Ein letztes Wort im April

Herr Weil, können Sie mir die Lockerungsstrategie erklären, trotz steigender Zahlen – oder jedenfalls nicht deutlich sinkender Zahlen?

Wir haben derzeit eine sehr widersprüchliche Situation. Auf der einen Seite ist die Sehnsucht in der Bevölkerung groß, nach diesen langen Lockdown-Monaten jetzt endlich wieder ein bisschen mehr Normalität zuzulassen. Und wir erleben auch immer größere Sorgen bei vielen Gewerbetreibenden und Arbeitnehmern. Das ist alles sehr gut zu verstehen. Aber es gibt eben auf der anderen Seite auch eine wieder schwierige Infektionslage. Wir haben es inzwischen mit einem noch gefährlicheren Gegner zu tun als früher: Die deutlich ansteckenderen Mutationen haben die Oberhand gewonnen. Deswegen gibt es jetzt ein differenziertes System. Ist die Lage in den einzelnen Kommunen entspannt, kann man nach und nach lockern. Wird die Lage schlechter, gibt es nach und nach leider größere Belastungen. So haben wir Kontrollmöglichkeiten, gegebenenfalls müssen wir Öffnungen auch wieder zurücknehmen. Und bei sehr hohen Infektionszahlen gibt es dann leider kaum Lockerungen.

Mit der Nachvollziehbarkeit haben viele so ihre Schwierigkeiten. Hat die Politik jetzt nicht der allgemeinen Corona-Müdigkeit einfach ein Stück weit nachgegeben?

Entscheidend ist ja, dass wir diese Pandemie nur gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern bekämpfen können und nicht gegen sie. Das private Verhalten ist maßgeblich für die Entwicklung der Infektionszahlen. Wir können und wollen nicht einfach durchregieren, wir berücksichtigen so gut wie möglich die Haltung in der Gesellschaft. In Regionen, in denen die Infektionszahlen sehr gering sind, sind mehr Begegnungen zugelassen, etwas anderes wäre auch nicht auf Dauer zu vermitteln. Umgekehrt stehe ich aber auch dazu, dass es in Regionen mit hohen Infektionszahlen nicht zu nennenswerten Öffnungsschritten kommen kann.

Dann wollen wir hoffen, dass die Leute jetzt nicht zu früh zu leichtsinnig werden.

Ja, das hoffen wir, denn wir müssen unbedingt die Dinge unter Kontrolle behalten. Lockerungen kann es nur geben, wo die Infektionswerte das zulassen. Andernfalls leider eben nicht. Ich hoffe, dass die Bürger da auch in den nächsten schwierigen Wochen mitgehen und nicht leichtsinnig werden. Wir sind jetzt in einer Übergangszeit. Unser erklärtes Ziel ist, dass wir möglichst im Sommer alle impfen können, die das wollen. Das ist eine riesige Anstrengung, klar, aber wir haben trotz aller Schwierigkeiten eine reelle Chance, dieses Ziel zu erreichen. Das wäre dann der eigentliche Durchbruch. Bis dahin müssen wir vorsichtig bleiben und schrittweise versuchen, kontrollierbare Bereiche zu schaffen, in denen mehr möglich ist. Ich kann und mag mir nicht vorstellen, dass wir unsere Gesellschaft jetzt noch ein halbes Jahr tiefkühlen.

Was sagen Sie jenen Leuten, die reisen, auch mal in Hochrisikogebiete?

Ich finde das ausgesprochen unvernünftig und egoistisch. Und ich begreife auch nicht, warum die Bundesregierung jetzt die Reisen nach Mallorca freigegeben hat. Wir haben im letzten Jahr die Erfahrung gemacht, dass von so mancher Fernreise Virusinfektionen mitgebracht wurden. Dieses Risiko sollten wir vermeiden.

Inzwischen haben die Zustimmungswerte zur Corona-Politik ja deutlich gelitten. In der Bevölkerung ist von dem Gefühl, vergleichsweise ganz gut durch die Krise manövriert zu werden, kaum noch etwas übrig. Pleiten, Pech und Pannen, das ist eher der Eindruck. Auch in Niedersachsen. Wie gehen Sie mit der Kritik um?

Fehler müssen korrigiert werden und Kritik ist da völlig in Ordnung. Ganz viele Leute sind aber auch vor allem pandemiemüde. Letztlich sind wir es alle. Und ein solcher Frust sucht sich ein Ventil. So werden mitunter aus kleinen Fehlern schnell große und grundsätzliche Diskussionen um die Frage, was die da in der Politik eigentlich machen oder ob die überhaupt irgendetwas richtig machen. Deutschland ist im internationalen Vergleich und Niedersachsen ist im nationalen Vergleich bislang ziemlich gut durch die Pandemie gekommen. Eine solche Pandemie fehlerfrei zu bekämpfen, halte ich für unmöglich. Dafür ist das Virus zu unberechenbar, die Probleme sind zu vielfältig. Aber noch einmal, es ist völlig okay, die Politik zu kritisieren. Und schön ist es, wenn auch die Fortschritte zur Kenntnis genommen werden.

Das Brennglas, das nun in dieser Krise die Probleme besonders deutlich zeigt, ist ja viel zitiert. In den vergangenen Monaten scheint mir ein Problem tatsächlich mehr und mehr in den Fokus geraten zu sein: Deutschland leidet an seiner Bürokratie, daran, nicht flexibel zu sein, nicht mutig genug. Jedenfalls wird dieser Vorwurf zunehmend lauter. Wie stehen Sie dazu?

Nochmal: Im internationalen Vergleich steht Deutschland gut da. Aber ja, mitunter gehen wir zu gründlich und kompliziert vor, beim Impfen gibt es dafür Beispiele. Aber es muss auch gerecht zugehen und wesentliche Abläufe wollen geplant sein. Wenn beispielsweise der Bundesgesundheitsminister sagt, ab dem 1. März gäbe es Tests für alle, ohne im Vorfeld wirklich geklärt zu haben, wie das im Einzelnen vor sich gehen soll, dann löst das Verwirrung aus. Erst nachdenken und planen, dann die Umsetzung vorbereiten und dann twittern und Pressemitteilungen versenden – das hilft, Enttäuschungen zu vermeiden. Jeder versteht doch, dass es nicht so einfach ist, mal eben flächendeckend für 80 Millionen Menschen ein Testsystem aus dem Boden zu stampfen.

Herr Spahn hat ja gesagt, dass er am Erwartungsmanagement arbeiten muss.

Ja, das ist eine gute Einsicht.

Noch mal zum Krisenmanagement vor Ort. Da hat sich gezeigt, dass das jeweils sehr stark abhängig ist vom dort gewählten, handelnden Personal. Manche Kommunen glänzen mit richtig guten Ideen und guten Zahlen, man ist wach, kommunikativ und aktiv, in anderen Kommunen verkriechen sich die Oberbürgermeister … Warum regiert man nicht ein bisschen offensiver in die Kommunen hinein und macht ganz konkrete Handlungsvorgaben?

Da ich ja selbst mal Oberbürgermeister war, bin ich natürlich ein großer Fan von kommunaler Selbstverwaltung. Was genau wann und wie getan wird oder eben nicht, das sollte weitmöglichst vor Ort entschieden werden, solange es einen gemeinsamen Rahmen gibt. Dann sind auch die Verantwortlichkeiten klar, im Guten wie im Schlechten. Das ist auf der Landesebene ganz genauso.

Aber wäre es nicht viel verantwortlicher in so einer Krise, nach den Best-Practice-Beispielen zu suchen und die gelungenen Maßnahmen dann überall einzuführen? Also ein bisschen weniger Streuung der Verantwortung und ein bisschen mehr durchregieren?

Dass wir uns nicht falsch verstehen, in Niedersachen habe ich am Ende die Verantwortung, und das kann ich auch auf niemanden abschieben. Genauso ist im Bund am Ende die Bundeskanzlerin verantwortlich. Wir haben aber in so einem relativ großen Land wie Deutschland gar nicht die Chance, alles senkrecht von oben runter durchzuregieren. Und wir sollten das aus meiner Sicht auch gar nicht erst anstreben. Das führt eben nicht zu besseren Ergebnissen. Nehmen Sie beispielsweise das zentral regierte Frankreich. Wenn man den Verlauf der Pandemie in Deutschland und Frankreich vergleicht, hat das dezentrale System bei uns erkennbare Vorteile.

Interview: Lars Kompa


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