Lisa Kreißler: Schreie & Flüstern

Foto: Ute KreißlerRund fünfzehn Umzüge hat die Schriftstellerin Vera in ihrem Leben schon gemacht, doch dieser soll ihr letzter sein: Aus einem alten, renovierungsbedürftigen Bauernhof in der niedersächsischen Provinz wollen sie, ihr Mann Claus, der als Maler ebenfalls künstlerisch tätig ist, und ihr gemeinsamer Sohn Siggi ein Heim ganz nach ihren Vorstellungen gestalten. Was sich zunächst wie ein verrückter, herrlich inspirierender Einfall anfühlt, wird mit fortschreitender Realisierung der Umzugspläne aber immer fragwürdiger … Mit einem meisterhaften Gespür für Dialoge und Details erzählt Lisa Kreißler in ihrem dritten Roman von den Schattenseiten, aber auch dem unendlichen Reiz des Landlebens. Im August ist das Buch beim mairisch-Verlag erschienen.

Die Idee, aus der abwechslungsreichen Großstadt Leipzig in die ruhige Provinz überzusiedeln, kommt Vera und Claus völlig spontan: Als ihr Sohn Siggi während eines Besuchs bei Veras Eltern Fieber bekommt, werden sie auf der Autofahrt zum Krankenhaus in Neustadt am Rübenberge plötzlich von der heftigen Lust überwältigt, „etwas ganz und gar Unüberlegtes“ zu tun. Zu dem Zeitpunkt fühlen sich beide in ihren jeweiligen Metiers ausgelaugt, sind hungrig nach frischen Ideen und unverbrauchten Bildern – warum also nicht einen radikalen Standortwechsel wagen? Es fügt sich, das Claus‘ Vater kurz zuvor beschlossen hat, seine Firma zu verkaufen und seinen Kindern jeweils eine große Summe Geldes zu schenken, es scheint also fast wie ein Wink des Schicksals.
Bald sind die Vorbereitungen für den Umzug in vollem Gange, doch Vera beginnt, an ihrem Entschluss zu zweifeln. Zum einen wird ihr nach und nach bewusst, wie sehr sie die unverbindliche Leichtigkeit und die vielfältigen Zerstreuungsmöglichkeiten in der Großstadt liebt – und ihre Freunde Vladi und Constanze, mit denen sie regelmäßig durch die Kneipen, Bars und Tanzclubs zieht. Zum anderen scheint ihr der Ortswechsel unter schlechten Vorzeichen zu stehen, da ihre zweite Schwangerschaft ausgerechnet bei der Besichtigung des Hofes, den sie kaufen wollen, zu einem abrupten Ende kommt. Doch Vera schweigt sich über ihre Bedenken aus, auch weil diese Gefühle zu plötzlich und irrational aufkommen. Nachdem der Umzug abgeschlossen ist, wird die Empfindung, sich in eine Sackgasse manövriert zu haben, immer stärker. Das Dorf, die Landschaft, Claus – alles scheint sich ihr entgegenzustellen. Doch dann wird Vera wieder schwanger. Nicht nur, dass diesmal tatsächlich ein neuer Mensch in ihrem Inneren heranwächst – je weiter die Schwangerschaft voranschreitet, desto mehr verbindet sie sich mit der Natur. Sie weitet ihre Perspektive auf das Leben und ihre eigene Vergänglichkeit …
Den Zwiespalt, den ihre Protagonistin Vera empfindet, kennt Autorin Lisa Kreißler nur zu gut. Sie selbst lebt nämlich auf einem Hof im niedersächsischen Pohle, wo sie aber mittlerweile nicht mehr weg will – denn hier findet sie die nötige Ruhe, um an ihren Romanen zu arbeiten. 1983 in Bückeburg geboren, studierte sie zunächst Theaterwissenschaften, jobbte als Empfangsdame, Journalistin und Kellnerin in Berlin und Stockholm und fand schließlich 2010 nach Leipzig ans Deutsche Literaturinstitut. 2014 erschien ihr Romandebüt Blitzbirke, 2018 folgte Das vergessene Fest, die beide mit dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichnet wurden. Neben dem Schreiben moderiert und kuratiert sie bei NDR Kultur den Literaturpodcast „Land in Sicht“, bei dem sie mit anderen Redakteur*innen des Senders über „Bücher zum Leben“ redet.
Poetisch feinsinnig und durchwirkt von (schwarz-)humorigen Einsprengseln erzählt Schreie und Flüstern von großen Lebensveränderungen. Gleichzeitig geht es immer wieder darum, dass man seinem eigenen Bauchgefühl ruhig vertrauen sollte. Eben diese Botschaft versucht Vera ihrem Sohn Siggi in einem Brief deutlich zu machen, der ihn viele Jahre später als Erwachsener auf die Welt vorbereiten soll: „Egal, was die anderen sagen: Nichts, was du fühlst, ist banal. Die Welt ist voller Zeichen. Und du hast die Gabe, sie zu lesen.“  Foto: Ute Kreißler 

 ● Anja Dolatta

 

Schreie und Flüstern
von Lisa Kreißler
Mairisch Verlag
224 Seiten
20,00 Euro


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