Miriam Wendschoff und Katharina Laage vom Büro für Eskapismus

Reality is over – enter the game. Im März 2019 gründete die Dramaturgin Miriam Wendschoff das Büro für Eskapismus und schuf mit der Bühnenbildnerin Katharina Laage und der Autorin Stefanie Schweizer das Format Fictional Reality Games: An der Schnittstelle von Theater, Escape Room und Schatzsuche werden die Spieler selbst zur Hauptfigur in einem analogen Game. Das Erleben einer interaktiven Geschichte steht dabei im Mittelpunkt; jedes Rätsel fördert neue Informationen zutage, die sich wie die Teile eines Puzzles nach und nach zu einer komplexen Story zusammenfügen. Während einer Spieldauer von rund 2,5 Stunden bekommen die Spielenden Hinweise auf ihre Smartphones gesendet. Die Games finden teils in aufwendig gestalteten Innenräumen, teils draußen im öffentlichen Raum statt, wo man den Spuren quer durch den Stadtteil Linden folgt. Auch das STADTKIND hat so erfolgreich wie begeistert die beiden ersten Games gemeistert und erfährt im Gespräch nun mehr über die Motivation, Inspiration und Zukunftsvisionen der zwei Immersivtheater-verliebten Eskapistinnen.

Miriam Wendschoff war zuletzt am Schauspielhaus Bochum tätig und zog für die „Büro-Gründung“ nach Hannover. Die Bühnenbildnerin Katharina, die nebenher unter anderem Bühnenbilder für die Staatsoper Hannover entwirft, war von Anfang an mit dabei. Als Texterin für die Story der Games nahmen sie Stefanie Schweizer unter Vertrag. Von der Idee bis zur ersten Spiel-Premiere dauerte es 1 ½ Jahre, jetzt haben sie innerhalb eines halben Jahres schon die zweite Episode eröffnet und rund 600 Spielern den Eskapismus vorgestellt. Miriam berichtet: „Wir haben beide in Hildesheim  den Master Inszenierung der Künste und der Medien studiert. Wir haben uns schon immer für andere Theaterformen als die klassischen interessiert – was auch unsere Schnittstelle zwischen Bühnenbildnerin und Dramaturgin ist –, wie man eigentlich mit Räumen eine Geschichte erzählen kann. Ohne SchauspielerInnen als zentrales Mittel. Das ist meine Leidenschaft, das immersive Theater: die Bühne verlassen, ungewöhnliche Orte bespielen und dabei neue Erzählstrategien finden. Das ist am Stadttheater eher weniger möglich, und diese Freiheit haben wir uns jetzt aufgebaut.“ Katharina ergänzt: „Was mich daran am meisten interessiert: Im Theater kann man ja nie diese Trennung aufheben zwischen Bühne und Zuschauerraum. Man erfindet also immer einen Raum, in dem sich nur Schauspieler bewegen, es gibt keine Begegnung zwischen Bühne und Zuschauer direkt. Die Schauspieler müssen ihre Raumerfahrung quasi an die Zuschauer übermitteln. Das ist dann aber nur die erzählte Welt, es bedeutet für das Publikum erstmal nichts. Dass Menschen diesen Raum körperlich erfahren, das ist nur in Installationen und im immersiven Theater möglich. Dass man einen Raum schaffen kann, der Erfahrungen auslöst bei den Menschen, die durch ihn durchgehen, das finde ich besonders spannend.“
Als Teilnehmerin der Games weiß ich, dass das klappt; man wird selbst Teil der Geschichte, kann sie mit beeinflussen. Man sitzt also nicht stumm im Theater und konsumiert – auch eine Herausforderung. „Die Teilnehmenden gehen mit total unterschiedlichen Erwartungen da rein. Manche erwarten Theater, andere haben eher Escape-Room-Hintergrund – und das ist auch das ,Komplizierte’ an diesem Format, weil es das noch nicht gibt und man schlicht nicht weiß, wie man sich verhalten ,muss’. Frank (Kontaktperson bei ,Dritter.Vierter.77“) sagt einem das ja auch nicht direkt. Die Gruppen finden das dann aber sehr schnell raus,“ meint Miriam. Katharina wirft als Bühnenbildnerin ein: „Ich hatte am Anfang die Befürchtung, dass vielleicht der Wecker, für den ich extra auf fünf Flohmärkten war, geklaut wird (lacht). Oder dass da Leute mitmachen, die das, was wir so liebevoll gestalten, nicht wertschätzen und kaputtmachen. Aber sowas ist bisher noch kein einziges mal passiert. Manche fragen im Nachhinein sogar, ob sie mit aufräumen sollen.“ Miriam fasst zusammen: „Das, was wir eigentlich erzeugen wollen, was aber wahsinnig schwierig ist, ist, dass man während des Spiels die Realität vergisst und diese fiktive Welt der Geschichte als Realität annimmt. Wenn die Spieler zum Beispiel Frank als Person wahrnehmen und ansprechen, geht das in die Richtung, was das Ideal des immersiven Theaters ist. Ich habe so ein bisschen die Hoffnung – oder fände es zumindest total schön –, wenn im Nachhinein die Geschichte sozusagen ,übrigbleibt’, also wenn man wieder an den Orten vorbeiläuft und sich diese mit der Geschichte verbinden.“
Auch diesen Wunsch kann ich direkt erfüllen, denn dass dieser Effekt eintritt, kann ich als Lindenerin absolut bestätigen, die nun nie wieder am Ihme-Zentrum vorbeigehen kann, ohne an Frank und seine verschwundene Silke zu denken und daran, wie wir herausgefunden haben, wo sich die beiden zum ersten Mal getroffen haben, was dann etwas später das Problem war, wer und was noch zum Problem wurde und was wir tun mussten, um nicht nur Silkes Aufenthaltsort zu ermitteln sondern auch mit ihr in Kontakt zu treten, was wiederum die Vorraussetzung für ganz andere Menschen schuf, ganz neue Probleme auf Grundlage des ersten Problems zu erschaffen oder auch zu lösen, wobei wir ihnen im zweiten Spiel entweder helfen oder aber auch sie daran hindern mussten…
Wer ein Fictional Reality Game spielen möchte, sollte sich nicht auf den puren Rätsellösungsmodus einstellen, sondern sich auf eine neue Spielerfahrung einlassen. Miriam betont: „Wir nutzen den Escape-Room-Begriff, damit die Spieler eine grobe Vorstellung haben. Aber wir wollen uns davon auch abgrenzen, vor allem dieses starre Regelwerk – die exakte Spieldauer, man muss sich befreien, der Zeitdruck, vorher bekommt man eine Einführung –, das sind alles Dinge, gegen die wir uns bewusst entschieden haben. Nein: Man kommt dahin und kriegt eine WhatsApp-Nachricht von Frank. Und dann ist man schon mitten in der Geschichte. Letztlich nimmt man auch selbst an dem Ausgang der Story teil, bei der zweiten Episode zumindest gibt es verschiedene Enden. Die Gruppen durchlaufen zwar alle die selben Eckpunkte, aber auf unterschiedliche Weisen: Man kann zum Beispiel viel über die Hintergrundgeschichte erfahren wenn man will und Fragen stellt, und auch inwiefern man selber weiterdenkt, ist von einem selbst abhängig. Manchmal werden die moralischen Entscheidungen von den Gruppen richtig heiß diskutiert.“
Ich werfe eine Vermutung ein und behaupte, die jüngeren Spieler seien bestimmt schon viel mehr in der virtuellen Realität drin und daher weitaus Gamification-affiner, weil mit dem Smartphone in der Hand zur Welt gekommen. Miriam widerspricht: „Man nutzt beim Spiel zwar ein Smartphone, aber eben nur WhatsApp. Die digitalen Elemente, die wir nutzen, sind so alltäglich, dass man die gar nicht mehr als Technik wahrnimmt. Wir wollen ein analoges Erlebnis schaffen, man soll schon interagieren mit der realen Welt.“ Katharina ergänzt: „Was wir noch ausbauen möchten, sind die technischen Effekte: Dass man irgendetwas macht und dadurch wird etwas ausgelöst, etwa ein Soundeffekt.“ Und Miriam nochmal ausführlicher: „Es geht immer um eine Form von Gamification, die Zuschauer werden also selber aktiv. Es geht immer darum, eine Geschichte zu vermitteln, und es hat immer mit Raum zu tun. Aber in welcher Form das passiert, das ist variabel. Da ist einmal das, was schön wäre, und dann gibt es die realen Begrenzungen des Möglichen. Welche Räume gibt es, wieviel Geld…“ – „… und von den Räumen, welche interessieren uns da?“ bemerkt Katharina – „Und welche Geschichte wollen und können wir erzählen? Die Form wirkt ja zurück auf den Inhalt. Was notwendig ist bei dem Format, ist eine Figur, die einen da durchleitet, zu der man eine gewisse Art Vertrauen hat, mit der man kommunizieren will. In einer früheren Version des zweiten Spiels hatten wir das nicht, die Figur war distanzierter, man wollte ihr nicht wirklich helfen – und sofort war man total lost.“ Katharina erinnert sich: „Da hat uns Steffi, unsere Autorin, total geholfen und hat aus den kruden Ideen, die wir hatten, den Plot gemacht und hat auch die Figuren ausgearbeitet.“
Miriam gibt zuletzt noch einen Ausblick, was das Büro für Eskapismus in nächster Zeit vorhat: „Schulklassen ab Stufe 10 können als Klassenausflug unser Spiel spielen. Dazu bieten wir einen passenden Workshop an. Die Geschichte aus den ersten zwei Episoden wird nicht konkret weitergeführt, der Inhalt des nächsten Spiels ist davon losgelöst. Und wir haben noch etwas; ein mobiles Rätselgame aus dem Koffer, eine Art kleiner Wirtschaftsthriller, das in einem Café platziert werden soll, wo es dann in ungefähr einer halben Stunde spontan spielbar ist. Da sind wir dran, einen passenden Ort zu suchen.“

Interview und Text: Anke Wittkopp

Online buchen kann man unter www.buero-fuer-eskapismus.de (ein „wirkliches“ Büro existiert nicht), auf die Mailbox sprechen unter Tel. 01638586653 oder eine Mail schreiben an buero@buero-fuer-eskapismus.de.

Bei „Dritter.Vierter.77“ ist die Frage: Was geschah am 03. April 1977? Frank, ein alter Mann, behauptet, dass an diesem Tag die Liebe seines Lebens spurlos verschwand. Doch nach 42 Jahren entdeckt er ein Foto, das nicht nur seine eigene Lebensgeschichte, sondern auch die Gesetze der Natur in Frage stellt. Gespielt wird outdoor in Linden, ca. 3 Stunden reine Spielzeit, Kosten 25/18 Euro p./P.

Bei „Siebter.Achter.49“ geht es darum, dass Mitte des Jahrhunderts die Erde unbewohnbar sein wird. Eine Gruppe von AktivistInnen ist bereit, die Grenzen des Vorstellbaren zu überschreiten, um unsere Erde zu retten. Wirst du dich dem Widerstand anschließen? Gespielt wird 90% indoor in Linden, ca. 1,5 Stunden reine Spielzeit, Kosten 25/18 Euro p./P.


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