vor Auftritten oder auch großen Basketballturnieren, weil dort zum Beispiel für die Auswahlmannschaft gesichtet wurde. Das hat mir vorher schlaflose Nächte bereitet, ich hatte immer extremes Lampenfieber. Aber ich habe es dann auch immer sehr genossen. Als Schülersprecherin war das ein bisschen anders, da war das Bedürfnis mein Antrieb, mich für andere einzusetzen. Das ist bis heute so, Ungerechtigkeiten rühren etwas ganz Essenzielles in mir an. Ich kann das gar nicht so genau fassen, aber das zieht sich schon durch die ganzen Jahre bis heute und ist jetzt ja auch Teil meines Jobs. Wenn Ungerechtigkeiten in meiner Nähe passieren und ich die Möglichkeit habe, Einfluss zu nehmen, dann muss ich das einfach machen. Dann geht es gar nicht darum, dass ich mich entscheide, ob ich helfe. Ich muss einfach.


Das bedeutet auch, dass man sich einmischen muss, dass man unbequem ist und aneckt.

Ja, und das ist natürlich manchmal anstrengend für alle anderen. „Jetzt die schon wieder!“ Es gab so manche, die das unerträglich fanden, die meinten, ich würde mich immer in den Vordergrund spielen und hätte dabei Hintergedanken, eigene Interessen. Ich habe wohl schon immer ein bisschen polarisiert.


Ihnen wurde Eitelkeit unterstellt …

Das lag schon allein an der Körperlänge, dadurch bin ich aufgefallen, ob ich wollte oder nicht. Ich war immer einen Kopf größer als die anderen Kinder. Und das war auch anstrengend. Im Kindergarten hieß es zum Beispiel immer: guck mal nach den anderen, sing mal vor, räum mal auf – aber ich war auch erst vier.


Machen wir einen kleinen Zeitsprung, von der Realschule ging es dann in Hannover aufs Gymnasium.

Auf die Leibnizschule in der Röntgenstraße. Ich hatte davor großen Respekt. Aber das war klug angelegt, es gab so eine Extraklasse für Kinder aus anderen Schulen und wir hatten dann in den Hauptfächern eine Doppelstunde mehr. Das hat super funktioniert.


Wie waren dann die beruflichen Pläne?

Ich wollte eigentlich Theologie studieren und Pastorin werden. Der Wunsch hatte sich bei mir mit der Zeit irgendwie entwickelt. Aber ich habe mich letztlich nicht getraut. Mir wurde von allen Seiten suggeriert, dass das keine gute Idee sei. Ich würde in die sichere Arbeitslosigkeit studieren, es gäbe viel zu wenig Gemeinden und viel zu viele Theologen, und dann hätte man in irgendeinem Dorf eine halbe Stelle. Ich habe damals zwar gedacht, dass genau das mein Ding wäre, Dorfpastorin. Man kümmert sich um die Menschen, um deren Belange, man besucht sie zu Hause. Und sonntags hält man eine gute Predigt und erzählt den Leuten auch mal ein bisschen was anderes. Aber ich habe mich einschüchtern lassen, auch von den Ansprüchen des Studiums. Ich habe in der Schule Französisch gehabt. Latinum, Gräkum, Hebraicum – das wäre natürlich eine Herausforderung gewesen. Mein Vater hat nicht Fußballprofi werden dürfen, ich durfte nicht Pastorin werden. Ich hätte es natürlich versuchen können, aber dazu war ich damals nicht selbstbewusst genug. Und dazu gab es ja auch diesen Sicherheitsgedanken.


Man studiert etwas mit Perspektive …

Genau. Gutes Einkommen, sicherer Job, bloß keine Experimente. Und ich ertappe mich, dass ich aktuell aufpassen muss, meine Kinder nicht in irgendwelche Schablonen pressen zu wollen. Das gelingt mir manchmal gar nicht so gut. Denen wachsen jetzt ja auch Flügel. Dieser Sicherheitsgedanke ist schon fest in mir angelegt, das ist so eine Prägung. Das sitzt sehr tief.


Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund …

Ja, Nicole. Oder etwas moderner: Lieber Wolke vier mit Dir, als unten wieder ganz allein. Aber ich denke, man muss und soll sich trauen, soll Dinge ausprobieren, mit offenem Ausgang.


Was damals aber noch nicht die Regel war.

Wir hatten nach dem Abitur schon unfassbar viele Möglichkeiten. Man konnte darüber fast verzweifeln. Aber natürlich ging das alles in eine bestimmte Richtung. Pastorin wäre etwas völlig anderes gewesen. Und dann ist man natürlich zu Hause in einer Kleinstadt. Da gibt es ja auch in gewissem Sinne eine Öffentlichkeit, die im Zweifel skeptisch beäugt und redet.


Kleinstadt ist ein bisschen wie Instagram, nur real, oder?

(Lacht). Ja, das trifft es ganz gut.


Und wenn man dann ausschert, es anders macht, hat man schnell seinen Ruf weg …

Ja, das passiert. Es hat viele Vorteile, in einer Kleinstadt zu leben. Aber eben auch ein paar Nachteile.


Sie haben dann in Hannover studiert.

Ja, ich habe mich damals in Hannover und Hildesheim beworben und habe dann am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung studiert. Das gab es damals erst im zweiten oder dritten Jahrgang, ein ganz kleiner Studiengang mit rund 30 Studierenden. Und ich war echt überrascht, dass man mich genommen hat, ich war ja kein Überflieger und hatte keinen Abischnitt 1,0. Das war bei den meisten anderen in dem Studiengang ganz anders. Aber man hat sich mit einer Bewerbungsmappe und in einem Bewerbungsgespräch vorgestellt und ich hatte Glück. Doch ich habe dann schnell gemerkt, dass es vielleicht doch kein so großes Glück war. Es gab einen sehr großen Leistungsdruck an diesem Institut, es ging um besser, höher, weiter, schneller. Das hat mir schwer zu schaffen gemacht, dieses Studium war für mich echt eine harte Zeit. Ich habe formal natürlich unglaublich viel gelernt und bin dafür im Nachhinein dankbar, aber diese Art des Umgangs miteinander, das war heftig. Und ich hatte mir meine Studienzeit ganz anders vorgestellt, viel freier. Man geht erstmal eine Runde feiern und guckt dann irgendwann morgens um zehn, was es so für Vorlesungen gibt. Das war überhaupt nicht so. Mein Studium ging von 8 bis 17 Uhr, mit vielen Hausarbeiten, großem Lerndruck, da ging es richtig zur Sache. Ich bin dann irgendwann ausgestiegen und habe gearbeitet. Zuerst und schon parallel zum Studium in einer kleinen Internetagentur in Hannover. Das war damals total aufregend, da ging es ja erst los mit dem Internet. Und ich habe Content produziert für Webseiten, das hat Spaß gemacht. Im Anschluss war ich kurz in München bei einer PR-Agentur. Und dann habe ich bei der Conti in der Unternehmenskommunikation angefangen. Ich habe dort die Pressearbeit für alles Mögliche gemacht, Standortpresse, auch für Produkte. Ich war zuständig für die Veranstaltungsorganisation und Standortkommunikation. Dazu gehörte auch, dass ich Reisen vorbereitet habe. Das war damals auch alles ein Balanceakt. Ich war ja alleinerziehend, ich habe mit 29 Jahren Leander bekommen und ich und sein Vater haben uns schon nach einem Jahr getrennt. Ich habe extrem viel gearbeitet und hatte den Kleinen mit mir. Das war ein stark durchgetaktetes Leben. Und dann war ich doch mal bei einer Reise dabei. Und auch der Ministerpräsident.


Sie haben ihn auf einer Reise kennengelernt.

Ja, und ich habe zuerst gar nicht realisiert, was da passiert ist. Christian hat mir seine Visitenkarte gegeben, er fand ein Waisenhausprojekt in Südafrika der Continental spannend, das wir ihm vorgestellt haben. Und ich habe gedacht: beeindruckend, der kümmert sich noch ganz persönlich. Bis irgendwann meine damals beste Freundin am Telefon fragte, ob ich das eigentlich gar nicht merken würde. Das war keine verstandesorientierte Entscheidung, es war einfach Herz und Bauch. Ich hatte mich verliebt – in den katholischen, verheirateten Ministerpräsidenten. Super! Und er hatte sich in mich verliebt. Bis wir das beide klar hatten, hat es dann aber noch eine ganze Weile gedauert.

Dann war es zuerst heimlich. Und irgendwann ging es in die Öffentlichkeit.

Zwangsläufig. Weil diese Heimlichkeit kein Zustand ist. Man hat auch keine Möglichkeit, sich wirklich in Ruhe weiter kennenzulernen. So ein Ministerpräsident hat einen unfassbaren Terminkalender. Und Christian hat seinen Job sehr gerne gemacht, er ist von früh morgens bis nachts durchs Land gefahren. Das war alles schwierig.


Wie hat sich das angefühlt, dieser Übergang? Man ist privat und steht plötzlich absolut in der Öffentlichkeit …

An dem Tag, an dem es bekannt wurde, bin ich ganz normal morgens zur Arbeit und auf dem Weg am Kiosk vorbeigekommen. Und da wurden gerade die Zeitungen in den Ständer gestellt. Titelseite: „Das ist seine Neue!“ Da ist mir erstmal schlecht geworden. Ich habe das gar nicht verstanden. Was hat das auf der Titelseite einer überregionalen Tageszeitung zu suchen, was ist daran interessant, warum ist das von öffentlichem Interesse? Es gibt doch wirklich wichtige Dinge. Total skurril und befremdlich. So richtig fassen kann ich das bis heute nicht.


Und dann ging es los und es gab sehr schnell auch Negatives.

Was ich zuerst gar nicht so sehr realisiert habe. Wo ich war, war es eigentlich immer relativ nett und ruhig. Geredet wurde, wenn ich weg war, wenn ich den Raum verlassen hatte. Ich habe dann nach und nach natürlich mitbekommen, was da so über mich geredet wurde. Leute, die mich selbst nie kennengelernt haben, erzählten irgendwas über mich. Da hat man dann so Ohnmachtsmomente. Und man denkt, das kann doch gar nicht sein. Die kennen mich gar nicht und erlauben sich ein Urteil. Ich hatte so etwas in dieser Kleinstadtöffentlichkeit natürlich auch schon erlebt, aber nicht in diesem Ausmaß. Das war etwas ganz anderes.

Gab es auch Wut?

Klar. Aber mehr dieses Gefühl von Ohnmacht. Man würde ja gerne jeden einzelnen vom Gegenteil überzeugen, was man natürlich nicht kann.

Aber es gab auch schöne Seiten …

Man kann an der Seite eines Ministerpräsidenten auch eigene Themen platzieren, man kann gestalten, vielleicht etwas Positives bewirken. Und das zu versuchen, hat mir sehr viel Spaß gemacht. Ich war natürlich viel mit ihm unterwegs auf Veranstaltungen, auch das hat mir Spaß gemacht. Ich habe viele, ganz unglaubliche Menschen kennengelernt. Und mich hat fasziniert, wie Politik funktioniert, ich war schon immer ein politisch interessierter Mensch.


Wenn ich heute sehe, wie junge Leute ihre Karrieren durchtakten, wie sie Auftritte planen, Öffentlichkeit trainieren, und ich sehe dann Sie, die sich verliebt und damit so reingeworfen wird ins kalte Wasser, dann ahne ich die Probleme. Gab es Hilfe? Berater?

Wir haben natürlich als Paar viel darüber geredet. Wie viel ich mir selbst eigentlich zumuten will. Ich habe ja weitergearbeitet und der Kleine war auch noch da. Es gab also immer die Frage, was ich mache und was ich besser auslasse. Es gab in Christians Umgebung dazu natürlich auch ganz vertraute Menschen, die mit uns geredet haben und auch bei der Terminplanung beraten haben.


Wenn man diese böse Nachrede erlebt, ist man dann enttäuscht? Meidet man irgendwann Menschen? Verändert sich die Sicht?

Es gab schon Momente, in denen ich aufpassen musste, dass ich nicht zur Zynikerin mutiere. Mal so einen zynischen Moment haben, das finde ich okay. Aber wenn das zur Grundstimmung wird … Ich habe schon irgendwann gemerkt, dass ich niemandem mehr so recht über den Weg getraut habe. Früher habe ich mir nie Gedanken gemacht, wenn ich neue Menschen kennengelernt habe, ich bin ein sehr offener und fröhlicher Mensch. Dieser Generalverdacht, der sich dann so bei mir breitgemacht hat, war mir völlig fremd. Wenn sich zum Beispiel jemand als Journalist vorgestellt hat, dem nicht automatisch misstrauisch zu begegnen.


Ich habe also schon verloren.

Es ist wieder besser geworden (lacht). Aber was ich damals an mir beobachtet habe, das hat mich schon ziemlich entsetzt. Weil diese Offenheit und Zugewandtheit für mich immer wichtig war. Das war im Kern so mein Lebensgefühl. Und das wollte ich mir nicht zerstören lassen. Das drohte aber, das war nicht leicht.


Wie ist es denn umgekehrt, wenn du auf Leute triffst. Recherchierst du vorher oder hinterher? Vertraust du den Medien?

Nein. Ich stelle sehr viel infrage, vor allem wenn es um eine Berichterstattung geht, die das Private und Persönliche ausleuchten will. Ich lese darum nichts mehr über Menschen. Ganz bewusst nicht. Ich gehe an den großen Zeitschriftenständern im Supermarkt vorbei. Vor allem am Boulevard, an der Klatschpresse. Ich weiß einfach, dass das meiste ohnehin falsch ist. Und es interessiert mich auch einfach nicht mehr. Ich möchte nicht, dass diese triefende Suppe mir noch einmal zu nahekommt. Das ist schon eine giftige Brühe.


Man wird sehr reduziert, zu einer Figur gemacht, die dann auch gehasst werden darf.

Genau das passiert. So eine Figur darf man ablehnen. Das wäre anders, wenn die Berichterstattung tiefer und fairer wäre. Ich unterstelle bei den meisten Menschen Menschlichkeit. Und bin mir sicher, dass solche hasserfüllten Reaktionen weitaus weniger wären, wenn klar ist, dass ich eine Familie habe, dass ich Kinder habe, die das im Zweifel alles mitbekommen, die diese bösen Gerüchte hören, wenn klar ist, dass ich einen Arbeitgeber habe und Arbeitskolleg*innen, die das mitbekommen. Wenn man sich das vorstellt und klarmacht, dann würde das mit dem Hass nicht funktionieren. Das unterstelle ich jetzt mal, in positiver Hoffnung. Dieser Hass funktioniert nur, wenn man abstrahiert.


Aber man kann sich wehren.

Wir habe eine sehr lange Zeit auf die ganzen schlimmen Dinge, die so kursierten, nicht reagiert. Aber es gab dann einen Moment, da habe ich gesagt, dass ich jetzt etwas tun muss. Für meine Familie, meine Kinder, auch für mich. Und dann habe ich mich ja unter anderem mit Google angelegt. Auch um zu zeigen, dass man etwas tun kann, dass man sich wehren muss und kann.


Da ging es um die Suchfunktion bei Google mit der automatischen Ergänzung „Prostituierte“ bei Ihrem Namen.

Genau. Google ist natürlich mit den hochdotiertesten Anwälten aufgelaufen, um den Algorithmus zu verteidigen. Das hat viel Kraft gekostet. Aber ich hatte auch sehr viel Zustimmung, sehr viel positives Feedback, beispielsweise von Politiker*innen und Schauspieler*innen. Dieser Kampf hat letztlich zweieinhalb Jahre gedauert. Aber es hat sich gelohnt.


Eine Form der Selbstermächtigung …

Ja. Ich bin jetzt ein Stück weit wieder Frau über meinen eigenen Namen.


Ein mutiger Schritt. Viele lassen es sich einfach gefallen.

Weil es immer auch ein Spagat ist. Was, wenn gerade das Engagement oder der nächste hochdotierte Job auf dem Spiel steht? Ich erinnere mich da an Anna Loos, eine großartige Sängerin und Schauspielerin, die damals so eine Shitstorm-Geschichte hatte und die das öffentlich gemacht hat. Sie hat genau darauf hingewiesen, auf das Problem, das Kranke daran, dass genau in dem Moment, wenn man sich öffentlich wehrt, die Gefahr besteht, dann man nur noch darauf reduziert wird. Dass dieser Kampf dann immer das erste ist, was mit ihr assoziiert wird. Und nicht, dass sie die großartige Sängerin von Silly ist oder eine wunderbare Schauspielerin. Sich zu wehren, dass kann sich durchaus sehr negativ auswirken auf die Karriere. Das ist das Fatale. Und das finde ich ganz unerträglich.


Ist man gehetzt von Anfang an, wenn man in der Öffentlichkeit steht?

Nein, das nicht. Das Leben geht ja ganz normal weiter. Aber es entwickelt sich tatsächlich so eine merkwürdige Parallelwelt. Die hatte dann damals mit dem Leben der echten Bettina Körner so rein gar nichts zu tun. Meine Kolleg*innen waren damals dieselben, ich habe denselben Weg zur Arbeit genommen, ich habe in meiner Freizeit dieselben Dinge getan. Zur Parallelwelt gehörte dann, dass ich an der Seite eines Politikers auftauchte, später „als Frau von“. Mit unserer echten Beziehung hatte das auch herzlich wenig zu tun.


Ist dieses „an der Seite eines Politikers“ wie ein Auftritt?

Das ist vergleichbar. Und ich habe das auch sehr klar voneinander abgekoppelt.


Aber diese Auftritte waren nicht nur schlecht, oder? Sie haben das auch genießen können …

Das war zuerst natürlich alles auch unfassbar spannend. Man macht alles Mögliche zum allerersten Mal. Und so viele spannende Menschen. Das ist plötzlich eine völlig andere Welt. Das war faszinierend. Und ganz unvorbereitet war ich durch mein Studium und mein Berufsleben ja auch nicht. Ich habe ganz gut einschätzen können, was bei diesen Menschen Inszenierung und Performance war und was real. Und es war sehr spannend zu sehen, wie diese Menschen sich geben und was passiert, wenn das Scheinwerferlicht angeht. Wenn die Tür aufgeht und das Theater sozusagen losgeht. Ich war manchmal recht glücklich darüber, dass ich nicht die Hauptdarstellerin war. Ich konnte mir das alles mehr von der Seitenlinie ansehen. Und zum Beispiel auch beobachten, wie der Mensch an meiner Seite von anderen wahrgenommen wird. Wie reagieren sie, wenn er den Raum betritt. Ich habe gelernt, was das Amt bewirkt.


Hat man an der Seite eines Ministerpräsidenten überhaupt mal Ruhe?

Zu Hause, wenn die Tür zu ist. Und ansonsten muss man einfach aufpassen, dass man sich nicht zu sehr verzettelt und nur noch von Termin zu Termin denkt. Man muss sich erinnern, dass es auch ein Familienleben gibt. Man muss sich bewusst Zeit nehmen.


Und sich als Chef eine Auszeit zu nehmen, ist schwer?

Das braucht viel Mut. Wenn beispielsweise jemand sagt, ich nehme mir den Mittwochnachmittag frei, dann wird eventuell Faulheit unterstellt. Oder man drückt sich vor Entscheidungen. Oder man ist dem Job nicht mehr gewachsen. Dabei kommt zu kurz, das ist so meine ganz persönliche Sicht, dass man Ruhe braucht, um zum Nachdenken zu kommen und damit auch zu richtigen Entscheidungen. Und es braucht auch Phasen, in denen man gar nicht denken muss. Man trifft ja in diesem Hamsterrad permanent Entscheidungen, man ist ununterbrochen gefordert, man ist auch auf Zuarbeit angewiesen, auf Entscheidungshilfen. Und weiß am Ende vielleicht gar nicht mehr, wie man das selbst alles findet. Ich glaube, davon können zumindest alle Spitzenpolitiker*innen ein Lied singen. Und ich denke, das ist ein Problem, die Eigendynamik, die mit diesen Positionen verbunden ist.


Man steckt selbst in dieser Rolle und begegnet Menschen, die ebenfalls eine Rolle spielen, die im Zweifel etwas wollen und sich entsprechend präsentieren. In 15-Mimuten-Terminen. Für echte Tiefe bleibt keine Zeit.

Das ist so. Sich unter solchen Umständen wirklich auf Menschen einzulassen, ist schwer. Und authentisch zu bleiben, ist ebenfalls schwer. Alle spielen eine Rolle.


Ich habe mir heute Morgen zum Beispiel überlegt, noch meinen Schreibtisch aufzuräumen, weil Sie kommen.

(Lacht) Wie ich sehe, haben Sie dann doch darauf verzichtet.


Ich wollte authentisch bleiben.

Das Chaos entspricht aber schon auch ein bisschen dem Klischee, oder?


Ist Ihnen das oft begegnet, dieses „vorher noch kurz durchwischen“.

Manchmal schon, aber die Menschen möchten dann natürlich auch nichts falsch machen und einem einen perfekten Empfang bereiten.


Haben Sie eigentlich aus dieser Zeit der Öffentlichkeit noch Freundschaften erhalten?

Man lernt sehr viele Menschen sehr oberflächlich kennen, tiefergehende Freundschaften zu knüpfen ist darum sehr schwer. Ich habe aus der ganzen Zeit vielleicht drei, vier Menschen, die wirklich auch zu Freundinnen und Freunden geworden sind und wo bis heute ein regelmäßiger Kontakt und Austausch besteht. Man darf aber auch nicht diese Erwartung haben, dass etwas bleibt, denn man ist ja in einer Rolle. Die Leute möchten primär die Frau des Bundespräsidenten kennenlernen und nicht Bettina Wulff. Man ist in so einer Position natürlich austauschbar. Und wenn der Vorhang sich irgendwann schließ, dann ist man uninteressant. Man kann in so einer Phase viel auf die Beine stellen, man hat wie gesagt Möglichkeiten, Dinge ein bisschen mit voranzutreiben. Besonders ehrenamtliches Engagement in unserer Gesellschaft zu zeigen und zu würdigen, war mir ein Anliegen Da hilft dann ein bisschen Öffentlichkeit. Aber man muss dabei klarhaben, dass es hunderttausende Menschen gibt, die tagtäglich um solche Projekte kämpfen und die niemand sieht. Man ist in einer herausragenden Rolle. Aber man muss sich immer bewusst sein: wenn die Zeit vorbei ist, ist auch das vorbei.

Sie haben vorhin kurz angesprochen, dass sie es befremdlich fanden, was so alles wichtig war in der Berichterstattung.

Sehr befremdlich. Wann hat man wie gelacht? Sah man müde aus? Hat man an der falschen Stelle gegähnt? Hat sie ein neues Tattoo? Wählt man bei den Kleidern dann nur noch Grau oder Hosenanzug? Weil man angeblich zu bunt daherkommt? Gibt man den Falschen recht, wenn man auf so etwas reagiert und tatsächlich etwas verändert? Ich wollte mich nicht verbiegen lassen.


Ich habe Interviews von Ihnen gesehen, da habe ich die Handbremse bemerkt, Sie haben etwas gesagt, dann bemerkt, dass man das Gesagte falsch interpretieren kann, und haben das dann mit ein paar Sätzen schnell wieder eingefangen. Das sehe ich bei sehr vielen Leuten, die in der Öffentlichkeit stehen. Verinnerlicht man diese Mechanismen, die Vorsicht?

Ja, da ist dann schon so im Hinterkopf. Man fragt sich, ob man etwas sagt, oder etwas besser für sich behält, man wägt sozusagen permanent ab. Wie viel möchte ich preisgeben? Und man erkennt auch, dass man eventuell anderen schaden kann. Das ist mir ein paar Mal passiert. Und natürlich wird man dann vorsichtiger. Glücklicherweise muss ich das nicht in der Familie und im Freundeskreis.


Über die Stränge schlagen darf man gar nicht, oder?

Das geht nur im geschützten Raum. Ich bin natürlich noch Bettina, ich tanze für mein Leben gerne. Ich war zum Beispiel mal mit meinem Bruder bei einem Fußballspiel von Hannover 96, bin extra aus Berlin angereist. Dann sind wir danach noch essen gewesen, es wurde später. Und irgendwann haben wir festgestellt, dass wir schon ewig in keiner Disco mehr waren. Also sind wir spontan ins Zaza. Und klar, man überlegt kurz. Bekommt das jemand mit? Aber die sind da ja alle viel jünger und haben andere Sorgen, da fällt man gar nicht auf. Also haben wir getanzt. Und in der Bild am Sonntag stand dann: Hier tanzt unsere First Lady ausgelassen … Wer ist der Mann an ihrer Seite? Klar, mein Bruder hatte ja keinen Zettel auf der Stirn. Da habe ich es mal laufen lassen und direkt die Retour bekommen. „Lass die Leute reden …“, haben Die Ärzte gesungen. Eine Weile habe ich gedacht, sie haben das Lied für mich geschrieben.


Dann gab es die Beziehungskrise und die wurde auch sehr in die Öffentlichkeit gezogen, das wirklich ganz Private.

Ja, das ist dann unfassbar anstrengend. Aber bei mir auch verbunden mit einer Erkenntnis: Man muss das trotzdem tun. Man darf das. Es ist erlaubt. Jedem Menschen ist das erlaubt. Man darf eine Beziehung beenden, man darf eine neue Beziehung anfangen, man darf auch eine alte Beziehung wieder neu aufnehmen. Und das darf man, auch wenn man Kinder hat. Und auch wenn man die Frau des Bundespräsidenten war. Man darf das. Und ich finde es ganz wichtig, das in die Öffentlichkeit zu tragen.


Das klingt sehr stark. Es gab aber auch sehr schwierige Zeiten, sehr dunkle Phasen, wo es fast gekippt ist.

Ja, die gab es. Ich bin nicht umsonst betrunken gegen einen Baum gefahren. Es gab Momente, da habe ich es fast nicht mehr ausgehalten. Dann hat man das Gefühl, dass einem alles entgleitet, dass man es nicht mehr zusammenhalten kann. Man hat die verschiedenen Lebensbereiche, ist Mutter, arbeitet, will allen Ansprüchen irgendwie gerecht werden, und hat eventuell auch noch völlig überzogene Ansprüche an sich selbst. Und man versucht, irgendwie den Druck rauszunehmen. Dieser Unfall war für mich ein total einschneidendes Erlebnis. Ich habe gemerkt, dass es so nicht geht. Dass mir mein Leben um die Ohren fliegt. Dass es existenziell wird. Man hat das Gefühl, dass man sich auflöst. Aber ich habe es dann doch irgendwie da durchgeschafft. Ich kann sehr viel aushalten, aber ich habe häufig die Dinge zu lange ausgehalten. Da bin ich heute gnädiger zu mir selbst. Mittlerweile sage ich früher nein. Und gestehe mir zu, dass ich ein Mensch bin.


Gehen Sie mit Jogginghose in den Garten?

In den Garten ja. Aber ich gehe nicht ungeschminkt aus dem Haus. Tatsächlich, weil ich keine Lust darauf habe, dass jemand schreibt, sie sieht krank, schlecht, müde aus. Das ist sozusagen mein Schutzwall.

Machen Sie sich Sorgen, wenn sie heute sehen, wie mit Menschen in den Medien umgesprungen wird? Wie inflationär im Netz gehasst wird?

Ja, das macht mir Sorgen. Sehr. Da werden unglaublich schnell Urteile gefällt. Wir müssen wieder lernen auszuhalten, dass Menschen unterschiedlich sind. Dieses Vielfältige macht doch unsere Gesellschaft überhaupt erst lebenswert. Man sollte andere so sein lassen können, wie sie sind. Das treibt mich wirklich um. Permanent gehen die Schubladen auf und zu. Ich versuche auch, mich da immer wieder selbst zu prüfen. Was ich außerdem zunehmend bemerke, ist so eine Ängstlichkeit. Viele in Deutschland haben Angst, dass Dinge sich verändern. Und diese Angst verwandelt sich dann in Hass. Aber nur durch Veränderung ist ja Bestand möglich. Ich hoffe, dass sich das wieder dreht. Auch was den Blick auf Politikerinnen und Politiker angeht. Wenn wir so weitermachen, dann wird die Konsequenz sein, dass das kein normaler Mensch mehr machen will, weil der Preis zu hoch ist. Und das wäre eine ganz schlechte Entwicklung.

Heute arbeiten Sie für Notruf Mirjam, ein Hilfsangebot für Schwangere und junge Mütter in schwierigen Lebenssituationen in Hannover. Wie kamen Sie zu dem Thema?

Den ersten Kontakt gab es über Pastor Heino Masemann, der mich für das Notruftelefon als Ehrenamtliche begeistert hat. Menschen in Not direkt und schnelle Unterstützung zu vermitteln, empfinde ich als sehr sinnstiftend. Teilweise begleiten wir die Frauen über Jahre und können ihre positive Entwicklung miterleben. Und der Bedarf an Unterstützung ist gleichbleibend hoch: Am Notruftelefon erreichen uns jährlich rund 600 Anrufe. Für mich der treibende Grund, für dieses Projekt zu arbeiten.

Interview: LAK

Photo: Julia Baumgart Photography

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